SL: Seit einigen Jahren beobachten wir starke Veränderungen von Managementprozessen in den Unternehmen. Was bedeutet das für die Beschäftigten und welche Rolle spielt in diesen Prozessen die Arbeitsmedizin?
Dr. med. Ralf Franke: Aktuelle Trends, die die Managementprozesse beeinflussen, sind neben Globalisierung und Digitalisierung unter anderem Individualisierung, New Work und Neo-Ökologie, und damit verbunden ist ein Trend von der direkten zur indirekten Steuerung im Management. Traditionelle Führungsmodelle lösen sich auf: Führen mit flachen Hierarchien, Arbeiten in Ecosystemen, virtuelles Führen und ergebnisorientiertes Führen sind nur einige Schlagworte.
Für die Mitarbeitenden bedeutet das mehr Handlungsspielraum, eine Entgrenzung von Arbeit und Freizeit, weniger physische, mehr psychische Belastung, lebenslanges Lernen, Umgang mit Informationsfülle, Arbeiten in internationalen und diversen Teams. Die Arbeit wird aus einer kontrollierten Umgebung in weniger reglementierte Bereiche verschoben, was zunehmend die Eigenverantwortung der Beschäftigten fordert. Das birgt die Gefahr der interessierten Selbstgefährdung.
Insgesamt sehen wir, dass zunehmend auf das Individuum und dessen Fähigkeiten fokussiert wird, wobei die Gefahr besteht, die hochrelevanten organisationalen Aspekte aus den Augen zu verlieren. Die Pandemie führt uns vor Augen, wie wichtig sowohl die individuelle als auch die organisationale Resilienz ist.
Aufgabe der Arbeitsmedizin (und der anderen Akteurinnen und Akteure im Gesundheitsmanagement) ist, auf gesundheitsrelevante Auswirkungen dieser Veränderungen hinzuweisen. Verhalten und Verhältnisse gehen in der Prävention weiterhin Hand in Hand. Die Arbeitsmedizin in ihrer Rolle und mit ihrer Expertise als „gesundheitsorientierte Veränderungsbegleitung“ bietet dabei Lösungen und Unterstützung an, adressiert Fehlentwicklungen mit gesundheitsrelevanten Auswirkungen und moderiert Dialog und Diskussion der verschiedenen Interessensvertreterinnen und -vertreter (auf die Ärztin oder den Arzt wird nach wie vor gehört, wenn sie oder er relevante Themen argumentativ gut aufbereitet und eine klare fachliche Position
vertritt).
Ein neues/anderes Selbstverständnis heißt also:
SL: Psychische Gesundheit spielt in unserer Gesellschaft eine zunehmend wichtige Rolle. Was bedeutet das für die Arbeitsmedizin?
Univ.-Prof. Dr. rer. soc. Jessica Lang: Die Gesunderhaltung der Beschäftigten nicht nur in körperlicher, sondern auch in mentaler Hinsicht rückt in unserem Alltag seit Ende des letzten Jahrhunderts in der Tat mehr und mehr in den Fokus. So wird von den verschiedensten Krankenkassen über prozentual ansteigende Fehlzeiten am Arbeitsplatz im Vergleich zu anderen Erkrankungsarten berichtet. Insbesondere die erhöhte Falldauer bei Vorliegen einer psychischen Erkrankung wird dabei betont. Dies ist nicht nur gesellschaftlich relevant aufgrund erhöhter Kosten für Behandlung und Absentismus vom Arbeitsplatz, zusätzlich wird auch über einen nicht zu unterschätzenden Anteil an Produktivitätsausfall aufgrund von Präsentismus psychisch kranker und damit eingeschränkt leistungsfähiger Beschäftigter gesprochen.
Unabhängig von den Kosten sollte aber genauso der damit einhergehende Leidensdruck für die Betroffenen gesehen werden sowie für deren Angehörigen und die Arbeitskolleginnen und -kollegen. Psychische Erkrankungen haben mehrheitlich eine multifaktorielle Genese, wobei auch die Komorbidität zu anderen organischen Erkrankungen wie zum Beispiel Muskel-Skelett-Erkrankungen oder Krebserkrankungen zu berücksichtigt werden muss. Im Arbeitsumfeld wissen wir aus der Forschung, dass die Gestaltung der Arbeitsbedingungen einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung psychischer Erkrankungen wie Depression, Angst- und Anpassungsstörungen haben kann. Selbst wenn es Frühwarnindikatoren für diese Erkrankungen gibt, die sich in einer Befindensbeeinträchtigung äußern können, werden diese häufig nicht oder zu spät wahrgenommen, sowohl von der betroffenen Person selbst oder auch von ihrem Umfeld.
