Zum Beitrag „Rechte und Pflichten des medizinischen Sachverständigen“ von Dirk Scholtysik und Martin Forchert in ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2019; 54: 484–487
Leserbrief
Bereits der erste Satz entlarvt das Verfahren. Ärztinnen und Ärzte fungieren als Gehilfen des Auftraggebers. Will heißen: Der Gutachter hat für gut zu erachten, was seinem Auftraggeber nützt. Der Abschnitt „Interaktion mit dem Auftraggeber“ suggeriert objektiv, der Gutachter hat es zu unterlassen, Zweifel an dem nachzugehen, was der Intension des Auftraggebers zuwiderlaufen könnte. Das Verbot der eigenmächtigen Ermittlung und das Gebot der Erlaubnis durch den Auftraggeber stellt jegliche Objektivität in Zweifel. Und der Patient wird grundsätzlich unter Generalverdacht des Betrugs gestellt.
B.M. Schupfner
Replik des Autors Dirk Scholtysik
Der Artikel „Rechte und Pflichten der Sachverständigen“ stellt die gültige Rechtslage dar. Man darf das geltende Recht natürlich kritisch beurteilen, für Gerichte und Verwaltungen ist es aber bindend (Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz). Dass Ärztinnen und Ärzte (nur) Gehilfen des Auftraggebers und insoweit an dessen Auftrag, Weisungen bzw. vorgegebene Tatsachen gebunden sind, ergibt sich aus dem Gesetz (§§ 118 SGG i.V.m. § 404a ZPO, §§ 20, 21 SGB X). Dies ist nicht despektierlich gemeint, sondern spiegelt nur wider, dass letztlich nicht die Sachverständigen, sondern die zuständigen Behörden bzw. Gerichte für die Feststellung von Ansprüchen rechtlich verantwortlich sind. Bekanntlich gilt im deutschen Sozialversicherungssystem der sog. Amtsermittlungsgrundsatz, nach dem die zuständigen Behörden Art und Umfang der Ermittlungen bestimmen (§ 20 Abs. 1 SGB X). Sie haben dabei alle für den Einzelfall bedeutsamen Umstände, d. h. begünstigende wie belastende Gesichtspunkte zu berücksichtigen (§ 20 Abs. 2 SGB X). Diese Tatsachenermittlungen sollen, was den Sachverhalt anbetrifft, grundsätzlich bereits vor der Einholung eines Gutachtens abgeschlossen sein, damit sich Gutachterinnen und Gutachter auf ihre medizinische Expertise konzentrieren können. Dabei sind Sachverständige ausschließlich dem aktuellen medizinischen Erkenntnisstand sowie der Neutralität und Objektivität verpflichtet und niemals dem, was dem Auftraggeber nutzt.
Genau dies wird in dem Aufsatz auch zum Ausdruck gebracht, wobei es der Prägnanz der Darstellung geschuldet ist, dass allgemein gültige Grundsätze des deutschen Sozialrechts nicht umfassend dargestellt werden. Vor diesem Hintergrund sind auch die Hinweise im Kapitel „Interaktion“ einzuordnen. Welche Anknüpfungstatsachen bewiesen sind und welche rechtlich relevanten Beweisfragen sich daraus ergeben, können medizinische Sachverständige bereits aufgrund ihrer Profession nicht eigenständig beurteilen. Bestehen Zweifel an der Auftragsstellung bzw. an der Vollständigkeit der notwendigen Informationen, sollten sie sich in jedem Fall zu Beginn der Arbeit darüber mit dem Auftraggeber verständigen. Wenn Sachverständige hingegen selbstständig Änderungen am Auftrag vornehmen bzw. von einem ggegebenenfalls rechtlich irrelevanten Sachverhalt ausgehen, ist ihr Gutachten oftmals nicht verwertbar und führt letztlich nur zu einer unnötigen Verzögerung der Entscheidung. Substantiierten bzw. entscheidungserheblichen Hinweisen, insbesondere wenn diese sich aus der Aktenanalyse bzw. Anamnese und Untersuchung ergeben, wird sich ein Auftraggeber sicher nicht verschließen. Andererseits liefe er Gefahr, den Sachverhalt nicht umfassend ermittelt zu haben, was zu einer Anfechtung/Aufhebung seiner Entscheidung führen kann. Von Probanden geäußerte subjektive Beschwerden sind selbstverständlich von Sachverständigen zu würdigen und in die Bewertung einzubeziehen bzw. mit früheren (anderweitigen) Einlassungen abzugleichen. Für die abschließende rechtliche Beweiswürdigung sind aber nicht die medizinischen Sachverständigen, sondern die Entscheidungsträger zuständig. Dass Antragsteller dadurch unter den Generalverdacht des Betrugs gestellt werden, kann ich in dieser Form nicht nachvollziehen. Die Erfahrungen aus zahlreichen Gutachterfortbildungen zeigen, dass auch Ärztinnen und Ärzte einer guten Kommunikation mit dem Auftraggeber (Interaktion) eine hohe Bedeutung beimessen und dies keineswegs mit dem Vorwurf einer Beeinflussung verbinden.
