Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch
Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 21.03.2013 – S 10 U 48/11 –

Grippeimpfung als Arbeitsunfall

Gesundheitsvorsorge grundsätzlich Privatsache

Maßnahmen zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit sind grundsätzlich dem unversicherten privaten Lebensbereich zuzurechnen, auch wenn sie zugleich der Erhaltung oder Wiederherstellung der Arbeits-kraft und damit auch den Interessen des Un-ternehmens dienen (vgl. BSG v. 31. 01. 1974, 2 RU 277/73, Rn. 17, LSG Rheinland-Pfalz v. 28. 09. 2000, L 7 U 139/00, Rn. 20). Deshalb unterliegen allgemeine Schutzimpfungen grundsätzlich nicht dem Schutz der gesetz-lichen Unfallversicherung, selbst wenn diese vom Arbeitgeber empfohlen und finanziert werden.

Das gilt sogar dann, wenn im Unterneh-men durch Aushang des Betriebsarztes den Beschäftigten die Durchführung einer jährlichen Grippeschutzimpfung empfohlen wird und der Arbeitnehmer dafür keine Kosten zu tragen hat. Ein rechtlich wesentlicher Zu-sammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit ist nicht bereits deshalb zu bejahen, weil das Unternehmen ein natürliches Interesse an der Gesundheit und Leistungsfähigkeit seiner Beschäftigten hat und in großzügiger Handhabung seiner arbeitsvertraglichen Fürsorgepflicht von sich aus entsprechende Maßnahmen anbietet. Für den sachlichen Zusammenhang mit der Arbeit ist nicht ausreichend, dass die Grippe-impfung den Betriebsangehörigen in einer dem Unternehmen gehörenden betriebsärztlichen Einrichtung – an Stelle der privat finanzierte Maßnahmen bei einem niedergelassenen Arzt – angeboten wird. Der eigenverantwortliche Charakter einer solchen auf freier eigener Entschließungen beruhen-den Maßnahme zur Erhaltung der Gesundheit ändert sich dadurch nicht (vgl. BSGE 4 S. 219, 223; 9 S. 222, 226; BG 1965 S. 115; Urt. vom 27. Oktober 1965 – 2 RU 108/63 – in SozR Nr. 1 § 548 n. F).

Betrieblicher Zusammenhang bei besonderer Gefährdung

Ausnahmen lässt die Rechtsprechung zu bei besonderen Vorbeuge- und Heilmaßnahmen, soweit sie als Reaktion des Unternehmens auf eine besonderen Gefährdung des Mitarbeiters verstanden werden und die Gestaltung der Maßnahme eindeutig erkennen lässt, dass ihre Durchführung wesent-lich in Wahrnehmung betrieblicher Belange erfolgt. Für diese Fälle tritt das Eigeninter-esse des Beschäftigten an seiner Gesundheit zurück hinter dem Interesse des Arbeitgebers, die Weiterarbeit und Vermeidung von Gesundheitsstörungen zu sichern (vgl. BSG, Urt. v. 27. 10. 1965 – 2 RU 108/63 – in SozR Nr. 1 zu § 548 RVO n. F.).

Im nachfolgend berichteten Fall konnte das Sozialgericht Mainz eine schwere Erkran-kung der Klägerin aufgrund der betrieblich durchgeführten Schweinegrippeimpfung als Arbeitsunfall anerkennen. Sie war als Kinderkrankenschwester besonders beruflich gefährdet und folgte einer ausdrücklichen Impfempfehlung des Arbeitgebers, einem Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin der Universitätsmedizin Mainz. Der Arbeitgeber hatte durch aktive Werbung sein Interesse an umfänglicher Impfung der Mitarbeiter bekundet, um die Funktionsfähigkeit des Betriebs und die Versorgung der Bevölkerung während des weltweit grassierenden Schweinegrippevirus H1N1 sicherstellen zu können.

Qualifizierte Empfehlung des Arbeitgebers

Im Juni 2010 erstatte der Arbeitgeber der Klägerin bei der Beklagten eine Unfallan-zeige und teilte mit, die Klägerin habe am 02. 11. 2009 die arbeitgeberseitig dringend empfohlene Impfung gegen das neue H1N1-Virus beim Betriebsarzt wahrgenommen. Es bestünde nun eine Erkrankung mit Verdacht auf Impfschaden. Als Art der Verletzung war „Neurologische Erkrankung, Paravaccinale“ angegeben.

