Arbeitsbedingte Erkrankungen sind bei Berufsmusikern nicht selten, und schon ansonsten banale Stö-rungen können hier fatale Auswirkungen auf die Auftrittsfähigkeit haben. Pathogene Faktoren von besonderer Bedeutung sind zum einen physische Belastungen: extreme Haltungs- und Bewegungs-anforderungen, Schallbelastung und häufig eine der Gesundheit abträgliche Arbeitsumgebung (Klima, Sichtverhältnisse, Gefahr-stoffe usw.).
Hinzu kommen im Berufsalltag, z. B. als Solist, im Chor oder im Orchester erhebli-che psychomentale Belastungen wie Auftritts-, Zeit- und Reisestress, Existenzsorgen und familien- bzw. partnerschaftsfeindliche Arbeitszeiten. Auch soziale Problemstellun-gen spielen eine wichtige Rolle: horizontale und vertikale Konflikte im Ensemble, Mobbing, steigendes Durchschnittsalter, eine überdurchschnittliche Häufung von Alkohol-, Medikamenten- und Drogenabhängigkeit sowie Beschäftigte mit geminderter Leistungsfähigkeit aufgrund chronischer Erkrankungen oder besonderer körperlicher Beeinträchtigung.
Medizinische Probleme bei Musikern wurden im Zuge der Entwicklung der Mu-sikermedizin zu einer medizinischen Subspezialität in Analogie zur Sportmedizin in den vergangenen Jahren eingehend identifiziert und bearbeitet. Eine der Sportmedizin entsprechende Zusatzbezeichnung „Musikermedizin“ existiert allerdings bislang nicht. Beratungsanliegen in musikermedizinischen Sprechstunden lassen sich naturgemäß allen medizinischen Fachdisziplinen zuordnen; am häufigsten sind Orthopädie, Neurologie, Psychologie/Psychiatrie, HNO und Ophthalmologie vertreten.
Auf eine Aufzählung oder Beschreibung typischer Krankheitsbilder soll hier verzichtet werden, sie sind zum Teil Gegenstand weiterer Beiträge dieses Hefts. Besonders das Thema Schallbelastung und Gehörprävention im Musikbetrieb genießt seit Einführung der Lärm- und Vibrationsarbeitsschutzverordnung breites fachliches und öffentliches Interesse und wurde in ASU bereits ausführlich thematisiert.
Den größten Anteil der Musiker-Patien-ten betreffen vorübergehende überlastungs-bedingte Störungen des Bewegungsapparats, die einer Behandlung mehr oder weniger zugänglich sind und den Idealtyp der arbeits-bedingten Erkrankung darstellen. An zwei-ter Stelle stehen tätigkeitsassoziierte neurologische und psychiatrische Probleme.
Berufskrankheiten im eigentlichen Sinne sind dagegen vergleichsweise selten (109 an-erkannte Fälle in einem Zeitraum von acht Jahren). Häufigste bei Musikern anerkannte Berufskrankheit ist die Lärmschwerhörigkeit (BK 2301), gefolgt von Nervenkompressionssyndromen (BK 2106), Sehnenerkrankungen (BK 2101) und chronischen Hauterkrankungen (BK 5101). Gelegentlich erfolgt auch eine Anerkennung der fokalen Dystonie behelfsweise als BK 2106 oder nach § 9 Abs. 2 SGB VII („Quasi-BK“).
Bedarf und Voraussetzungen
Das Musikleben in Deutschland ist breit gefächert und differenziert, und so sind die Möglichkeiten professioneller musikalischer Betätigung vielseitig. Arbeitnehmer der Branche treten z. B. als Bedienstete der 133 Theater- und Konzertorchester (etwa 10 000 Musiker), der 35 Orchester- und Musikkorps im Militär- und Polizeidienst, der öffentlich-rechtlichen und privaten Rund-funkanstalten, der rund 1600 Musikschulen, -hochschulen und -fachschulen sowie der kirchlichen Arbeitgeber (etwa 3400 hauptberufliche Kirchenmusiker in Voll- oder Teil-zeit) in Aktion. Etwa 46 000 Musiker sind im Bereich Klassische Musik freiberuflich tätig. Der Bereich Rock/Pop/Jazz beschäftigt rund eine Million haupt- oder nebenberuflich tätige Musiker, größtenteils als Freischaffende. Hinzu kommen Beschäftigte mit ver-gleichbaren Expositionen wie z. B. Instrumentenbauer, Musikveranstalter, DJs oder Tontechniker. Eine betriebsärztliche bzw. arbeitsmedizinische Betreuung kommt vor allem für Musiker infrage, die in einem Anstellungsverhältnis stehen. Die Versorgung erfolgt in absteigender Reihenfolge durch Be-triebsärzte des Öffentlichen Dienstes, überbetriebliche arbeitsmedizinische Dienste, angestellte oder externe Betriebsärzte.