Für die Arbeitsmedizin wird sich die Auseinandersetzung mit der psychischen Gesundheit der Beschäftigten im sekundärpräventiven Setting und der Arbeitsgestaltung hinsichtlich psychischer Belastungen im primärpräventiven Setting als Handlungsfeld stark ausweiten. In der Praxis wird es darum gehen, aus einem ganzheitlichen Ansatz heraus auch bei Untersuchungsanlässen und in Anamnesegesprächen auch die psychische Gesundheit der Beschäftigten mit zu erfassen, etwa über Kurzscreenings und Früherkennungsmaßnahmen. Damit kann den einzelnen Betroffenen frühzeitig Unterstützung angeboten werden. Hierbei Schnittstellen zu beratenden und therapeutischen Einrichtungen herzustellen, wird einen zentralen Erfolgsfaktor darstellen.
Häufen sich bei den Vorsorgeanlässen die Vorkommnisse psychischer Beeinträchtigungen oder sogar Erkrankungen in einem Betrieb, können gezielt über die Partizipation in der Gefährdungsbeurteilung die Arbeitsplätze nach ihrem Ausmaß an psychischem Belastungspotenzial analysiert werden. Unabhängig vom Auftreten psychischer Gesundheitsprobleme im Betrieb, wird es im Rahmen von regulären Gefährdungsbeurteilungen von Vorteil sein, die eigenen Kompetenzen in der Erfassung und Bewertung psychischer Belastungsfaktoren stetig auszubauen, auch weil sich die Arbeitswelt in einem immer schnelleren technischen Wandel befindet. Der Fortschritt der Digitalisierung, der Robotik und der Autonomie künstlich intelligenter Systeme muss bei der Einführung neuer Arbeitstechniken die potenziellen Einflüsse auf das menschliche Erleben und Verhalten initial mit berücksichtigen.
Im Kontext des Wandels der Arbeitswelt wird es auch für die arbeitsmedizinische Forschung von großer Bedeutung sein, die technischen Entwicklungen eng zu begleiten und dabei Studien durchzuführen, um die Auswirkungen dieser neuen Systeme auf die Beschäftigten zu beobachten und zu verstehen, im Sinne von neuen oder geänderten Anforderungen an die Kognition, Emotion und das Verhalten. Nur so können Maßnahmen für den Erhalt der psychischen Gesundheit vor der Implementierung potenziell schädlicher Arbeitsmittel oder -abläufe entwickelt werden.
SL: Die Covid-19-Pandemie hat zu einer verstärkten Wahrnehmung der Arbeitsmedizin und zur Veränderung von arbeitsmedizinischen Prozessen in Unternehmen geführt. Was wird davon auch in Zukunft Bestand haben, was wird wieder in Vergessenheit geraten?
Dr. med. Martin Kern: Die seit nunmehr zwei Jahren andauernde Covid-19-Situation hat die Rolle der Arbeitsmedizin im betrieblichen Umfeld gestärkt. Intensive Beratungen mit den Unternehmensleitungen, den Arbeitnehmervertreterinnen und -vertretern, den Mitarbeitenden und den betrieblich Verantwortlichen zur Umsetzung der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel, der Corona-Arbeitsschutzverordnung einerseits und den Nahtstellen zum Infektionsschutzgesetz andererseits haben sicherlich einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, größere Infektionsketten in den Unternehmen zu verhindern und somit die Aufrechterhaltung der Geschäftsprozesse sicherzustellen.
Wichtige Bausteine des arbeitsmedizinischen Wirkens wie die Beratung besonders schutzbedürftiger Personengruppen, das betriebliche Eingliederungsmanagement und das Thema Hygiene haben in dieser Zeit an Bedeutung gewonnen. Gleichzeitig haben die neuen SARS-CoV-2-Regeln auch zu Prozessumstellungen in den betriebsärztlichen Einrichtungen geführt: Beispielsweise wurden und werden die Mitarbeitenden verstärkt über telefonische Beratung oder die Telearbeitsmedizin erreicht, außerdem wurden durch die Umsetzung der AHA+L-Regeln auch die Prozesse für die notwendigen Präsenzvorsorgen und -untersuchungen optimiert, angefangen bei der Terminkoordination bis hin zu einem schnelleren Durchlauf durch die betriebsärztlichen Praxen.
