Gesellschaftliches Spannungsfeld
Die Schlagworte „demografischer Wandel“, „technisch-ökonomische Entwicklung“ und „gesellschaftlicher Wertewandel“ beschreiben die derzeitige spannungsreiche Situation in Wirtschaft und Gesellschaft. Das Gefühl, in einer Zeit der Umbrüche zu leben, wird verstärkt durch besorgniserregende politische Entwicklungen in vielen Ländern.
Der Begriff Industrie 4.0 hat eine breite öffentliche Diskussion in Gang gesetzt. Die industrielle Produktion soll mit moderner Informations- und Kommunikationstechnik verzahnt werden. Technische Grundlage hierfür sind intelligente und digital vernetzte Systeme. Viele sehen darin eine vierte industrielle Revolution mit allen Chancen und Risiken.
Was von der Bundesregierung und von vielen Wissenschaftlern als notwendiger Schritt zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit in einer globalisierten Welt angesehen wird, macht vielen Beschäftigten Angst. Sie befürchten, dass sich Arbeit noch mehr als schon jetzt verdichtet, sie den Anforderungen nicht mehr gewachsen sind und sie letztendlich durch einen zunehmenden Automatisierungsprozess überflüssig werden. Nicht nur gering qualifizierte Mitarbeiter sind von diesem Prozess in besonderer Weise betroffen, sondern auch Beschäftigte in Verwaltung und Produktion.
Der Hamburger Ökonom Thomas Straubhaar schlägt radikale Lösungen vor. Unser Sozialsystem sei am Ende, reformieren lasse es sich nicht. Aber revolutionieren: Das bedingungslose Grundeinkommen für alle Menschen, vom Säugling bis zum Greis, ermögliche eine gerechte, liberale und effektive Anpassung des Sozialstaats an die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Es sei auf die Lebenswirklichkeit der Zukunft ausgerichtet und halte nicht an einer Vergangenheit fest, die es schon lange nicht mehr gebe. Somit sei nicht das Grundeinkommen, sondern der Verzicht auf ein Grundeinkommen eine riskante Politik, die scheitern werde, so Straubhaar in seinem viel beachteten Buch „radikal gerecht“.
Die Deutsche Rentenversicherung
Das vorliegende ASU-Heft beschäftigt sich mit der aktuellen Rolle der Deutschen Rentenversicherung. Die Invaliditäts- und Altersversicherung wurde 1889 als letzte Regelung Otto von Bismarcks nach der Einführung der Krankenversicherung (1883) und der Unfallversicherung (1884) eingeführt und sah eine Altersrente ab dem 70. Lebensjahr vor (bei einer wesentlich geringeren Lebenserwartung als heute) sowie eine Invalidenrente bei Erwerbsunfähigkeit. Voraussetzung für die Altersrente waren mindestens 30 Jahre Beitragszahlung (mit der damals üblichen 60-Stunden-Woche). Über fast 130 Jahre hinweg sind in Anpassung an die verschiedenen zeitlichen Gegebenheiten viele Änderungen erfolgt. Heute sind die Aufgaben der Rentenversicherung in SGB VI und IX festgelegt.
Neue gesetzliche Regelungen
Die Bundesregierung geht innovative Wege, um das Leistungsangebot der Rentenversicherungsträger an die derzeitigen Erfordernisse anzupassen und den Erhalt der Arbeitsfähigkeit zu fördern. Sie hat neue Gesetze erlassen und fordert alle Sozialleistungsträger zur innovativen Ausgestaltung ihrer Angebote auf.
Für die Träger der Rentenversicherung erfolgt mit diesen Änderungen ein grundlegender Paradigmenwechsel: Rehabilitationsleistungen sind nicht mehr eine wichtige Säule der gesundheitlichen Versorgung, sondern durch die zunehmende Verzahnung ein unverzichtbarer Bestandteil der Arbeitswelt. Als weiterer Paradigmenwechsel wird jetzt das aktive Zugehen auf die Versicherten und deren Ärzte sowie auf die Arbeitgeber gefordert, damit die richtigen Maßnahmen zum richtigen Zeitpunkt eingeleitet werden.
Präventionsgesetz
Das am 18.06.2015 vom Bundestag verabschiedete und am 25.07.2015 in Kraft getretene Präventionsgesetz (PrävG) eröffnet neue Möglichkeiten der Beratung und Untersuchung im Betrieb sowie der engeren Verzahnung von präventiver und kurativer Medizin. Das Gesetz setzt auf die zielgerichtete Zusammenarbeit der Akteure in Prävention und Gesundheitsförderung.
Vergaberechtsmodernisierungsgesetz
Das Vergaberecht zur Beschaffung von Rehabilitationsleistungen durch die Träger der Rentenversicherung wird durch das am 17.02.2016 beschlossene und am 18.04.2016 in Kraft getretene Vergaberechtsmodernisierungsgesetz (VergRMedG) neu geregelt. Zukünftig ist ein zweistufiges Reha-Vergabeverfahren erforderlich. Die Zulassung von Einrichtungen zur Leistungserbringung muss auf der Grundlage transparenter Kriterien im Wege eines offenen Ausschreibungsverfahrens stattfinden, die Auswahl einer Einrichtung für den Einzelfall anhand von sachbezogenen Kriterien wie beispielsweise der Qualität der Einrichtung oder dem berechtigten Wunsch des Versicherten erfolgen. Die Rentenversicherungsträger sind aufgefordert, sich zukünftig gemeinsam und einheitlich zu positionieren.
