Prospektiver und korrektiver Ansatz virtueller Arbeitsgestaltung
Ergonomisch schlecht gestaltete Arbeitsprozesse können zu gesundheitlichen Risiken und wirtschaftlichen Mehraufwendungen führen, so dass die Potenziale der Mitarbeiter nicht ausgeschöpft werden und Produktivitätsverluste drohen. Im Jahr 2016 betrugen die Arbeitsunfähigkeitstage im Durchschnitt 17,2 Tage pro Arbeitnehmer (BAuA 2018). Erkrankungen des Muskel- und Skelettsystems verursachten laut des BBK Gesundheitsatlas 2017 jeden vierten krankheitsbedingten Arbeitsausfall. Neben gesundheitlichen Beschwerden (chronischen Schmerzen, körperlichen Funktionseinschränkungen und Verlust an Lebensqualität) des Einzelnen resultieren daraus erhebliche volks- und betriebswirtschaftliche Schäden von 75 Mrd. Euro in 2016 (BAuA 2018, s. „Weitere Infos“). Ungünstige Arbeitsbedingungen können zudem zu erhöhten Ausschussquoten, verminderter Qualität, Imageverlusten und einer Abnahme der Mitarbeitermotivation führen (Fritzsche 2014).
Im Kontext eines starken internationalen Wettbewerbs, einer Verknappung der Arbeitskräfte (u.a. durch den demografischen Wandel) und die Beschleunigung struktureller Umbrüche infolge der Digitalisierung kommt einer Erhaltung der Arbeitskraft eine wesentliche Bedeutung zu. Umso wichtiger ist es, dass Arbeitsprozesse wirtschaftlich wie auch menschengerecht gestaltet sind (Schlick et al. 2018).
Mit Hilfe arbeitswissenschaftlicher digitaler Menschmodelle (DMM) und Planungssysteme können Arbeitsprozesse und Produkte virtuell abgebildet und nach ergonomischen sowie wirtschaftlichen Kriterien bewertet und gestaltet werden (Bullinger-Hoffmann u. Mühlstedt 2016). Dabei lassen sich Eigenschaften und Fähigkeiten des Menschen wie Körpermaße abbilden. Anwendung findet die digitale Abbildung und Simulation von Arbeitsprozessen in der virtuellen Produkt- und Prozessgestaltung sowie als Instrument zur Mitarbeiterschulung. Dabei können u.a. Machbarkeits-/Zugänglichkeitsanalysen sowie die Auswertung physischer Belastungen durchgeführt werden. Im Sinne einer prospektiven Arbeitsgestaltung können somit frühzeitig ohne reale Prototypen bzw. Pilotaufbauten ergonomische und produktivitätsbezogene Potenziale identifiziert und optimiert werden. Hieraus kann sich eine erhebliche Kosten- und Zeiteinsparung z.B. durch den Wegfall von „Cardboard-Workshops“ oder teuren korrektiven Produkt- und Prozessänderungen ergeben. Die 3D-Visualisierung unterstützt zusätzlich die Kommunikation und die Akzeptanz der geplanten Maßnahmen für die beteiligten Unternehmensbereiche in Fertigung, Planung sowie Management und kann dazu beitragen, die Anzahl notwendiger Iterationsschleifen wesentlich zu verringern.
Das digitale Planungssystem „ema Work Designer“ ermöglicht die prospektive Planung und Gestaltung menschlicher Arbeit im industriellen Fertigungsprozess (Leidholdt et al. 2016). Unter Nutzung verschiedener anthropometrischer Menschmodelle kann eine Analyse manueller und teilautomatisierter Prozesse sowie Mensch-Roboter-Interaktionen mittels Prozesssimulationen durchgeführt werden. Auf Basis einer parametrisierten Tätigkeitsbeschreibung (ema-Verrichtungsbibliothek) agiert das Menschmodell unter Angabe von Rahmenbedingungen (z.B. zu handhabende Objekte, Zielpositionen) eigeninitiativ und Bewegungen werden automatisch generiert. Zur Auswertung von Arbeitsprozessen können unterschiedliche Verfahren wie MTM-UAS zur Fertigungszeitermittlung (Bokranz 2016) oder EAWS (Ergonomic Assessment Worksheet) zur Ergonomiebewertung (Schaub et al. 2013) genutzt werden. Weitere Auswertungen und Reports hinsichtlich Laufwege, Taktzeitdiagramme, Platzbedarf, Wertschöpfung oder auch MRK-Berichte (u.a. zu Kollisionskräften zwischen Mensch und Roboter) können zur weiterführenden Ableitung von Optimierungsmaßnahmen eingesetzt werden.
Digitale Planung und Arbeitsgestaltung mit ema Work Designer
Der ema Work Designer kann den gesamten Produktentstehungsprozess (PEP) hinsichtlich der digitalen Arbeitsprozess- und Arbeitsplatzgestaltung durchgängig unterstützen. Neben dem prospektiven Ansatz der Absicherung in der frühen Planungsphase können Simulationen ebenfalls für die korrektive Arbeitsplatzgestaltung im Rahmen von Workshops zu kontinuierlichen Verbesserungsprozessen (KVP) in der Serienfertigung mittels Variantenvergleich genutzt werden (➥ Abb. 1). Verschiedene Kennzahlen wie Taktauslastung und Ergonomiebewertungen nach EAWS unterstützen den Nutzer bei der Auswahl einer Vorzugsvariante.