Auch das Thema der Gefährdungsbeurteilung zur Umsetzung der Vorgaben aus der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel und der Corona-Arbeitsschutzverordnung hat den Stellenwert der Betriebsärztinnen und Betriebsärzte deutlich erhöht. Besonders zu erwähnen ist zudem das hohe Engagement der Arbeitsmedizin beim Thema der COVID-19-Schutzimpfung. Hier haben viele Tausend Betriebsärztinnen und Betriebsärzte ihre jahrelange Vorerfahrung aus anderen großen Impfaktionen einbringen können und einen wichtigen Beitrag beim Thema „Impfen der Beschäftigten“ leisten können.
Wenn wir uns heute im Frühjahr 2022 fragen, was davon auch in Zukunft Bestand haben kann und was wieder in Vergessenheit geraten wird, so denke ich, dass wir das überwiegend selbst in der Hand haben. Das in den vergangenen zwei Jahren nochmals gestärkte Vertrauen in die Arbeitsmedizin in den Unternehmen gilt es jetzt zu bekräftigen, indem wir wichtige Themen der betrieblichen Gesundheit auch nach einer pandemischen Lage in den Unternehmen adressieren und basierend auf den Bausteinen des betrieblichen Gesundheitsmanagements einen Beitrag zur Beschäftigungsfähigkeit der Mitarbeitenden vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und der verlängerten Lebensarbeitszeit leisten dürfen.
SL: Wie ändert sich die Welt der Arbeitsmedizin in Zeiten der Digitalisierung?
Priv.-Doz. Dr. med. Stephan Weiler: Ähnlich wie die Arbeitswelt insgesamt – sehr rasch, ohne konkretes Zielbild, widersprüchlich und die Einzelnen fordernd. Anspruchsvolle Klienten werden passgenaue und schnelle Antworten zur Beratung fordern. Die Welt der Arbeitsmedizin wird selbst digital. Betriebsärztliche Leistungen können digitalisiert abgerufen werden, beispielsweise in einer Betriebsarzt-App, in Online-Dialogen, bei Remote-Begehungen und telemedizinischen Sprechstunden. Dabei sind Daten wie zum Beispiel von digitalen Health-Devices, von kleidungsintegrierten Sensoren und elektromechanischen Arbeits-Assistenzsystemen zu berücksichtigen. Dafür wird man künstliche Intelligenz benötigen.
Notwendige Kompetenzen dazu müssen in der Arbeitsmedizin aufgebaut werden. Können dies Einzelpraxen erreichen oder sind hier Netzwerke effektiver? Dazu wird es einen Markt für Kollaborationsdienstleister geben, die sehr hohe Anforderungen an Informationssicherheit und Datenschutz bedienen müssen, zum Beispiel bei E-Bescheinigungen, E-Akten, Streamings usw. Präsenztermine werden seltener, dafür aber viel wertvoller – vermutlich auch komplexer – sein. Die Beratung zu psychischer Gesundheit und Entscheidungsfähigkeit in der mehrdeutigeren Digitalwelt (s.o.) wird wichtiger.
Arbeitgeber werden auf eine breit aufgestellte und gut kommunizierende, moderne Arbeitsmedizin zur Steigerung der Arbeitgeberattraktivität Wert legen, da um die knappe Ressource menschlicher Arbeitskräfte gerungen wird – auch in der Arbeitsmedizin selbst.
SL: Welche Auswirkung hat aus Ihrer Sicht die Digitalisierung auf die Arbeitswelt der nächsten 15 bis 20 Jahre?