Dirk Scholtysik
Referatsleiter Unfallbegutachtung, Soziale Teilhabe, Pflege, Psychische Störungen
Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e.V. (DGUV)
Spitzenverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften
und der Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand
Glinkastraße 40
10117 Berlin
Zum Beitrag „Schwerbehindertenrecht: Grundlagen der ärztlichen Begutachtung“ von Michael Koss
in ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2019; 54: 488–490
Leserbrief
Im Rahmen des Schwerbehindertenrechts ergibt sich grundsätzlich die Fragestellung, ob eine Beurteilung nach Aktenlage ausreichend ist, um die tatsächliche Beeinträchtigung zweifelsfrei einschätzen zu können.
Für mich stellt sich die grundlegende Frage, ob ohne persönliche Inaugenscheinnahme der Funktionseinschränkung, des persönlichen Umfeldes und des persönlichen Arbeitsfeldes eine ausreichende Beurteilung der Beeinträchtigung im Alltag wie im Arbeitsprozess überhaupt möglich ist.
Genauso stellt sich die generelle Frage, ob ohne Kenntnis des Arbeitsplatzes eine Bescheinigung einer Arbeitsunfähigkeit beurteilbar ist. Hier melde ich ganz gewaltige Zweifel an.
B.M. Schupfner
Replik des Autors Dr. med. Michael Koss
Der Artikel „Schwerbehindertenrecht: Grundlagen der ärztlichen Begutachtung“ sollte zum einen die wesentlichen Begutachtungsrichtlinien darlegen und zum anderen auch ein wenig den „Ist-Zustand“ bei der Bearbeitung in den einzelnen Ämtern darlegen. Die personelle Ausstattung der Ärztlichen Dienste in den einzelnen Ländern und Kommunen lässt derzeit eine hohe Zahl an Präsenzbegutachtungen nicht zu, die aber aufgrund beigezogener oder vorgelegter aussagefähiger Befunde in der Regel auch nicht erforderlich sind. Die hohe Zahl an primär akzeptierten Verwaltungsentscheidungen ist hierfür ein deutlicher Gradmesser.
Eine Inaugenscheinnahme des Arbeitsplatzes ist auf keinen Fall erforderlich. Ein „besonderes berufliches Betroffensein“ – wie im Sozialen Entschädigungsrecht § 30
Abs. 2 BVG geregelt – ist im Schwerbehindertenrecht nicht vorgesehen. Auch sonstige Kontextfaktoren – z. B. Wohnumfeld – finden keinen Eingang in die GdB-Bemessung. Trotz Implementierung der ICF muss im Sinne einer einheitlichen Einschätzung von „standardisierten Umweltbedingungen“ ausgegangen werden. Gleiche medizinische Sachverhalte müssen zu einer gleichen GdB-Bemessung führen.
Der unbestimmte Rechtsbegriff der „Arbeitsunfähigkeit“ ist nicht Gegenstand des SGB IX.
Dr. med. Michael Koss
Interdisziplinäre Medizinische Begutachtung
Landgraf-Karl-Str. 21
34131 Kassel
Resümee von Herrn Bernhard Maria Schupfner im Rahmen der Anfrage
Die von mir sehr hochgeschätzte Frau Prof. Dr. med. Barbara Griefahn formulierte vor geraumer Zeit in einem Fortbildungsreferat einen nachdenkenswerten Satz:
„Entscheidend ist nicht, was der Absender aussendet, sondern was und wie es beim Empfänger ankommt.“