Sachverhalt
Die Klägerin ist beamtete Lehrerin für Chemie und Biologie. Sie behauptet, giftige Chemikalien hätten bei ihr eine Erkrankung aus dem internistischen und neurologischen Bereich (Neuropathie, myalgische Enzephalomyelitis auf dem Boden einer multiplen Chemikaliensensitivität) ausgelöst. Sie stützt ihren Antrag auf Anerkennung einer Erkrankung als Dienstunfall beziehungsweise Berufserkrankung auf die Krankheiten gemäß der Nummern 1303, 1304 und 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung. Sie klagt gegen den ablehnenden Bescheid des Landesamts für Finanzen.
Urteil
Das Verwaltungsgericht (VG) Würzburg wies die Klage ab (Urteil v. 26.05.2020, Az. W 1 K 19.40).
A. Kein Dienstunfall
Das Gericht sieht keinen Dienstunfall i. S. d. Art. 46 Abs. 1 Bayerisches Beamtenversorgungsgesetz (BayBeamtVG):
Ein plötzliches Ereignis i. S. d. § 46 BayBeamtVG „kann weder nach dem Vorbringen der Klägerin noch nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme festgestellt werden, da es insoweit an der Feststellbarkeit eines konkreten, zeitlich fixierbaren Vorkommnisses mangelt, bei dem die Klägerin mit einer bestimmten oder bestimmbaren Chemikalie plötzlich in Berührung gekommen ist, die geeignet gewesen wäre, die von ihr geltend gemachten Erkrankungen auszulösen“.
Das Gericht ist nicht überzeugt, „dass die Klägerin vor Schuljahresbeginn anlässlich des Umzugs der Chemiesammlung in neue Räume am Gymnasium Einwirkungen ausgesetzt gewesen ist, die als Dienstunfallereignis aufgefasst werden könnten“. Die Klägerin behauptet zwar, sie habe über einen Zeitraum von zwei bis drei Wochen fünf bis sechs Stunden täglich das Zubehör der Chemiesammlung aus Umzugskartons ausräumen, die Behältnisse säubern und in die dafür vorgesehenen Schränke einräumen müssen, wobei Chemikalienbehälter zum Teil noch mit Flüssigkeiten gefüllt sowie in den Kartons ausgelaufen gewesen seien und nicht alle Chemikalien gekennzeichnet gewesen seien, so dass sie unmittelbaren Kontakt zu verschiedenen Chemikalien gehabt habe. Aber diese „Einlassung wurde durch die angehörten Zeugen nicht nur nicht bestätigt, sondern widerlegt“:
Das Verwaltungsgericht resümiert, „aus den übereinstimmenden und glaubhaften Zeugenaussagen, die neben der damaligen Schulleiterin von zwei FachkollegInnen der Klägerin stammen, lässt sich nur der Schluss ziehen, dass eine Intoxikation der Klägerin anlässlich des Umzugs der Chemiesammlung in neue Räume am Gymnasium äußerst unwahrscheinlich, wenn nicht ausgeschlossen erscheint. Die von der Klägerin behauptete Situation mit ausgelaufenen Chemikalien und beschädigten und verschmutzten Verpackungen konnte keine der angehörten ZeugInnen bestätigen. Insbesondere haben die ZeugInnen nachvollziehbar angegeben, alte, unbrauchbare und beschädigte Chemikalien (Verpackungen) seien bereits ausgesondert und entsorgt worden, als die Klägerin der Schule noch gar nicht zugewiesen war. Die gesamte von der Klägerin geschilderte Situation ist auch deshalb völlig unglaubhaft, weil die Klägerin weder sofort noch zeitnah, sondern erst nach langer Zeit hiervon berichtet hat“.
Im Hinblick auf alles weitere, was die Klägerin sonst noch vorträgt, „könnte die Erkrankung allenfalls darauf beruhen, dass die Klägerin über einen längeren Zeitraum im Schulgebäude des Gymnasiums Schadstoffbelastungen ausgesetzt war. Art. 46 Abs. 1 BayBeamtVG scheidet jedoch bei der Herleitung des Schadens aus schädlichen Dauereinwirkungen aus“ (Bayerischen Verwaltungsgerichtshof [BayVGH] München, Urteil v. 17.05.1995, Az. 3 B 94.3181).