Dr. med. Ulrike Elsler: Die Digitalisierung wird die Zukunft als so genannte VUCA-World (Volatilität, Ungewissheit, Komplexität und Ambiguität) entscheidend prägen. Prozesse werden im Arbeitsablauf beschleunigt, sowohl was Kommunikationswege als auch Produktionsprozesse angeht. Dadurch kommt es zu einer Flexibilisierung von Arbeitsort und eventuell auch Arbeitszeit. Die Komplexität von Arbeitsinhalten nimmt zu und weniger komplexe Arbeitsinhalte können durch automatisierte Prozesse ersetzt werden. Die Qualifikation der Mitarbeitenden muss entsprechend hoch sein. Die Anzahl weniger hoch qualifizierter Arbeitsplätze reduziert sich. Von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist eine erhöhte Eigenverantwortung, Selbstwirksamkeit und Regenerationsfähigkeit gefordert, um einer Entgrenzung von Berufs- und Privatleben entgegenzuwirken, die hohen Konzentrationsanforderungen zu bewältigen und die volatile Arbeitswelt für persönliche Weiterentwicklung nutzen zu können. Auch die Rolle der Führungskräfte wird sich entsprechend anpassen müssen, um adäquate Rahmenbedingungen zu schaffen und auf individuelle Ressourcen eingehen zu können. Die Anforderungen an die Führungskräfte werden steigen, um neuartige Arbeitsformen wie beispielsweise Crowdworking, mobiles Arbeiten, Telearbeit und vermehrt internationale Teams zu leiten. Die Kommunikationswege werden zunehmend virtuell geprägt sein, was für das Individuum zu einer sozialen Isolation führen kann. Persönliche reale Kontakte werden an Bedeutung gewinnen. Eine Herausforderung wird es sein, alle Generationen eines Teams in der sehr schnellen, digitalen Entwicklung mitzunehmen und einem Generationenkonflikt vorzubeugen. Die Digitalisierung bringt in allen Qualitäten Chancen und Risiken mit sich.
SL: Durch die Einführung der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) im Jahr 2009 hat sich die arbeitsmedizinische Vorsorge wesentlich verändert. Welche Entwicklung für die arbeitsmedizinische Vorsorge erwarten Sie für die Zukunft?
Univ.-Prof. Dr. med. Volker Harth, MPH: Die arbeitsmedizinische Vorsorge erreicht einen großen Teil der etwa 45 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland. Als Teil der betrieblichen Präventionsmaßnahmen steht sie dabei in einer direkten Wechselbeziehung zu der Gefährdungsbeurteilung und den Veränderungen in den physikalischen, chemischen und biologischen Einwirkungen sowie den psychische Belastungen in der Arbeitswelt von morgen.
Die ArbMedVV ermöglicht es, die arbeitsmedizinische Vorsorge dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik in der Gestaltung der Arbeitsbedingungen anzupassen. Sie legt dabei einen besonderen Schwerpunkt auf die informationelle Selbstbestimmung der Beschäftigten. Die Erstellung von Vorschlägen für eine ständige Anpassung der Vorsorgeinhalte, Regeln und Empfehlungen ist Aufgabe des Ausschusses für Arbeitsmedizin (AfAMed), der seit 2009 das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) berät.
Zentrales Thema vieler ärztlicher Beratungen werden aktuell neben der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel auf noch nicht absehbare Zeit die gesundheitlichen Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie und des daraus resultierenden „Long COVID-“ oder auch „Post-COVID-19-Syndroms“ sein.
Die digitale Transformation der Arbeitswelt führt zu veränderten Anforderungen. Mittel- und langfristig werden die gerade durch das mobile Arbeiten bedingten Belastungen und Beanspruchungen im Vordergrund stehen. Dies zeigt sich aktuell an den psychischen wie auch physischen Auswirkungen des weit verbreiteten Homeoffices. Darüber hinaus gilt es aber auch, die gesundheitlichen Auswirkungen neuer Technologien und neu zugelassener Arbeits- und Gefahrstoffe im Auge zu behalten.
Durch den demografischen Wandel und die Verlängerung der Lebensarbeitszeit bedingt wird sich die arbeitsmedizinische Vorsorge noch stärker auf chronisch erkrankte beziehungsweise leistungsgewandelte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerausrichten. Die Weiterentwicklung und Professionalisierung der arbeitsmedizinischen Vorsorge spiegelt sich auch im viel diskutierten Konzept der ganzheitlichen Vorsorge wider. Durch ihren wesentlichen Beitrag zu einer adäquaten Verhältnis- wie auch Verhaltensprävention kann so die Gesundheit der Beschäftigten gefördert, erhalten oder wiederhergestellt werden.
SL: Aktuell wird an der Novellierung der Approbationsordnung für Ärztinnen und Ärzte gearbeitet. Wie wird zukünftig die Arbeitsmedizin im Fächerkanon des Medizinstudiums vertreten sein?
Priv.-Doz. Dr. med. Alexandra Preisser: Die Arbeitsmedizin wird in Zukunft eine selbstbewusste und eigenständige Rolle innerhalb der medizinischen Studienfächer einnehmen, soweit dies aus dem Diskussionsentwurf der Approbationsordnung hervorgeht. Die Wahrnehmung des Faches wird durch die Nennung der „Arbeitsmedizin“ als eigenständiges Fach gestärkt; auch die „Sozialmedizin“ wird im Entwurf als eigenes Fach aufgeführt. So ist zu erwarten, dass für das Fach Arbeitsmedizin ein definiertes (Mindest-)Lehrangebot in den Curricula der medizinischen Fakultäten sowie ein eigener Fragenpool in den Staatsexamina etabliert wird.
