Die Arbeitsmedizin war von Beginn an eine vorwiegend präventiv ausgerichtete Disziplin. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich Arbeitsmediziner dafür eingesetzt, dass die arbeitsplatzhygienischen Verhältnisse verbessert und die Sicherheit am Arbeitsplatz erhöht wurde. Die Früherkennung von arbeitsbedingten Erkrankungen und insbesondere von Berufskrankheiten war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ein wichtiger Bestandteil arbeitsmedizinischer Tätigkeit. Der Wandel der Arbeitswelt hat auch eine Änderung der gesundheitlichen Gefährdungen mit sich gebracht. Die Arbeitsmedizin muss sich auf die neuen Gefährdungen und die neuen Herausforderungen einstellen, um auch im 21. Jahrhundert dazu beitragen zu können, dass Arbeit nicht gefährdet und nicht krank macht.
Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) und Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) sind vor allem in KMUs eine besondere Herausforderung. Wolfgang Fischmann et al. zeigen in ihrem Beitrag anhand von Praxisbeispielen, dass regionale Netzwerke die Etablierung eines nachhaltigen Gesundheitsmanagements unterstützen können.
Ohne Zweifel wird angesichts des demografischen Wandels unserer Gesellschaft sowie der alten und auch der neuen Gefährdungen bei der Arbeit einem betrieblichen Gesundheitsmanagement immer mehr Beachtung geschenkt. Der Arbeitsmediziner vor Ort muss sich hier aktiv einbringen, damit nicht andere Akteure mit oftmals geringerer Kompetenz, diesen Bereich ohne Kooperation mit dem Betriebsarzt vor Ort versuchen abzudecken. Vera Dedic und Hanns Wildgans erläutern in ihren Ausführungen, dass dies auch in KMUs möglich ist. Unabhängig von der Betriebsgröße ist stets darauf hinzuweisen, dass ein betriebliches Gesundheitsmanagement die Beachtung des Arbeitsschutzgesetzes und des Arbeitssicherheitsgesetzes als unverzichtbare Basis hat. Erst wenn die darin beschriebenen Pflichtaufgaben erfüllt sind, bleibt Raum für Maßnahmen der Gesundheitsförderung wie Gesundheitssport, gesunde Ernährung, Suchtprävention und vieles andere.
Kernelement beim Betrieblichen Gesundheitsmanagement ist und bleibt die Gefährdungsanalyse. Auch im 21. Jahrhundert sind arbeitsbedingte Hauterkrankungen, Lärmschwerhörigkeit und Gefährdungen durch Chemikalien bedeutsam. Hier zeigt der Beitrag von Oliver Henschel und Michael Bader neue Wege der Gefährdungsbeurteilung von Chemikalien auf. Gerade im Hinblick auf die Erfassung der psychischen Gefährdungen wird häufig verkannt, dass es nur eine Gefährdungsbeurteilung am Arbeitsplatz geben kann, die alle Gefährdungen erfasst und insbesondere auch potenzielle Wechselwirkungen berücksichtigt. Die Beurteilung der psychischen Gefährdung, die seit 2013 im Arbeitsschutzgesetz verbindlich eingefordert wird, kann nur Teil einer umfassenden Gefährdungsbeurteilung sein. Beispielsweise können physikalische Belastungen (hoher Lärmpegel bei hoher Nachhallzeit, Lichtqualität, Raumklima) oder auch chemische Belastungen (Geruchsbelästigung, subjektive Angst vor sensorisch wahrnehmbaren chemischen Verbindungen) psychische Reaktionen bei den Beschäftigten hervorrufen, die zwar im Rahmen einer psychischen Gefährdungsbeurteilung auffallen, aber physische Ursachen haben.
Gerade im Zusammenhang mit dem Teilaspekt der psychischen Gefährdungsanalyse wird Ärzten immer wieder die Fähigkeit zur Beurteilung der psychischen Beanspruchung abgesprochen. Im Rahmen der medizinischen Ausbildung an Universitäten wird die Psyche des Menschen jedoch mehr im Medizinstudium vertieft als in einem Psychologiestudium. So werden psychische Aspekte bereits in der Vorklinik (Medizinische Psychologie und Soziologie) als auch in der Klinik (Pflichtfächer Psychiatrie und Psychosomatik) gelehrt und geprüft. Im Rahmen seiner ärztlichen Weiterbildung hat jeder Arzt mindestens fünf Jahre tagtäglich Kontakt mit Menschen und Patienten. Unbestritten hat die psychologische Ausbildung an Universitäten und die psychologische Wissenschaft ihre spezifischen Schwerpunkte, die ärztlicherseits nicht abgedeckt werden können, wie beispielsweise die Organisationspsychologie, die Schulung von Führungskräften oder die Wahrnehmungspsychologie zur Gestaltung von Arbeitsplätzen und Maschinen. Für die Beurteilung der psychischen Beanspruchung eines Individuums ist der Arzt jedoch besser ausgebildet als der Psychologe, es sei denn dieser hat sich weiterqualifiziert zum klinischen Psychotherapeuten. Darüber hinaus gibt es zahlreiche somatische Erkrankungen, die initial oftmals als chronisches Erschöpfungssyndrom oder psychische Dekompensation fehldiagnostiziert werden, wie beispielsweise Schilddrüsenfunktionsstörungen, Diabetes mellitus, chronische Entzündungen, Autoaggressionskrankheiten oder maligne Erkrankungen.
Bei den Gefährdungen durch die Arbeit muss auch die digitale Gefährdung als Teil der psychischen Gefährdung berücksichtigt werden. Die modernen Kommunikationsmedien führen zu einer kaum beherrschbaren Informationsflut, zur Beschleunigung der Entscheidungsprozesse, zur permanenten Erreichbarkeit und permanenten Verfügbarkeit und lösen oft auch ein Suchtverhalten aus.
Zur Entwicklung psychischer Belastungen und Beanspruchungen am Arbeitsplatz geben Fischmann et al. anhand allgemeiner Bestandsaufnahmen einige Einblicke in Forschungsprojekte aus Bayern.
In den Beiträgen wird mehrfach auf das Arbeitssicherheitsgesetz von 1974 Bezug genommen. Auch nach fast fünf Jahrzehnten ist das Arbeitssicherheitsgesetz aktuell, modern und bestens geeignet, die Gesundheit von Beschäftigten am Arbeitsplatz zu schützen. Viele Elemente, wie beispielsweise der § 3 Aufgaben der Betriebsärzte, sind nach wie vor hochaktuell und zeigen das gesamte Spektrum arbeitsmedizinischer Leistungen auf.
Insgesamt zeigen die Beträge dieses Heftes, dass die Arbeitsmedizin gut aufgestellt ist, wenn es gilt, die Herausforderungen der Arbeitswelt im 21. Jahrhundert zu bewältigen.
Autor
Prof. Dr. med. Hans Drexler
Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Henkestr. 9–11
91054 Erlangen