Die Tätigkeit als Betriebsarzt für Musiker ist eine spannende und vielseitige Herausforderung, sofern man sich nicht auf das rou-tinemäßige Abarbeiten von Vorsorgeuntersuchungen beschränkt und den branchentypischen Besonderheiten Rechnung trägt. Diese sind gerade im künstlerischen Arbeits-umfeld ausgeprägt vorhanden und setzen besonderes Einfühlungsvermögen und fach-spezifische Kenntnisse, im Idealfall eigene musikalische Berufserfahrung, voraus. Eben-so wichtig sind die Bereitschaft zu intensiver Kooperation mit medizinischen und außermedizinischen Disziplinen und eingehende Kenntnisse der diagnostischen und therapeutischen Optionen musikerspezifischer Krankheitsbilder. Um eine kompetente Betreuung anzubieten und bei den Musikern die nötige Akzeptanz zu erreichen, sollte der „Betriebsarzt für Musiker“ Voraussetzungen erfüllen, die in der Info als Anforderungsprofil zusammengefasst sind.
Betriebsärztliche Betreuung
Die arbeitsmedizinische Grundbetreuung umfasst unter anderem die Beratung des Arbeitgebers bei der Gefährdungsbeurtei-lung, die aufgrund der Schwierigkeiten ins-besondere in der Frage der Schallexposition und geeigneter Schallschutzmaßnahmen in enger Zusammenarbeit mit der Sicherheitsfachkraft vorzunehmen ist. Regelmäßige Begehungen sollten neben Proben- und Auf-führungsstätten und Backstage-Bereichen auch den Orchestergraben unter realen Einsatzbedingungen nicht aussparen. Für Unerfahrene kann dies ein heilsamer Schock werden, der ungeahnte Belastungen sinnlich erfahrbar macht und schlagartig Verständnis für die manchmal hypersensibel erscheinende Klientel weckt.
Ein häufig wiederkehrendes Thema sind auch die Gefährdungsbeurteilung nach dem Mutterschutzgesetz und die daraus abzu-leitenden Organisations- bzw. Verhaltensempfehlungen. Zum Austausch in solchen Fragen und zur Aktualisierung branchenbezogener Informationen empfehlen wir dringend, sich der Sektion „Bühnen und Orchester“ des Berufsverbandes Deutscher Betriebs- und Werksärzte anzuschließen (siehe unten). In klinischen Fragestellungen sollte unbedingt Kontakt zu einer der zumeist an Musikhochschulen oder Uni-versitätskliniken angesiedelten musikermedizinischen Institutionen aufgenommen werden.
In der betriebsspezifischen Betreuung kommen als Maßnahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge vor allem die Gehörvorsorge (Angebotsvorsorge nach ArbMedVV, verpflichtend nach LVAV bei Expositionspegel ab 85 dB(A), Vorschlag: erweiterte G 20), ferner Angebotsvorsorge nach ArbmedVV für „Tätigkeiten mit wesentlich erhöhten körperlichen Belastungen, die mit Gesundheitsgefährdungen für das Muskel-Skelett-System verbunden sind“ (Vorschlag: G 46) und ggf. Vorsorgeangebote gemäß § 11 ArbSchG in Betracht. Letztere können beispielsweise Sehteste aufgrund der besonderen Sehanforderungen beim Notenlesen (Vorschlag: angepasste G 37), tonometrisches Screening für Bläser an Hochdruckinstrumenten oder kardiovaskuläres Screening bei entsprechend belastender Tätigkeit und Disposition beinhalten. Bei Fernreisen kann auch die Pflichtvorsorge nach ArbMedVV bei „Tätigkeiten in Tropen, Subtropen und sonstige Auslandsaufenthalte mit besonderen klimatischen Belastungen und Infektionsgefährdungen“ (Vorschlag: G 35) erforderlich werden.
