Ein Mittwochmorgen:
- 9 Uhr: Ein Mitarbeiter klagt über Mobbing im Lager; er kann nicht mehr.
- 10 Uhr: Eine Führungskraft schildert ihr stetiges Bemühen, einen Streit zwischen Mitarbeitern zu schlichten; die Personal-abteilung hat gesagt, er solle doch mal mit mir – dem internen Berater für Mitarbeiter und Führungskräfte – darüber sprechen.
- 11 Uhr: Eine Mitarbeiterin aus der Verwaltung klagt über Schlafstörungen; außerdem hatte sie Zeit, da ein Termin kurzfristig abgesagt wurde.
- 12 Uhr: Eine Verkaufskraft schildert ihr Problem, Kindern, Mann und Beruf ge-recht zu werden; ihre Kollegin hat ihr den Tipp gegeben, mal mit mir zu sprechen.
Was verbindet diese Menschen, diese unterschiedlichen Anlässe für ein Gespräch?
Diese Menschen „haben Stress“ und äußern ihn in meiner Stress-Sprechstunde. Wie sich das „Stress haben“ für diese Menschen ausdrückt, ist jedoch sehr unterschiedlich. Die Symptome reichen von Antriebslosigkeit und Niedergeschlagenheit über Nervosität und dauerhafte Anspannung bis hin zur Schlafstörung. Kompensationsverhalten ist zu beobachten, ebenso bunt gemischte Beschwerden, vermeintliche Symptome von Erkrankungen. Und das sind jetzt nur die Beispiele eines Mittwochmorgens.
Gemeinsam ist diesen Menschen das Empfinden, dass sie etwas nur schwer oder gar nicht bewältigen können und unter den negativen Folgen leiden. Mehr braucht es für mich als Grundlage eines Gesprächs auch nicht.
Eine Diagnose wäre in diesem Moment, wenn überhaupt möglich, eher hinderlich. Sie wäre eine Kategorisierung, eine Schublade, in die viele nicht gesteckt werden wol-len, die viele abschreckt. Die Verbindung in der obigen Aufzählung ist also keine Erkran-kung, sondern eine „gefühlte Überforderung“, die in der Stress-Sprechstunde vorbehaltlos geäußert werden darf.
Welches Vorgehen wählen wir in der Stress-Sprechstunde?
Die Stress-Sprechstunde ist ein offenes An-gebot, das bedarfsabhängig, aber mindestens einmal im Monat vor Ort in den Regionalzentralen unseres Unternehmens allen Mitarbeitern zur Verfügung gestellt wird. Es ist wichtig, mindestens einmal im Moment vor Ort zu sein, um eine Sichtbarkeit des Themas und damit langfristig Normalität zu gewährleisten. Hierbei können Termine auch im Vorfeld schon fest ausgemacht werden. Es ist aber genauso wichtig, durch eine „offene Tür“ Ansprechbarkeit zu suggerieren. Beides sollte möglichst in einem sinnvollen Verhältnis stehen, bei einer fünfstündigen Anwesenheit versuche ich beispielsweise mindestens für eine Stunde, die Tür geöffnet zu lassen.
Mitarbeiter kommen in der Stress-Sprech-stunde häufig mit einem bestimmten Anlie-gen zu uns. Das können wir innerhalb von ein bis fünf Stunden in Form von psychologi-scher Beratung und/oder Coaching bearbei-ten. In Ausnahmesituationen, beispielsweise auf Bitte der Personalabteilung, begleiten wir Mitarbeiter auch länger. Ausdrücklich sei hierbei darauf hingewiesen, dass die Stress-Sprechstunde als eine Präventionsintervention wahrzunehmen ist, eine Psychotherapie findet hier nicht statt. Falls Mitarbeiter zu uns kommen, die einer klassisch psychotherapeutischen oder einer psychiatrischen Inter-vention bedürfen, verstehen wir unseren Auf-trag so, dass wir dafür sorgen, dass andere Institutionen diese Aufgabe möglichst schnell wahrnehmen können.
Welche Anliegen führen die Mitarbeiter und Führungskräfte in die Stress-Sprechstunde?
