Sachverhalt
Der Kläger ist seit 1986 bei der Beklagten als „Team-Arbeitsvorbereiter Fertigung PT-3“ zuletzt auf der Grundlage des Arbeitsvertrags vom 09.05.2005 beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft beidseitiger Tarifbindung der Manteltarifvertrag für die Metallindustrie Hamburg und Umgebung, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern (MTV) Anwendung. Dem Kläger stehen bei einer 5-Tage-Woche 30 Arbeitstage Urlaub zu.
Für die Zeit vom 23.12. bis zum 31.12.2020 beantragte der Kläger die Gewährung von sechs Tagen Erholungsurlaub, den die Beklagte gewährte und ihm auch das Urlaubsentgelt hierfür zahlte. Wegen eines Kontakts zu einer an COVID-19 erkrankten Person ordnete das zuständige Gesundheitsamt am 21.12.2020 gegenüber dem Kläger die „Absonderung“ nach § 30 Infektionsschutzgesetz (IfSG) an. Ausweislich des hierzu ergangenen schriftlichen Bescheids vom 04.01.2021 durfte der Kläger in der Zeit vom 21.12.2020 bis zum 04.01.2021 seine Wohnung nicht verlassen und musste den Empfang von Besuchen sowie den Kontakt zu Mitbewohnern und Angehörigen auf das Notwendigste beschränken. Arbeitsunfähig erkrankt war der Kläger nicht.
Mit Schreiben vom 09.02.2021 verlangte der Kläger von der Beklagten, ihm sechs Urlaubstage gut zu schreiben. Wegen der angeordneten Quarantäne sei die Anrechnung der Zeit vom 23.12. bis zum 31.12.2020 auf seinen Jahresurlaub unzulässig. Dies lehnte die Beklagte ab, weil sie der Meinung war, der Urlaubsanspruch des Klägers sei durch Erfüllung erloschen. Mit seiner Klage begehrte der Kläger die Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet sei, ihm weitere sechs Tage Urlaub für das Jahr 2020 zu gewähren.
Klage und Berufung blieben erfolglos. Das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein (LAG) stellte fest, ein Anspruch auf Nachgewährung bestehe nicht, da der Urlaubsanspruch des Klägers im Umfang der hier in Rede stehenden sechs Arbeitstage erfüllt worden und damit gemäß § 362 Abs. 1 BGB erloschen sei.
Risiko urlaubstörender Ereignisse
Der Arbeitgeber als Schuldner des Urlaubs habe mit der Festlegung des Urlaubszeitraums (und der vorbehaltlosen Zusage des Urlaubsentgelts) das nach § 7 Abs. 1 Bundesurlaubgesetzes (BurlG) Erforderliche getan (§ 243 Abs. 2 BGB). Alle danach eintretenden urlaubsstörenden Ereignisse fielen entsprechend § 275 Abs. 1 BGB als Teil des persönlichen Lebensschicksals grundsätzlich in den Risikobereich des einzelnen Arbeitnehmers. Nur soweit der Gesetzgeber oder die Tarifvertragsparteien – wie in den §§ 9, 10 BUrlG – besondere Regelungen zur Nichtanrechnung von Urlaub treffen, fände eine Umverteilung des Risikos zugunsten des Arbeitnehmers statt. Dabei sei die Urlaubserteilung des Arbeitgebers jedenfalls im bestehenden Arbeitsverhältnis nach Treu und Glauben gesetzeskonform so zu verstehen (§ 157 BGB), dass der Arbeitgeber damit zugleich streitlos gestellt habe, dass er für den gewährten Urlaub dem Grunde nach zur Zahlung von Urlaubsentgelt nach den gesetzlichen Vorgaben und etwaigen arbeitsvertraglichen Vereinbarungen verpflichtet ist.