Aus dem beschriebenen Belastungsspek-trum ergeben sich zudem Ansätze für Angebote der betrieblichen Gesundheitsförde-rung, die sich mit Unterstützung von Unfall-versicherungsträgern oder Krankenkassen selbst bei klammer Finanzlage realisieren las-sen. Informationsveranstaltungen, Gesundheitstage, Bewegungsangebote, Kommunikationsseminare oder ein Kinderbetreuungs-angebot sind nur einige Beispiele für erfolgreich durchgeführte Projekte.
Herausforderungen für die Arbeitsmedizin
Noch ist das Qualitätsniveau der arbeits-medizinischen Betreuung von Musikbetrieben hierzulande sehr unterschiedlich und leider nicht immer vorbildlich. Gründe hierfür sind vor allem auf Seiten der Arbeitsmedizin zu sehen: das Fehlen angemessener Versorgungsstandards, Unkenntnis der branchen- und berufstypischen Besonderheiten, mangelnde Erfahrung oder unzu-reichende Motivation. Komplementär finden sich bei Arbeitgebern und Beschäftigten oft fehlende Information über die Möglichkeiten und präventiven Chancen einer gezielten Gesundheitsberatung durch Be-triebsärzte, allgemeine Vorbehalte gegenüber Untersuchungen, Kontrollen und Auf-lagen und der Generalverdacht einer ungünstigen Kosten-/Nutzeneffizienz.
Als eine der vordringlichen Aufgaben erscheint daher die Erarbeitung von Leitlinien für die Betreuung von Musikern be-züglich qualitativer Standards sowie persönlicher und apparativer Anforderungen. Aktuelle Kooperationen und Initiativen seitens arbeitsmedizinischer Berufsverbände, Krankenkassen und Unfallversicherungsträger, des Deutschen Bühnenvereins als Arbeitgeberorganisation und der Deutschen Orchestervereinigung als Gewerkschaft an-gestellter Berufsmusiker lassen auf eine Ver-besserung der gesundheitlichen Situation für Musiker in absehbarer Zeit hoffen. So wurde zum Beispiel im Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte (VDBW) eine Sektion „Bühnen und Orchester“ gegründet, die allen offensteht, die in der arbeitsmedizinischen Betreuung von Bühnenbetrieben tätig sind. Ihr vorrangiges Ziel ist, durch Informationsbeschaffung, fachbezogene Fortbildung, interne Vernetzung und externe Kommunikation eine stetige Anhebung des Niveaus der arbeitsmedizinischen Betreu-ung von Musikern zu ermöglichen und außerdem zur Umsetzung und Weiterentwicklung konkreter Präventionsempfehlungen beizutragen.
Neben einer Optimierung der allgemei-nen und individuellen arbeitsmedizinischen Versorgung stehen übergeordnete Aufgaben, die dem Erkenntnisgewinn und der Sicherung der Umsetzung von Präventionsempfehlungen dienen. Hierunter ist an erster Stelle die Intensivierung arbeitswissenschaftlicher/ergonomischer Forschungsaktivitäten zu nennen. Diese sollte die weitere Identifikation von Risikofaktoren und Kausalzusammenhängen zwischen beruflicher Musikausübung und Erkrankungen, die Entwicklung von Methoden der Früherkennung und eine wissenschaftliche Aufarbeitung bestimmter Musikererkrankungen zur Erleichterung ihrer Anerkennung als Berufskrankheit (Beispiele: Fokale Dystonie, HWS-Degeneration bei hohen Streichern, Rhizarthrose bei Streichern) zum Ziel haben.
Zweitens bedarf es weiterer nationaler und internationaler Vernetzung von Kompetenzen in der Intention, gemeinsame lan-desübergreifende Ziele und Prioritäten im Abbau arbeitsbedingter Gesundheitsrisiken zu vereinbaren, epidemiologische und statistische Informationen zusammenzutragen und auf einheitliche Standards im BK-Anerkennungsverfahren hinzuwirken.