Die Anliegen sind sehr unterschiedlich und reichen von rein privaten Themen (Trennung, Probleme mit den Kindern, finanzielle Probleme) über Mischthemen (Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben, Umgang mit Krankheiten, Sucht) bis zu rein beruflichen Themen (Mobbing, schlechte Führung, un-motivierte Kollegen/Mitarbeiter, Angst vor Jobverlust). In einem durchschnittlichen Unternehmen halten sich diese drei Themen-bereiche die Waage. Je besser ein Unternehmen funktioniert, umso mehr dominieren private Themen die Beratung. Allerdings ist diese Unterscheidung nur zu Beginn einer Belastung gegeben, da der Mitarbeiter die Belastungen aus der Arbeit, so er sie nicht abbaut, mit in sein privates Umfeld trägt und umgekehrt. Negative Stressfolgen hat niemand allein, der ein soziales Umfeld besitzt. Der Stress des Einzelnen kann so leicht zum Stressor auch für andere werden, wenn keine sinnvolle Intervention erfolgt.
In der Stress-Sprechstunde treten deswe-gen auch ganze Stress-Systeme zu Tage, in die viele Menschen verwickelt sind, die sich über Jahre gebildet haben und die wie ein gordischer Knoten erscheinen. Diese dysfunktionalen Systeme, die oft das berufliche und private Umfeld gleichmäßig kennzeichnen, zu verändern ist nicht einfach, hierfür bedarf es viel Energie und Zeit. Hier reichen die Interventionsmöglichkeiten der Stress-Sprechstunde häufig nicht aus. Deswegen sollte es im Sinne des Unternehmens wie des Mitarbeiters sein, dass negative Stress-Auswirkungen möglichst früh entgegengetreten wird.
Welche Grundsätze gelten für den Berater/Coach in der Stress-Sprechstunde?
Der Berater ist Dreh- und Angelpunkt der Be-ratung – sollte man meinen. Ist er aber nicht. Der Dreh- und Angelpunkt in der Beratung ist der Mitarbeiter. Eine Lösung für seine Probleme, für das, was ihm Stress macht, liegt in ihm, nicht im Berater. Im besten Fall hat der Berater genau diese Haltung gegen-über dem Mitarbeiter, zusätzlich ein sicheres methodisches Vorgehen und die Fähigkeit, eine positive Beziehung zwischen Berater und Mitarbeiter aufzubauen, sich also auf den Mitarbeiter einzulassen.
Es ist nicht die Aufgabe des Mitarbeiters, sich auf den Berater einzulassen, hierum muss sich in erster Linie der Berater kümmern. Störend in der Phase des Beziehungsaufbaus sind schnelle, voreilige Ratschläge wie „Treiben Sie mal mehr Sport und lassen Sie den Alkohol weg“, auch wenn diese me-dizinisch betrachtet durchaus Sinn ergeben können. Dadurch werden wir der Qualität des Problems des Mitarbeiters nicht gerecht. Es kann ja nicht sein, dass eine Lösung so einfach ist, wenn der Mitarbeiter selbst das Problem schon ewig bearbeitet. Durch ein solches Vorgehen fühlen sich Mitarbeiter mit langer „Leidensgeschichte“ gerne vor den Kopf gestoßen und nicht ausreichend wertgeschätzt, um die Lösung anzunehmen. Bes-ser ist es, sie ihn später selbst entwickeln zu lassen.
Die Beziehungsgestaltung zwischen Be-rater und Mitarbeiter steht am Anfang im Fokus der Interaktion, gepaart mit einer sinnvollen Auftragsklärung. Diese ankert in der Frage: Wozu / wofür sind Sie hier? Diese Frage wird hierbei bewusst benutzt, um den Bezug zum Effekt des eigenen Verhaltens herzustellen. Die Auswirkungen des eigenen Tuns sind entscheidend, nicht die Herleitung des Verhaltens aus der Vergangenheit, was häufig scheinbar linear und kausal erfolgt. Hierher würde die Frage nach dem Warum führen und damit die scheinbare Unausweichlichkeit der Situation unterstützen.