Keine Unterbrechung des Urlaubs
Die Beklagte habe dem Kläger den von ihm für die Zeit vom 23.12.–31.12.2020 beantragten Erholungsurlaub vorbehaltslos gewährt. Mangels gegenteiliger Anhaltspunkte ist in der vorbehaltlosen Erteilung zugleich die konkludente Zusage der Zahlung des Urlaubsentgelts zu sehen. Damit sei der Urlaubsanspruch des Klägers nach allgemeinen Grundsätzen erloschen. Ein Ausnahmesachverhalt, der die Aufrechterhaltung des Urlaubsanspruchs kraft tariflicher oder gesetzlicher Vorschrift zugunsten des Klägers regele, bestehe nicht.
Der Erholungsurlaub des Klägers in der Zeit vom 23.12.–31.12.2020 sei nicht nach §11 Nr. 3.4 MTV mit der Folge bezahlter Freizeit unterbrochen worden. Die in §11 Nr. 3.4 MTV in Bezug genommenen Fälle der Arbeitsverhinderung nach §11 Nr. 3.1 MTV (Tod des Ehegatten, eines eigenen Kindes, der Eltern oder Schwiegereltern sowie Teilnahme an einer Beerdigung), die zu einer Unterbrechung des Erholungsurlaubs führen, lägen nicht vor.
Die Beklagte sei auch nicht nach §9 BUrlG zur Nachgewährung des Urlaubs verpflichtet gewesen. Gemäß §9 BUrlG werden die durch ärztliches Zeugnis nachgewiesenen Tage einer Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers während seines Urlaubs auf den Jahresurlaub nicht angerechnet. Die Voraussetzungen der Norm lägen nicht vor, da der Kläger im Urlaubszeitraum unstreitig nicht arbeitsunfähig erkrankt war. Allein sein Bewegungskreis wäre nach Maßgabe des Bescheids der Stadt N. vom 04.01.2021 eingeschränkt worden.
Keine ausfüllungsbedürftige Rechtslücke
§9 BUrlG sei auf den vorstehenden Sachverhalt nicht analog anzuwenden. Zur wortsinnübersteigenden Gesetzesanwendung durch Analogie bedürfe es einer besonderen Legitimation. Die analoge Anwendung einer Norm setze voraus, dass eine vom Gesetzgeber unbeabsichtigt gelassene Lücke vorliege und diese Planwidrigkeit aufgrund konkreter Umstände positiv festgestellt werden könne. Anderenfalls könnte jedes Schweigen des Gesetzgebers – also der Normalfall, wenn er etwas nicht regeln will – als planwidrige Lücke aufgefasst und diese im Wege der Analogie von den Gerichten ausgefüllt werden.
Analoge Gesetzesanwendung erfordere darüber hinaus, dass der gesetzlich ungeregelte Fall nach Maßgabe des Gleichheitssatzes und zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen nach der gleichen Rechtsfolge verlangt wie die gesetzessprachlich erfassten Fälle. Richterliche Rechtsfortbildung dürfe nicht dazu führen, dass ein Gericht seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setze.
Danach komme eine analoge Anwendung von § 9 BUrlG vorliegend nicht in Betracht. Es fehle sowohl an einer planwidrigen Lücke als auch an einer vergleichbaren Interessenlage. Zwar sei für den Fall der Anordnung einer Absonderung nach § 30 IfSG, die nicht mit einer Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers verbunden ist, nicht geregelt, was mit dem einem Arbeitnehmer bereits bewilligten Urlaub geschieht. Das IfSG und das BUrlG sähen für diesen Fall keine Rechtsfolgen vor. Diese Lücke in den gesetzlichen Regelungen sei indes nicht planwidrig.
Die Begriffe „Krankheitsverdächtigter“, „Ausscheider“ und – auf den Kläger des vorliegenden Falls zutreffend – „Ansteckungsverdächtiger“ seien als gesetzliche Kategorien seit langem bekannt. Sie seien bereits im Bundesseuchengesetz verwendet und unverändert in § 2 Nrn. 5, 6, 7 IfSG übernommen worden. Ebenfalls seit langer Zeit, nämlich seit mehr als 25 Jahren verträte das Bundesarbeitsgericht (BAG) durchgehend die Auffassung, eine analoge Anwendung des § 9 BUrlG auf andere ähnlich gelagerte Sachverhalte komme wegen des Ausnahmecharakters der Norm nicht in Betracht. Die Bestimmungen der §§ 9, 10 BUrlG seien nicht verallgemeinerungsfähige Ausnahmevorschriften. Ihre entsprechende Anwendung auf andere urlaubsstörende Ereignisse oder Tatbestände, aus denen sich eine Beseitigung der Arbeitspflicht des Arbeitnehmers ergebe, komme grundsätzlich nicht in Betracht.