Die Novellierung der Approbationsordnung für Ärztinnen und Ärzte steht in engem Zusammenhang mit der Weiterentwicklung des Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalogs Medizin (NKLM). Der vor einigen Jahren formulierte NKLM Stufe 1.0 wurde unter Federführung des Medizinischen Fakultätentages (MFT), der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) und des Instituts für Medizinische und Pharmazeutische Prüfungsfragen (IMPP) umfassend überarbeitet. Im Ergebnis konnte im NKLM 2.0 eine Reihe von arbeitsmedizinischen Lernzielen formuliert werden, die nun in den folgenden zwei Jahren in den NKLM 3.0 überführt werden sollen. Die novellierte Approbationsordnung, die nach jetzigem Stand ungefähr 2026 in Kraft treten könnte, sieht vor, dass die Curricula der medizinischen Fakultäten auf den NLKM 3.0 verpflichtend abzustimmen sein werden, ebenso die Fragen der Staatsexamina. Die Lernziele im Kapitel „Gesundheitsförderung und Prävention“ des NKLM, die das gesamte Gebiet der Arbeitsmedizin berücksichtigen, sowie organspezifische und interdisziplinäre Lernziele mit arbeitsmedizinischem Bezug werden zu einem Aufschwung der arbeitsmedizinischen Lehrstühle und Institute an den Fakultäten führen. Die Absolvierung von Famulaturen und Praktischen Jahren (PJs) in arbeitsmedizinischen Praxen, die im Diskussionsentwurf der Approbationsordnung explizit in die Liste der „Lehrpraxen“ aufgenommen werden, fördert zudem die Rekrutierung des arbeitsmedizinischen Nachwuchses.
SL: Zunehmend wird eine Vernetzung der kurativen Medizin durch niedergelassene ärztliche Kolleginnen/Kollegen und präventiv tätige Arbeitsmedizinerinnen/Arbeitsmediziner notwendig werden. Sehen Sie Möglichkeiten, um diesen Prozess zu verbessern?
Prof. Dr. med. Christoph Oberlinner: Prävention ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und muss alle Lebensbereiche mit einbeziehen. Vor allem bei der Primärprävention und Früherkennung von Erkrankungen müssen innovative Wege beschritten werden, um die Teilnahmequote an Präventionsmaßnahmen zu erhöhen. Dazu sollten die Menschen vor allem auch in den Lebenswelten (sog. „Settings“) angesprochen werden, in denen sie sich alltäglich bewegen.
Ziel einer im Betrieb angesiedelten Prävention und Gesundheitsförderung ist auch der „Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit“. Besonders im Hinblick auf die demografische Entwicklung mit einer im Durchschnitt älter werdenden Belegschaft und längeren Lebensarbeitszeiten werden diese Aspekte zunehmend wichtig.
Die Nähe der Mitarbeitenden zu den Arbeitsmedizinerinnen und Arbeitsmedizinern ist für Präventionsmaßnahmen und Früherkennungsstrategien von (chronischen) Erkrankungen von Vorteil. Risikofaktorscreening und Früherkennung von Erkrankungen können (kosten)effektiv als Ergänzung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge angeboten werden. Zudem finden diese Untersuchungen in einem für Prävention idealen Altersabschnitt statt. Bei jährlich mehr als 5 Millionen untersuchten Beschäftigten besteht eine sehr gute Möglichkeit für eine relevante Früherkennungsrate beeinflussbarer gesundheitlicher Risiken für große Teile der arbeitenden Bevölkerung.
Neben der Früherkennung von Risikofaktoren und chronischen Erkrankungen ist es nachgelagert wichtig, den Mitarbeitenden geeignete zielgruppenspezifische und individuelle Präventionsmaßnahmen anzubieten. Auch eine enge Vernetzung mit den Haus- und Fachärztinnen und -ärzten zur Weiterversorgung und Therapie bei Bedarf ist entscheidend. Die Sektoren der Arbeitsmedizin und der kurativen Medizin arbeiten hierfür Hand in Hand.