B. Keine Berufskrankheit
Nach Art. 46 Abs. 3 BayBeamtVG setzt die Anerkennung einer Erkrankung i. S. d. Anlage 1 der Berufskrankheitenverordnung als Dienstunfall voraus, dass der Beamte nach „der Art seiner dienstlichen Verrichtung der Gefahr einer solchen Krankheit besonders ausgesetzt (gewesen) ist“. Auch das sieht das Gericht nicht, denn:
Es „kommt nicht auf den generellen Inhalt der Dienstaufgaben, sondern darauf an, ob die konkret ausgeübte dienstliche Verrichtung ihrer Art nach und im Besonderen nach den zur fraglichen Zeit tatsächlich bestehenden Verhältnissen und Begleitumständen die besondere Gefährdung mit sich gebracht hat. Diese besondere Gefährdung muss für die dienstliche Verrichtung typisch und in erheblich höherem Maße als bei der übrigen Bevölkerung vorhanden sein“. Nach dem Bundesverwaltungsgericht setzt die Parallelvorschrift des Bundes § 31 Abs. 3 Satz 1 BeamtVG zwar nicht voraus, „dass die durch die Art der dienstlichen Verrichtung hervorgerufene Gefährdung generell den Dienstobliegenheiten anhaftet. Vielmehr genügt es, wenn die eintretende Gefährdung der konkreten dienstlichen Verrichtung ihrer Art nach eigentümlich ist, allerdings nur dann, wenn sich die Erkrankung als typische Folge des Dienstes darstellt; maßgebend kommt es darauf an, ob die von dem Beamten zum Zeitpunkt der Erkrankung ausgeübte dienstliche Tätigkeit erfahrungsgemäß eine hohe Wahrscheinlichkeit der Erkrankung gerade an dieser Krankheit in sich birgt“ (Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Beschluss v. 15.05.1996, Az. 2 B 106/95).
„Indem sich der Gesetzgeber in Art. 46 Abs. 3 BayBeamtVG dafür entschieden hat, auf die Art der dienstlichen Verrichtung abzustellen, sind für die Frage, ob der Beamte der Gefahr der Erkrankung besonders ausgesetzt war, gerade nicht die sonstigen dienstlichen Bedingungen ausschlaggebend, unter denen die Tätigkeit verrichtet wird. Zu diesen sonstigen dienstlichen Bedingungen zählt auch die Beschaffenheit der Diensträume bzw. hier des Schulgebäudes. Eine andere Interpretation der Vorschrift würde zur unzulässigen Ersetzung des gesetzlichen Tatbestandsmerkmals der ‚Art der dienstlichen Verrichtung‘ etwa durch das Tatbestandsmerkmal ‚dienstliche Verrichtung unter besonderen räumlichen Bedingungen‘ führen. Die besondere Dienstbezogenheit der Erkrankung nach Art. 46 Abs. 3 BayBeamtVG begrenzt den Dienstunfallschutz wesentlich. Für die spezifische Dienstbezogenheit genügt es nicht, dass der Beamte nur ‚in Ausübung oder infolge‘ des Dienstes erkrankt. Greift der eng umgrenzte Bereich des Art. 46 Abs. 3 BayBeamtVG tatbestandlich nicht ein, kommt Dienstunfallfürsorge selbst dann nicht in Betracht, wenn die gesundheitsschädigende Dauereinwirkung der dienstlichen Sphäre entstammt. So ist nicht ersichtlich, dass Lehrer aufgrund der Art ihrer dienstlichen Tätigkeit in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung der Gefahr von Erkrankungen aufgrund des Aufenthaltes in schadstoffbelasteten Räumen ausgesetzt sind“ (OVG NRW Münster, Beschluss v. 16.12.2008, Az. 21 A 2244/07).
„Dies gilt auch für Chemielehrer im Hinblick auf die von ihnen im Unterricht eingesetzten Stoffe. Soweit die Klägerin sich auf die BK Nrn. 1303 und 1304 beruft, bezieht sie sich darauf, dass in ihrer DNA am 16.04.2011 die Substanzen Resocinol (Anm. d. Verf.: gemeint ist wohl „Resorcinol“), 2,4-Diaminophenol sowie Octoxynol gefunden worden seien. Sie hat allerdings nicht vorgetragen, dass es sich bei diesen Stoffen um solche handelt, mit denen sie als Chemielehrerin Umgang hatte; dass sie diese Stoffe im Zusammenhang ihrer Lehrtätigkeit aufgenommen hat, ist daher rein spekulativ; auch die Klägerin selbst hat wiederholt erklärt, es sei nicht mehr nachzuvollziehen, welchen Expositionen sie im Gymnasium ausgesetzt gewesen sei. Der Fachbetreuer hat hierzu ausgeführt, es handele sich bei diesen Stoffen nicht um Stoffe, die im Chemieunterricht Verwendung finden würden. Dies richte sich nach der RISU-Richtlinie (Anm. der Redaktion: RISU = „Richtlinien zur Sicherheit im Unterricht an allgemeinbildenden Schulen“). Die Klägerin hat auch nicht substantiiert vorgetragen, dass sie unter Verstoß gegen diese Richtlinien gearbeitet hat“.