Die zur Optimierung hilfreiche Nutzung von Ergonomiebewertungen kann durch die digitale Simulation semiautomatisch auf Basis der Eingabe von Lastgewichten und auftretenden Kräften erstellt werden. Eine zweite Möglichkeit besteht in der Datenbefüllung der digitalen Planungsumgebung mittels Motion-Capturing-Verfahren. Bewegungsdaten aus Labor oder Feldstudie, die durch verschiedene Motion-Capturing-Systeme erfasst wurden, können in die Software importiert und ausgewertet werden (Ivaldi et al. 2018). Damit können reale Bewegungsdaten in der virtuellen Arbeitsplanung genutzt werden (➥ Abb. 2).
Mit Nutzung (semi-)automatisch erstellter Simulationsdaten, Ergonomiebewertungen und Fertigungszeiten können anschließend Arbeitsplätze fähigkeitsgerecht gestaltet werden. Auf Basis des Stufenmodells der menschengerechten Arbeitsgestaltung nach Kirchner (1972) und Rohmert (1983) ist im ersten Schritt die Ausführbarkeit sicherzustellen. Der ema Work Designer ermöglicht mittels verschiedener Menschmodell-Perzentile und der Simulation männlicher und weiblicher Werker auf Basis der anthropometrischen Daten der DIN 33402-2 insbesondere auch Engpassbetrachtungen für die „kleinste“ Frau und den „größten“ Mann. Zusätzlich können mit der Sichtanalyse (z.B. aus Ego-Perspektive des Werkers) Blindmontagen oder schwer zugängliche Bauräume identifiziert werden. Über Ergonomiereports sowie die Anzeige von „Point-Boostern“ werden ergonomisch ungünstige Arbeitstätigkeiten hervorgehoben und dem Anwender Hinweise auf mögliche Ergonomiepotenziale gegeben. Zusätzlich können die Arbeitsanforderungen über die Detaillierung der Belastungsmerkmale aus EAWS (Körperhaltungen, Aktionskräfte, Lasten), mit entsprechenden Fähigkeitsprofilen von Mitarbeitern abgeglichen werden. Die konkrete Anwendung zeigt ➥ Abb. 3 mit der digitalen Planung einer standardisierten Arbeitszelle. Dieses variable Arbeitsplatzsystem ermöglicht verkettete als auch Einzelarbeitsplätze zum Einsatz leistungsgewandelter Mitarbeiter. Durch die Nutzung höhenverstellbarer Arbeitstische, Unterstützungssysteme wie Hebehilfen und Drehmomentabstützungen sowie die Sicherstellung optimaler Erreichbarkeitsräume können die Arbeitsplätze fähigkeitsgerecht gestaltet werden (Ullmann et al. 2015).
Weitere Potenziale können auch Mensch-
Roboter-Kollaboration (MRK) durch direkte Roboterinteraktion mittels schutzzaunlosem Zugang bieten. Die Vorteile liegen in der Reduzierung hochrepetitiver Arbeitstätigkeiten und statischer Zwangshaltungen (ungünstiges Rumpfbeugen oder Überkopfarbeit) sowie die Vermeidung schwerer Lastenhandhabung (Zhang et al. 2017). Ein Beispiel zur Umsetzung nach der prospektiven Simulation der Sicherheitsbereiche und Roboterinteraktion mit ema Work Designer zeigt
➥ Abb. 4.
Ausblick
Mit steigenden Anforderungen an die Planung fähigkeitsgerechter Arbeitsplätze werden Funktionalitäten der Einsatzanalyse älterer und leistungsgewandelter Mitarbeiter stetig weiterentwickelt. Neue Funktionen bezüglich altersbedingter Veränderungen der Beweglichkeit, Sensorik, Kräfte sowie Einsatz-Reports und Arbeitsplatzanforderungsprofile sind aktuell in Entwicklung (➥ Abb. 5).
Auf Basis importierter oder manuell eingegebener Fähigkeitsprofile kann das Einsatzpotenzial von spezifischen Mitarbeiterpopulationen am geplanten Arbeitsplatz ermittelt werden. Die digitale Simulation von Mitarbeitern mit Einsatzeinschränkungen könnte anschließend Abweichungen hinsichtlich des Arbeitsprozesses, wie zum Beispiel Laufwege, Fertigungs- und prozessbedingte Wartezeiten aufzeigen und mit einem Standardarbeitsprozess vergleichen. Zusätzliche Methoden zur Ermittlung und Bewertung von Ermüdung und Fügekräften sind weitere geplante Schritte zur Detaillierung der Bewertung von Simulationsergebnissen. Hierzu stellt ebenfalls die monetäre Betrachtung von ergonomischen Verbesserungsmaßnahmen eine weiterhin große Herausforderung dar. Neue ganzheitliche Bewertungsansätze einer systematischen Berücksichtigung der Kosten- und Nutzenpotenziale von ergonomischen Maßnahmen sind verfügbar, die auf die jeweiligen Unternehmen angepasst und in der Praxis evaluiert werden müssen (Illmann et al. 2018; Fritzsche et al. 2019). Die beschriebenen und kommenden Funktionen sind der nächste Schritt in Richtung einer ganzheitlichen virtuellen Arbeitsgestaltung.▪
Interessenkonflikt: Die Autoren sind Mitarbeiter der imk automotive GmbH, Chemnitz