Diese enge Vernetzung zwischen Prävention (Arbeitsmedizin) und kurativ tätigen Playern wird ab 2023 in einem neuen innovativen Konzept umgesetzt. In der BASF entsteht dafür ein neues „Medical Center“. Die Verzahnung der beiden Sektoren findet in einem gemeinsamen Gebäude statt. Dadurch werden optimierte Schnittstellen zwischen (arbeits-)medizinischer und externer fachärztlicher Versorgung ermöglicht. Eine nochmals deutliche Verbesserung der integrierten medizinischen Versorgung ist weiterhin durch die unmittelbare Nähe wichtiger Gesundheitsleistungen zum Arbeitsplatz gegeben.
SL: Die arbeitsmedizinische Forschung ist häufig anwendungsorientiert. Welche Zukunft hat die Grundlagenforschung in der Arbeitsmedizin?
Univ.-Prof. Dr. med. Simone Schmitz-Spanke: Neben der anwendungsorientierten arbeitsmedizinischen Forschung werden im Bereich der arbeitsmedizinisch-toxikologischen Grundlagenforschung zunehmend molekular-toxikologische Methoden weiter an Bedeutung gewinnen.
Ein Ziel ist Hazard Identifikation und Risk Assessment mit den Techniken der molekularen-toxikologischen Arbeitsmedizin. Um dies zu erreichen, müssen Wirkmechanismen von Gefahrstoffen auf der molekularen Ebene erforscht werden. Als Modelle werden zum Tierschutz gemäß dem 3R-Prinzip (Replace, Reduce, Refine) Zelllinien verwendet, in denen entlang einer Dosis-Wirkungs-Beziehung eine Vielzahl von toxikologischen Endgrößen bestimmt wird. Dazu gehören unter anderem Assays zur Bestimmung von DNA-Schädigung, Zytotoxizität, oxidativem Stress oder Proliferation. Um den genaueren Pathomechanismus zu untersuchen, können zusätzlich Omics-Methoden (z.B. DNA-Microarrays, Metabolomics) verwendet werden, die in einem hypothesenfreien Ansatz Hinweise auf bisher unerwartete Signalwege liefern können. In einer multimodalen Auswertung der Daten kann ein Pathomechanismus oder eine Mode of Action entwickelt werden. Durch die Analysen der Dosis-Wirkungs-Beziehung wird über so genannte Benchmark-Modellierungen quantitativ die Dosis berechnet, die in dem Modell für den berechneten Endpunkt den Übergang von einer adaptiven in eine adverse Antwort markiert. Dadurch kann der „sensibelste“ Signalweg ermittelt werden, der auf eine mögliche adverse Wirkung hinweist. Letztlich ist dies ein Grenzwert für das untersuchte System. Die Herausforderung der Zukunft besteht darin, diese Grenzwerte von in-vitro nach in-vivo zu extrapolieren („in vitro to in vivo extrapolation“, IVIVE) beziehungsweise eine physiologiebasierte Pharmakokinetik-(PBPK-)Modellierung durchzuführen. Hier gibt es erste Ansätze, die intensiv ausgebaut werden.
Mit diesen Ansätzen können Wirkschwellen für Gefahrstoffe, im Sinne eines Risk Assessments, beschrieben werden. Der quantitative Ansatz ermöglicht eine Abstufung der betroffenen Signalwege – beispielsweise tritt eine DNA-Schädigung schon bei geringeren Konzentrationen oder erst viel später bei einer hohen Zytotoxizität auf.
Zur Hazard Identification bieten sich Hochdurchsatztests an, die eine große Brandbreite an Signalwegen abdecken. Diesen Ansatz verfolgt die United States Environmental Protection Agency (EPA) im ToxCast-Programm, das bisher etwa 1800 Chemikalien (auch aus der Arbeits- und Umwelt) untersucht hat. Die gewonnen Daten können Hinweise auf ein toxisches Potenzial und mögliche Wirkmechanismen geben.
Um einen relevanten Beitrag zur arbeitsmedizinischen Prävention leisten zu können, ist es wichtig, dass die Ergebnisse dieser In-vitro-Untersuchungen immer zusammen mit anderen wissenschaftlichen Untersuchungsergebnissen – zum Beispiel aus der Epidemiologie – betrachtet und an die betriebliche Praxis angepasst werden.
SL: Wir beobachten in Deutschland einen Wandel in der Arbeitswelt, von der Produktion hin zur Dienstleistungsgesellschaft. Brauchen wir da zukünftig noch das Biomonitoring als diagnostisches Instrument in der Arbeitsmedizin?