Die Impfempfehlung des Arbeitgebers wurde dokumentiert in einem am Arbeitsplatz ausgelegten Flugzettel mit Aufruf zur Impfung und in einer eigens zur Information über den Virus sowie die Impfmöglich-keiten einberufenen besonderen Versammlung erörtert. Sie nahm Bezug auf die Beschlusslage der Ständigen Impfkommission des RKI sowie dessen „Epidemiologisches Bulletin“ vom 12. 10. 2009. Danach wurden Beschäftigte im Gesundheitsdienst und der Wohlfahrtspflege mit Kontakt zu Patienten oder infektiösem Material der Indikations-gruppe 1 zugeordnet, für die mit der Impfung gegen die neue Influenza A H1N1 so-fort begonnen werden sollte.

Haftungsbegründender Zusammengang

Am Tag nach der Impfung mit dem Impfstoff Pandemrix hatte die Klägerin bei grippalen Beschwerden Ibuprofen genommen. Nach fünf Tagen waren Schmerzen und Schwellung des Impfarmes zu beobachten. Nach einem grippalen Infekt im Dezember traten Kribbelparästhesien der Oberschenkel und Thoraxschmerzen auf. Am 18. 12. 2009 fiel ein Perikarderguss auf, der sich nach Behandlung zunächst zurückbildete. Anfang März hatte die Klägerin erneut einen viralen Infekt mit Perikarderguss und heftigem Reizhusten. Im Arztbericht vom 28. 07. 2010 wurden u. a. folgende Diagnosen genannt:

  • rezidivierender Perikarderguss und Radikuloneuritis der Oberschenkel bei Z.n. H1N1-Vakzination,
  • 11/09 interpretierbar als postvakzinale Autoimmunreaktion, Steroidmonothe-rapie,
  • Nachweis unspezifischer Marklagerläsionen, unverändert zu 2/10, in 2/10 Liquorentnahme mit
  • Nachweis eines monolymphozytären Zellbildes ohne Aktivierungsschaden, kleine Schrankenstörung,
  • Z. n. Pneumonie 4/10 (subklinisch, pulmonale Infiltrate).

Die geklagten Beschwerden und die festgestellten Erkrankungen seien mit Wahrscheinlichkeit auf die Impfung zurückzufüh-ren. Der Entlassungsbericht vom 15. 06. 2010 bestätigte den Befund einer Radikuloneuritis. Zusammenfassend liege ein postvakzina-les Syndrom mit Perikarderguss und Neuritis, möglicherweise auch interpretierbar als Immunrekonstitutionssyndrom vor. Die Erkrankung sei als Impfreaktion/Impfschaden zu werten.

Mit Bescheid vom 13. 10. 2010 und Wider-spruchsbescheid vom 07. 02. 2011 lehnte die Beklagte die Anerkennung eines Arbeitsunfalls ab, da die Impfung nicht auf Grund-lage des Arbeitsschutzgesetzes erfolgt sei. Maßnahmen zur Erhaltung der Gesundheit gehörten nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts auch dann nicht zur versicherten Tätigkeit, wenn sie zugleich der Erhaltung der Arbeitskraft und damit auch den Interessen des Unternehmens dienten. Die Impfempfehlungen würden ebenfalls nicht zu einem inneren Bezug zum Arbeitsverhältnis führen. Bei einer Pandemie der höchsten Stufe – die Be-fürchtungen seien zudem überzogen gewesen – sei die Infektionsgefahr im Krankenhaus ebenso hoch, wie unter der normalen Bevölkerung und der Anlass sich zu impfen ohnehin gegeben. Leistungen könnten nach dem Infektionsschutzgesetzes beim Amt für soziale Angelegenheiten beantragt werden.

Seit dem 13. 02. 2011 bezieht die Kläge-rin eine Rente wegen voller Erwerbsminde-rung, mittlerweile auf unbestimmte Zeit. Es ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 anerkannt.