Flexirentengesetz
Das Gesetz zur Flexibilisierung des Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand und zur Stärkung von Prävention und Rehabilitation im Erwerbsleben (Flexirentengesetz – FlexiG) vom 08.12.2016, gültig in Teilen ab 01.01.2017, hilft, den Übergang vom Erwerbsleben in die Rente selbstbestimmter zu gestalten. Ende 2014 gab es nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung und der Bundesagentur für Arbeit über eine Million Menschen, die sich trotz ihres Rentenalters entschieden haben, weiterzuarbeiten. Es gibt aber auch Menschen, die nicht bis zur Regelaltersgrenze berufstätig bleiben können – selbst wenn sie es wollten. Für alle ist es deshalb wichtig, den Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand individuell gestalten zu können. Neu ist, dass Teilrente und Hinzuverdienst flexibel und individuell miteinander kombinierbar sind.
Mit dem FlexiG werden die Prävention und die Rehabilitation gestärkt: Durch Artikel 1 werden Änderungen des SGB VI beschlossen. Jetzt gestalten §§ 14–17 SGB VI die Leistungen zur Prävention, Kinderrehabilitation und Nachsorge als Pflichtleistungen aus, um die Gesundheit und die Erwerbsfähigkeit der Versicherten und ihrer Kinder und damit auch ihren Verbleib oder ihren Eintritt in das Erwerbsleben zu sichern.
Änderungen des SGB VI
Präventionsleistungen wurden bislang vorzugsweise durch Krankenkassen und Unfallkassen angeboten. Entsprechend § 14 (1) SGB VI sollen Leistungen zur Prävention jetzt bereits bei ersten gesundheitlichen Beeinträchtigungen erbracht werden. § 14 (3) verpflichtet die Träger der Rentenversicherung, sich mit den Leistungen nach Absatz 1 an der nationalen Präventionsstrategie nach den §§ 20d bis 20g des Fünften Buches zu beteiligen. Sie sollen darauf hinwirken, dass die Einführung einer freiwilligen, individuellen, berufsbezogenen Gesundheitsvorsorge für Versicherte ab Vollendung des 45. Lebensjahres trägerübergreifend in Modellprojekten erprobt wird.
In § 17 (1) SGB VI werden nachgehende Leistungen von den Rentenversicherungsträgern im Anschluss an eine von ihnen erbrachte Leistung zur Teilhabe erwartet, wenn diese erforderlich sind, um den Erfolg der vorangegangenen Leistung zur Teilhabe zu sichern (Leistungen zur Nachsorge). Die Leistungen zur Nachsorge können zeitlich begrenzt werden.
In § 31 SGB VI verbleiben nur noch Leistungen, die durch die §§ 14–17 nicht geregelt sind, wie beispielsweise onkologische Rehabilitationsleistungen oder Zuwendungen für Einrichtungen, die auf dem Gebiet der Rehabilitation forschen oder diese fördern.
Die Umsetzungsrichtlinien werden von der Deutschen Rentenversicherung Bund im Benehmen mit dem BMAS erlassen. Ein neuer Leitfaden der deutschen Rentenversicherung regelt frühzeitige medizinische und multiprofessionelle Interventionen bei verhaltens- und lebensstilbedingten Gesundheitsstörungen. Angesprochen werden ausschließlich Versicherte in einem Anstellungsverhältnis.
Bundesteilhabegesetz
Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) vom 23.12.2016 tritt zum 01.01.2018 in Kraft. Es will mit einer Reform des Systems der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen (§ 54 SGB 12) die soziale Teilhabe betroffener Personen verbessern. Ziel ist, dass Leistungen der Sozialhilfeträger besser gebündelt und Zuständigkeitskonflikte vermieden werden, um die Integration behinderter Menschen in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu verbessern.
Firmenservice der Deutschen Rentenversicherung Bund
Auswirkung der neuen Gesetzgebung sind neue innovative Angebote der DRV in der Prävention im Betrieb einschließlich eines umfassenden Beratungsangebots. Vorgestellt werden in diesem Heft Angebote der Deutschen Rentenversicherung mit dem neu implementierten Firmenservice. Die Präventionsleistungen richten sich besonders an Menschen in Betrieben, die noch nicht krank sind, aber bei denen ein hohes Krankheitsrisiko besteht, die beispielsweise besonderen beruflichen Belastungen oder Gefährdungen ausgesetzt sind und ein bereits erkennbares persönliches Risikoprofil haben.
Die Angebote beziehen sich auf zwei Bereiche:
- die Altersvorsorge und das Wissen darüber sowie
- die Maßnahmen der individuellen Prävention und Rehabilitation sowie des betrieblichen Gesundheits- und Eingliederungsmanagements.
Autorin
Dr. med. Jutta Kindel
Ärztin für Innere Medizin/Arbeitsmedizin
Certified Disability Management Professionell (CDMP)
Berner Weg 16 d
22393 Hamburg