Obwohl „bereits die spezifische Dienstbezogenheit zu verneinen war“, betont das Gericht noch die „grundsätzliche Verneinung“ einer Berufskrankheit für das bei der Klägerin festgestellte Multiple Chemical Sensitivity Syndrome (MCS) in der Rechtsprechung (BayLSG, Urteil v. 01.02.2012 (Az. L 18 U 165/08)). Das Gericht erwähnt auch noch zwei weitere Voraussetzungen der Anerkennung als Dienstunfall:
Die Klägerin warf ihrem Dienstherrn noch „Verschulden an ihrer Erkrankung“ vor. Aber das Gericht betonte, Schuld „erlangt im Zusammenhang mit der angestrebten Anerkennung als Dienstunfall keine Bedeutung. Diese Frage stellte sich nur bei der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen wegen der Verletzung der Fürsorgepflicht des Dienstherrn“ (zu Verantwortlichkeiten und Haftungsvoraussetzungen s. Wilrich 2022b).
Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.
Literatur
Wilrich T: Arbeitsschutzverantwortung für Sicherheitsbeauftragte: Bestellung, Rechtsstellung, Pflichten und Haftung als Vertrauenspersonen und Beschäftigte. Grundwissen Arbeitssicherheit, Führungspflichten und Unternehmensorganisation. Berlin: VDE-Verlag, 2021.
Wilrich T: Verantwortung und Haftung der Sicherheitsingenieure: Unterstützungs-, Beratungs-, Berichts-, Prüfungs-, Warn- und Sorgfaltspflichten der Fachkräfte für Arbeitssicherheit als Stabsstelle und Unternehmerpflichten in der Linie – mit 15 Gerichtsurteilen und Strafverfahren zu Fahrlässigkeit und Schuld nach Arbeitsunfällen. Berlin: VDE Verlag, 2022a.
Wilrich T: Die rechtliche Bedeutung technischer Normen als Sicherheitsmaßstab – mit 33 Gerichtsurteilen zu anerkannten Regeln und Stand der Technik, Produktsicherheitsrecht und Verkehrssicherungspflichten. Berlin: Beuth, 2017.
Wilrich T: Technik-Verantwortung – Sicherheitspflichten der Ingenieure, Meister und Fachkräfte und Organisation und Aufsicht durch Management und Führungskräfte. Berlin: VDE Verlag, 2022b.
doi:10.17147/asu-1-233036
Weitere Infos
Richtlinie zur Sicherheit im Unterricht (RiSU) – Empfehlung der Kultusministerkonferenz
https://www.kmk.org/service/servicebereich-schule/sicherheit-im-unterricht.html
Kernaussagen
Info
Bayerisches Beamtenversorgungsgesetz (BayBeamtVG)
Art. 46 Dienstunfall
(1) Dienstunfall ist ein auf äußerer Einwirkung beruhendes, plötzliches, örtlich und zeitlich bestimmbares, einen Körperschaden verursachendes Ereignis, das in Ausübung oder infolge des Dienstes eingetreten ist. …
(3) Als Dienstunfall gilt auch die Erkrankung an einer in Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung vom 31. Oktober 1997 (BGBl. I S. 2623) in der jeweils geltenden Fassung genannten Krankheit, wenn der Beamte oder die Beamtin nach der Art seiner oder ihrer dienstlichen Verrichtung der Gefahr der Erkrankung besonders ausgesetzt war, es sei denn, dass der Beamte oder die Beamtin sich die Krankheit außerhalb des Dienstes zugezogen hat. …
Info
Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) – Anlage 1
1 Durch chemische Einwirkungen verursachte Krankheiten
13 Lösemittel, Schädlingsbekämpfungsmittel (Pestizide) und sonstige chemische Stoffe
1303 Erkrankungen durch Benzol, seine Homologe oder durch Styrol
1304 Erkrankungen durch Nitro- oder Aminoverbindungen des Benzols oder seiner Homologe oder ihrer Abkömmlinge
1317 Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische
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