Die Begutachtung gehört zu den originären ärztlichen Aufgaben und Berufspflichten und ist auch in der Weiterbildungsordnung für eine große Anzahl von medizinischen Fachgebieten als einer der fachspezifischen Weiterbildungsinhalte aufgeführt. Als Gutachter ist der Arzt bzw. die Ärztin dabei fachkundiger Berater bzw. „Gehilfe“ des Gerichts oder sonstiger Auftraggeber. Voraussetzung für eine objektive, valide und reliable Begutachtung sind neben den medizinischen Kenntnissen auf dem jeweiligen Fachgebiet, Kenntnisse über die unterschiedlichen Anforderungen in den jeweiligen Rechtsgebieten. An den Gutachter werden hohe Anforderungen bezüglich seiner strikten Objektivität und Neutralität, Unabhängigkeit, Kompetenz und Zuverlässigkeit gestellt.
Bezüglich allgemeiner Grundlagen der medizinischen Begutachtung darf auf die aktuelle (Stand 31.01.2019) S2k-Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) hingewiesen werden1.
Leider wird der Begutachtung, einem wichtigen Teilbereich des ärztlichen Aufgabenspektrums, in der Aus-, Fort- und Weiterbildung nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die Ausgabe 8/2019 der ASU hat daher ganz bewusst das Thema „Sozialmedizinische Begutachtung“ zum Schwerpunktthema gewählt, um zur weiteren Diskussion aus ärztlicher, wissenschaftlicher und juristischer Sicht beizutragen.
Einleitend werden von Dirk Scholtysik Rechte und Pflichten des medizinischen Sachverständigen zusammengestellt. Zusammenfassend weist der Autor darauf hin, dass medizinische Gutachten eines der wichtigsten Beweismittel in Gerichtsverfahren sind. Sie sind unverzichtbar, um Entscheidungen von Sozialversicherungsträgern oder privaten Versicherungen vorzubereiten. Denn Sachverständige vermitteln ihren Auftraggebern das notwendige Fachwissen für die rechtliche Entscheidung. Bei dieser verantwortungsvollen Aufgabe müssen sie nicht nur inhaltliche, sondern auch formelle Kriterien erfüllen.
Die Grundlagen der ärztlichen Begutachtung nach dem Schwerbehindertenrecht werden von Michael Koss dargestellt. Eine Besonderheit ist bei ca. 7,8 Millionen schwerbehinderten Menschen in Deutschland die große Anzahl von ärztlichen Gutachten, die auf diesem Rechtsgebiet erforderlich sind. Neben den Gutachtern sind die entsprechenden Grundlagen nahezu für jeden Arzt bzw. jede Ärztin von essentieller Bedeutung, damit sie ihre Patienten und Patientinnen adäquat und fachlich fundiert beraten können.
Auch die Begutachtung der Pflegebedürftigkeit hat in einer Gesellschaft mit zunehmendem Lebensalter beziehungsweise unter den Gesichtspunkten des demografischen Wandels in Deutschland hohe Relevanz. Thomas Gaertner und Gert von Mittelstaedt geben in ihrem Beitrag eine umfassende Darstellung der Begutachtung zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit aus sozialmedizinischer Sicht.
Ein weiterer, sehr relevanter Bereich im Rahmen der Begutachtung ist häufig die Leistungsbeurteilung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen beziehungsweise gesundheitlicher Einschränkungen. Die Autoren Harald Gündel und Volker Köllner weisen in ihrem Beitrag unter anderem darauf hin, dass eine entsprechende Bewertung sorgfältig und in der Regel interdisziplinär beziehungsweise auf interdisziplinären Befunden aus dem Vorfeld beruhend vorgenommen werden sollte.
Bei der Begutachtung im medizinischen Kontext stehen in der Regel medizinische Sachverhalte im Fokus. Grundlagen hierfür sind neben den rechtlichen Rahmenbedingungen der aktuelle wissenschaftliche Kenntnisstand aus dem jeweiligen Fachgebiet sowie die hierzu vorliegenden wissenschaftlichen Publikationen aus den nationalen und internationalen Fachzeitschriften. Daher ist es dringend erforderlich, dass diese nur qualitätsgesichert veröffentlicht werden. Hierfür ist ein unabhängiges Begutachtungssystem essentiell. Auf die Begutachtung wissenschaftlicher Manuskripte zur Beurteilung der Publizierbarkeit in einer wissenschaftlichen Zeitschrift gehen daher Hans Drexler et al. im Wissenschaftsteil näher ein.
Die aktuelle Ausgabe von ASU zeigt einmal mehr auf, dass die Begutachtung im Bereich der Medizin eine wesentliche ärztliche Aufgabe darstellt. Ihre Qualität hängt jedoch sehr stark von den fachlichen und medizinischen Kenntnissen sowie den sozialrechtlichen Randbedingungen ab.
Autor
Prof. Dr. med. Dipl.-Ing. Stephan Letzel
Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin
Universitätsmedizin Mainz
Obere Zahlbacher Str. 67
55131 Mainz