Univ.-Prof. Dr. med. Hans Drexler: Auch in einer modernen Dienstleistungsgesellschaft wird es noch die Landwirtschaft, die Schwerindustrie, die Bauindustrie, das Handwerk und generell Produktionsstätten für die vielfältigen Konsumprodukte geben. Gewiss werden in Zukunft weniger Beschäftigte unmittelbar gegen Gefahrstoffe exponiert sein als heutzutage, aber diese besonders Gefährdeten müssen wir mit unserer Kompetenz und unserem Wissen schützen.
In einem Beitrag im British Journal of Cancer wird im Jahr 2017 davon ausgegangen, dass es in den nächsten 60 Jahren mehr als 700.000 zusätzliche Krebstodesfälle in Europa durch berufliche Einflüsse geben wird. Für systemisch wirkende krebserzeugende Arbeitsstoffe steht als Instrument der Vorsorge oftmals nur das Biomonitoring zur Verfügung, denn bei allen (labor-)klinischen Untersuchungen handelt es sich um Maßnahmen der Krebsfrüherkennung, die erst nach längerer Expositionszeit indiziert sind. Die Quantifizierung der inneren Belastung durch ein Biomonitoring erlaubt hingegen von Expositionsbeginn an eine Aussage zum beruflichen Krebsrisiko (quantitativ für Arbeitsstoffe mit Exposition-Risiko-Beziehung und Äquivalenzwerten, semiquantitativ für alle Stoffe mit biologischem Arbeitsstoffreferenzwert).
Für zahlreiche Arbeitsstoffe (z.B. Blei, Quecksilber, polychlorierte Biphenyle (PCB), aromatische Amine) erlaubt nur ein biologisches Monitoring eine valide Abschätzung der gesundheitlichen Gefährdung der Exponierten. Für Blei hat der deutsche Verordnungsgeber daher im Jahr 2017 den Luftgrenzwert ausgesetzt und nur noch einen biologischen Grenzwert zur Überwachung der Exposition festgelegt.
Im Gegensatz zu angelsächsischen Ländern ist in Deutschland das Biomonitoring im Arbeitsschutz ein Instrument der Individualprävention, wodurch es Bestandteil der ärztlichen Heilkunde ist und die Ergebnisse der ärztlichen Schweigepflicht unterliegen. Das biologische Monitoring ist das fachspezifische Instrument der Arbeitsmedizin. Die sachkundige Wahl der Matrix, des Probenahmezeitpunkts, der Versandart, die Prüfung der Qualitätskontrolle und schließlich die Befundinterpretation in Kenntnis der speziellen Arbeitsplätze und der jeweils anzuwendenden Werte zur Beurteilung sowie die sich ergebenden Konsequenzen erfordern in der Praxis unzweifelhaft den arbeitsmedizinischen Facharztstandard.
SL: Brauchen wir zukünftig eine verstärkte Versorgungsforschung in der Arbeitsmedizin?
Univ.-Prof. Dr. med. Monika Rieger: Versorgungsforschung in der Arbeitsmedizin adressiert ein breites Spektrum von Fragestellungen. Der inhaltliche Bogen reicht von der Beforschung der Arbeitsbedingungen im Gesundheitsdienst einschließlich Effekte auf die Patientenversorgung bis zur Ausgestaltung und Inanspruchnahme gesundheitsbezogener Angebote im Betrieb oder der Schnittstelle zur kurativen Medizin oder Rehabilitation. Häufig geht es folglich um Aspekte des betrieblichen Gesundheitsmanagements. Die Methoden und Studiendesigns sind hierbei angepasst unter anderem an die Beschreibung und Analyse der aktuellen Situation einschließlich Wandel in der Arbeitswelt, die Aufklärung von förderlichen und hinderlichen Faktoren, die Entwicklung und Implementierung von Interventionen und deren Evaluation. Projekte der Versorgungsforschung arbeiten heraus, wie die Gesundheit und Funktionsfähigkeit der Beschäftigten erhalten und damit auch die Qualität ihrer Arbeit zu unterstützt werden können.
Ausgehend von der umfassenden Aufklärung von Wirkzusammenhängen für erhöhte gesundheitliche Beanspruchung werden zunehmend hochwertige Interventionsstudien im Bereich der arbeitsmedizinischen Versorgungsforschung durchgeführt. Diese verfolgen beispielsweise das Ziel, die Umsetzung von Schutzmaßnahmen oder die Inanspruchnahme von Präventionsangeboten zu verbessern. Diese komplexen Interventionen erfordern besondere Studiendesigns.