Der Gesetzgeber habe diese Entscheidungen des BAG auch zur Kenntnis genommen. Nach der Entscheidung des BAG vom 09.08.1994 habe er mit der Einfügung von § 24 S. 2 Mutterschutzgesetz reagiert, um sicherzustellen, dass der Anspruch auf Urlaub, den eine Arbeitnehmerin gewährt bekomme, der aber wegen eines mutterschutzrechtlichen Beschäftigungsverbots nicht genommen werden kann, nicht erlischt. Hätte der Gesetzgeber auch für den Fall einer Absonderung nach § 30 IfSG, sei es bereits nach Verkündung der entsprechenden Entscheidungen des BAG, sei es im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie das Erlöschen des Urlaubsanspruchs verhindern wollen, hätte es nahegelegen, Entsprechendes im IfSG zu regeln. Da dies nicht geschehen ist, gehe die Kammer nicht von einer planwidrigen Lücke im Gesetz aus.
Absonderung nicht urlaubsstörend
Gegen die Analogiefähigkeit von § 9 BUrlG sprächen auch Sinn und Zweck der Vorschrift. Mit ihr habe der Gesetzgeber bei Inkrafttreten des BUrlG 1963 einen hergebrachten Grundsatz des Urlaubsrechts kodifiziert. Dieser Grundsatz geht dahin, dass eine eintretende Arbeitsunfähigkeit den Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers nicht mindern soll. Es handelt sich um einen Sonderfall als Ausnahme von den allgemeinen Regeln des Zivilrechts. Über andere Sachverhalte – insbesondere den hier beim Kläger bestehenden Ansteckungsverdacht – sei damit nichts gesagt.
Auch sei der Fall der Absonderungsanordnung unter Berücksichtigung des Gleichheitssatzes und zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen nicht mit der Arbeitsunfähigkeit während des Urlaubs gleichzusetzen. Dies komme schon deswegen nicht in Betracht, weil es Vorgaben für den Arbeitnehmer, wie er seinen Urlaub zu verbringen hat, nicht gebe. § 8 BUrlG verbiete allein eine dem Urlaubszweck widersprechende Erwerbstätigkeit. Der Urlaubszweck selbst sei die Erholung. Wie der Arbeitnehmer sich erhole, bleibe ihm überlassen. Er könne den Urlaub auch während der ganzen Zeit zuhause spielend vor der PC-Konsole oder im Wohnzimmer liegend verbringen. In diesen Fällen werde er durch eine Absonderung überhaupt nicht in der Verwirklichung des Urlaubszwecks beeinträchtigt. Bei einer Analogie komme es auf die typische Vergleichbarkeit an und nicht auf den im Einzelfall festzustellenden Grad der Beeinträchtigung. Die analoge Anwendung von § 9 BUrlG könne danach nicht davon abhängen, wie ein Arbeitnehmer im konkreten Fall beabsichtigte, seinen Urlaub zu verbringen.
Keine europarechtliche Frage
Europarechtliche Fragestellungen, die eine Anfrage beim EuGH erfordern, werfe der vorliegende Rechtsstreit nicht auf. Der europarechtlich gewährte Mindesturlaub des Klägers werde durch die vorstehende Entscheidung nicht betroffen. Dem Kläger stehen bei einer 5-Tage-Woche 30 Arbeitstage Urlaub zu. Bei den hier in Rede stehenden sechs Arbeitstagen bleibe damit der Mindesturlaub des Klägers von 24 Werktagen unberührt.
Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der hier in Rede stehenden Rechtsfrage hat die Kammer nach § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG die Revision zugelassen.
Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.
doi:10.17147/asu-1-233039
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