Sachlicher Zusammenhang mit der Arbeit

In der Urteilsbegründung betont das Gericht zunächst, dass hier nicht das Recht der Berufskrankheiten sondern dasjenige des Arbeitsunfalls maßgeblich ist, da es um eine konkrete Impfung innerhalb einer Arbeitsschicht geht. Die Klägerin genoss aufgrund der Tätigkeit als angestellte Krankenschwes-ter grundsätzlich Versicherungsschutz gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGBVII. Die Impfung – ein von außen wirkendes, zeitlich begrenz-tes Ereignis (das Durchstoßen der Haut mit der Nadel), das zu einem Gesundheitsschaden, nämlich der Infizierung der Klägerin mit Viren, führte – habe bei wertender Betrachtung auch in einem sachlichen Zusammenhang mit dieser versicherten Beschäftigung gestanden.

Denn diese Impfung sei nach Art und Veranlassung in einem gänzlich anderen Rahmen erfolgt als die üblichen jährlichen Grippeschutzimpfungen. Im vorliegenden Fall sei eine deutlich stärkere Beteiligung des Arbeitgebers festzustellen, der initiativ und wesentlich auf die Durchführung hinwirkte. Er habe die anlassbezogene Maßnahme mit Hinweis auf die höchste Pandemiestufe der WHO nachweislich explizit und dringend angeraten.

Erhöhte Gefährdung

Insbesondere sei die Klägerin aufgrund ihrer Tätigkeit einer erhöhten Gefährdung ausgesetzt gewesen. Auch bei einer Pandemie sei sie als Beschäftigte im Gesundheitsdienst mit Patientenkontakt deutlich intensiver gefährdet als die Normalbevölkerung. Im Informationsblatt und in der Empfehlung werde dies angenommen aufgrund der nachgewiesenen längeren und aktiveren Virusreplikation bei hospitalisierten Patienten. Hinzu käme, dass die Klägerin als Krankenschwester in der Kinderklinik tätig war. Das neue Schweinegrippevirus befiel nach den Erkenntnissen anders als die saisonale Influenza häufiger Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Von den Patienten, bei denen das Virus festgestellt worden sei, sind besonders häufig Kinder bis zum vierten Lebensjahr in ein Krankenhaus eingelie-fert worden. Damit sind auch die Angaben der Klägerin, dass die Notaufnahme der Kinderklinik, in der sie arbeitete, in diesem Zeitraum ungewöhnlich stark frequentiert wurde, nachvollziehbar und glaubhaft.

Nicht von Belang sei, dass die Befürchtungen letztlich übertrieben waren. Es sei eine objektive ex ante Betrachtung vorzunehmen, d. h. es sei auf die zum Zeitpunkt der Impfung bzw. Empfehlung bestehenden Erkenntnisse abzustellen. Nur auf diese konnte die Klägerin damals ihre Impfentscheidung stützen.

Betriebliches Interesse

Letztlich sei auch die von der Klägerin emp-fundene Erwartungshaltung des Arbeitge-bers, die nach Überzeugung der Kammer die Impfentscheidung der Klägerin wesentlich gefördert hat, nachvollziehbar. Die Durchführung einer möglichst flächendeckenden Impfung der Mitarbeiter zur Aufrechterhaltung des Betriebs (mit öffentlicher Aufgabe) lag eindeutig im betrieblichen Interesse des Arbeitgebers. Die Impfung dieser Berufsgruppe sollte nicht nur individuell die Klägerin sondern zugleich auch die Patienten schützen sowie die Funktionsfähigkeit der für die öffentliche Gesundheitsversorgung zuständigen Einrichtungen sicherstellen. Auch wäre das Ansehen der Einrichtung in der Bevölkerung negativ betroffen gewesen, wenn diese eine nach dem Pandemieplan als Maßnahme des Arbeitsschutzes vorgesehene Impfung nicht angeboten hätte oder bekannt geworden wäre, dass die Mitarbeiter sich nicht impfen lassen. 

    Autor

    Reinhard Holtstraeter

    Rechtsanwalt

    Lorichsstraße 17

    22307 Hamburg

    mail@ra-holtstraeter.de

    Jetzt weiterlesen und profitieren.

    + ASU E-Paper-Ausgabe – jeden Monat neu
    + Kostenfreien Zugang zu unserem Online-Archiv
    + Exklusive Webinare zum Vorzugspreis

    Premium Mitgliedschaft

    2 Monate kostenlos testen