In der Rückschau auf die vergangenen Jahre nehme ich eine deutliche Zunahme in der Anzahl, dem Themenspektrum und der methodischen Qualität der Versorgungsforschungsstudien in der Arbeitsmedizin wahr. Diese Entwicklung wurde auch durch umfangreiche Drittmittel, zum Beispiel aus der BMBF-Förderung „Forschungsverbünde zur Gesundheit in der Arbeitswelt“ oder im Rahmen des durch die BARMER ermöglichten Modellprojekts „Gesund arbeiten in Thüringen“, unterstützt. Zugleich sind diese breiten und in der Regel interdisziplinären Forschungsansätze meines Erachtens noch zu wenig im Rahmen des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung und auf dem Deutschen Kongress für Versorgungsforschung (DKVF) sichtbar.
Um auf die Frage zurückzukommen: Mit den vielfältigen Methoden der Versorgungsforschung können viele Fragen beantwortet werden, die sich durch den Wandel in der Arbeitswelt stellen. Entsprechend sollte die begonnene Entwicklung einer zunehmend ausdifferenzierten und breiten Versorgungsforschung in der Arbeitsmedizin fortgesetzt werden. Neben den erforderlichen methodischen Kompetenzen an den Hochschul- und Forschungseinrichtungen wird hierfür eine ausreichende Drittmittelförderung benötigt sowie die Anerkennung der Versorgungsforschung an den Fakultäten.
SL: Wissenschaftliche Leitlinien in der Medizin sind eine wichtige Grundlage für ärztliche Entscheidungen. Sowohl die Erstellung als auch die Aktualisierungen sind relativ aufwendig. Wie sehen Sie die Zukunft arbeitsmedizinischer Leitlinien?
Univ.-Prof. Dr. med. Susanne Völter-Mahlknecht: Die Bedeutung der arbeitsmedizinischen Leitlinienarbeit wird unserer Einschätzung nach vor dem Hintergrund der raschen Zunahme an medizinischem Wissen und Daten zukünftig zunehmen. Aufgrund der damit einhergehenden Informationsflut wird es immer schwieriger, aber auch umso wichtiger, Informationen zu sichten, zu bewerten und evidenzbasiertes Wissen zugänglich zu machen. So können wissenschaftliche Leitlinien auch zukünftig einen essenziellen Beitrag für ärztliche, evidenzbasierte Entscheidungen und systematisch erarbeitete Entscheidungshilfen zu gesamtgesellschaftlich wichtigen Versorgungsfragen leisten. Eine solche systematische Evidenzaufarbeitung gewährleistet, dass Politikberatung und politische Entscheidungen sowie Regelwerke auf evidenzbasiertem Wissen aufbauen können.
Angesichts der zunehmenden Relevanz von Leitlinien ist es sehr bedenklich, dass die Leitlinienarbeit in der Arbeitsmedizin wie auch in vielen anderen Facharztrichtungen mit fehlenden personellen und zeitlichen Ressourcen sowie mit einer viel zu geringen Finanzierung zu kämpfen hat. Dieses Problem wird sich verstärken, da die Leitlinienarbeit zunehmend aufwendiger und die Menge der im Rahmen der Leitlinienarbeit zu bearbeitenden relevanten Themen angesichts des raschen Wandels in der Arbeitswelt und der damit einhergehenden Herausforderungen für die medizinische Prävention am Arbeitsplatz eher zunehmen wird.
Aufgrund der Diskrepanz zwischen der zu bewältigenden Leitlinienarbeit und der zur Verfügung stehenden Ressourcen sollen die arbeitsmedizinischen Leitliniengruppen zukünftig seitens der DGAUM personell bei organisatorischen Aufgaben unterstützt werden. Organisatorische Erleichterungen erhofft man sich auch von der seitens der AWMF begonnenen Digitalisierung in der Leitlinienarbeit. Aber selbst wenn die Digitalisierung in der Leitlinienarbeit manche Abläufe erleichtert, verringert sich dadurch nicht der Aufwand der inhaltlichen Leitlinienarbeit.
Es wäre daher sehr wünschenswert, wenn auch die Politik die Leitlinienarbeit mehr unterstützen würde, damit arbeitsmedizinische Leitlinien auch zukünftig ihren essenziellen gesamtgesellschaftlichen Beitrag leisten und zur Qualitätssicherung im Gesundheitswesen beitragen können.
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