An dritter Stelle ist eine Intensivierung der Zusammenarbeit von Arbeitsmedizi-nern, musikermedizinischen Fachgesellschaften, gewerkschaftlichen Musikervertretungen, musikalischen Ausbildungsins-titutionen, Unfallversicherungsträgern und Krankenkassen anzustreben. Vereinzelt be-reits vorhandene, von solchen Kooperatio-nen getragene Projekte betrieblicher Gesundheitsförderung sollten beispielgebend als Best Practice kommuniziert werden und vergleichbaren Initiativen den Weg ebnen.
Die vorangehend empfohlenen Schritte können eine Ausgangsbasis für die Umsetzung und Weiterentwicklung von Präven-tionsansätzen und für wirksame Anstöße zu betrieblichen und überbetrieblichen Maßnahmen der Gesundheitsförderung für Berufsmusiker schaffen. Sie müssen flankiert werden von einer offenen, an Arbeitnehmer, Arbeitgeber und die Öffentlichkeit ge-richteten Kommunikation, um Vorurteile und realitätsfremde Erwartungen zu korrigieren und dem noch immer verbreiteten Bild vom Betriebsarzt, der ja „von Tuten und Blasen keine Ahnung“ hat, Substantielles entgegen-zusetzen.
Literatur
Blum J (Hrsg.): Medizinische Probleme bei Musikern. 1. Aufl. Stuttgart, New York: Thieme, 1995.
Böckelmann I: Arbeitsbedingte Belastungen und Erkrankungen von Musikern. Arbeitsmed Sozial-med Umweltmed 2009; 44: 237–242.
Fendel M: Gehörprävention für Musiker. Arbeits-med Sozialmed Umweltmed 2010; 45: 473–479.
Fendel M: Musiker. In: Letzel S, Nowak D (Hrsg.): Handbuch der Arbeitsmedizin. 21. Ergänzungslieferung Juni 2011. Landsberg: Ecomed, 2011.
Pangert R, Loock F: GUV-I 8626 – Musikermedizin, Musikerarbeitsplätze. Eine Einführung für Orchester-musiker, Musikpädagogen und Studenten. München: Bundesverband der Unfallkassen (Hrsg.), 2004.
Spahn C, Richter B, Altenmüller E (Hrsg.): MusikerMedizin – Diagnostik, Therapie und Prävention von musikerspezifischen Erkrankungen. 1. Aufl. Stuttgart: Schattauer, 2011.
Info
Anforderungsprofil eines Betriebsarztes für Musiker
- Vertrautheit mit musikerspezifischen Störungen und Krankheitsbildern
- Beherrschung arbeitsmedizinischer Untersuchungstechniken auf „Exzellenzniveau“
- Eingehende Kenntnis arbeitsergonomischer Gestaltungsmöglichkeiten von Musikerarbeitsplätzen: Bühne und Orchestergraben, bau- und raum-akustische Grundlagen, elektronisches Equipment, persönliche Schutz-maßnahmen
- Konkrete Vorstellungen über Organi-sationsabläufe im beruflichen Umfeld der Musiker: Dienst- und Probenplan-gestaltung, Reisetätigkeit, Mutter-schutz usw.
- Überblick über geeignete Verfahren zur Selbsthilfe (u. a. Entspannungs-techniken, Embodiment, Bewältigung von Auftrittsangst) und der individuel-len Prävention (gezielte Trainingsmöglichkeiten, Bewegungsschulung, Übeverhalten, Lifestyle-Management)
- Einblick, Einfühlungsvermögen und möglichst eigene Erfahrungen in der Welt künstlerischen Schaffens mit ihren eigenen Gesetzlichkeiten und Empfindlichkeiten
- Besondere kommunikative Fähigkeiten und Basiskompetenz zur Erkennung und gezielten Bearbeitung psychosozialer Konflikte auf individueller und betrieblicher Ebene.
Autor
Dr. med. Martin Fendel
Peter-Ostwald-Institut für Musiker-gesundheit, HfMT Köln
Unter Krahnenbäumen 82
50668 Köln