Grundsätzlich ist es wichtig, dass der Berater / Coach als von den betrieblichen Institutionen (Personalabteilung, Betriebsrat, Geschäftsführung etc.) unabhängiger Ansprechpartner wahrgenommen wird und keinerlei direkter Berichtspflicht unterliegt. Wir arbeiten bei allen unseren Kunden mit einer absoluten Schweigepflicht über Inhalte und Beteiligte der Beratungen. Wir informie-ren den Arbeitgeber z. B. nur, ob Beratungen stattgefunden haben und bewerten einmal jährlich die Anlässe grob in Kategorien wie Mobbing, familiäre Belastungen, Belastung aus Krankheiten, Führungsthemen etc. Zu den Kategorien geben wir unsere detaillierte Einschätzung, damit das Unternehmen dar-aus für das folgende Jahr spezifische Maßnahmen zur Minimierung von Gefährdungen ableiten kann
Ein Studium der Psychologie, Medizin oder Sozialpädagogik ist als Grundlage für den Einsatz als Berater / Coach wünschenswert, zumal dann eine Kompetenzzuweisung durch den Mitarbeiter leichter stattfindet. Hinzukommen sollte eine sinnvolle Zusatzausbildung, in der Interventionstechniken wie die dazugehörige Haltung vermittelt werden, beispielsweise eine hypnosystemische Zusatzausbildung.
Wie sieht ein typischer Ablauf der Beratung in der Stress-Sprechstunde aus?
Unser Ansatz beruht auf Inhalten der klassischen systemischen Beratung nach Steve de Shazer, Insoo Kim Berg und anderen sowie der hypnosystemischen Weiterentwicklung nach Milton Erickson und Gunther Schmidt und anderen.
Hierbei ist es schon zu Beginn wichtig, den Mitarbeitern viel Raum zu geben, „ihren Stress“ zu schildern, ihre Probleme sowie deren Auswirkungen zu beschreiben. Die meisten fühlen sich danach – zumindest kurzfristig – befreit und atmen auch sichtbar durch. Wenn ich dies beobachte, öffne ich, sofern es Witterung und Räumlichkeiten ermöglichen, das Fenster und sorge so für eine „Atempause“.
Im Anschluss wertzuschätzen, dass die Mitarbeiter immer „aufs Neue“, Tag um Tag, enorme Anstrengungen aufbringen, um die für sie als Problem wahrgenommene Situa-tion zu bewältigen, zeigt sich als sehr wertvoll. Diese dauerhafte Anstrengung in Verbindung mit subjektiv wahrgenommenem Scheitern hierbei ist in meiner Erfahrung der wesentliche Faktor, wenn es um die Ent-stehung von „Ich habe Stress“ – also um die negativen Stressfolgen – geht. Hier für diese Anstrengung Wertschätzung, „Pacing“, einzusetzen, ist sehr wirksam, der Mitarbeiter fühlt sich verstanden; er entwickelt einen positiven Bezug zum Berater wie auch zu sich selbst.
Außerdem versuche ich, einen inhaltlichen Akzent zu setzen; es wird „Aufklärung“ betrieben, um Stress aus der Ecke des zivilisatorischen Übels und des Krankmachers zu befreien. Das kann die Erwartungen des Mitarbeiters durchaus enttäuschen. Das vorrangige Ziel hierbei ist jedoch, den Klagemodus zu unterbrechen und herauszuarbeiten, dass unser Stress-System für Überleben und Krankheit, für Erfolge wie Misserfolge verantwortlich ist und wir mit ihm arbeiten können.
Um das gerade für Menschen, die ihre Situation hartnäckig für nicht veränderbar halten, plastisch zu machen, wird situativ die klassische systemische Verschlimmerungsfrage gestellt: „Was können Sie dafür tun, dass Sie noch mehr Stress haben?“ Alles, was wir verschlechtern können, können wir auch verbessern, denn es ist veränderbar!
Ein weiterer wichtiger Part in der Stressberatung ist die Ressourcenorientierung, in anderen Kontexten auch „Ressourcenarbeit“ oder die „Suche nach Kraftquellen“ genannt. Sie orientiert sich beispielsweise an Fragen wie: „Was tut Ihnen gut? Was funktioniert gut? Wovon sollten Sie mehr machen, um Ihre Ziele zu erreichen?“ Ziel hierbei ist natürlich immer die Verstärkung funktionierenden Verhaltens und Verhaltensmodifikation durch Reflexion in diese Richtung. Diese Ressourcenorientierung ist immens wichtig, denn nur, wenn wir gut von uns denken, sind wir komplett handlungsfähig (Roy F. Baumeister in Gollwitzer/Bargh: Motivation of Action). Deswegen stellen wir auch sehr verrückte Sachen an, wir kaufen teure Autos, steigen auf hohe Berge, werten andere ab, um gut von uns denken zu können und Egobedrohungen auszuweichen. Dem muss auch in der Inter-aktion mit den Mitarbeitern Rechnung getragen werden.
Additiv / alternativ ist es ebenfalls möglich, über positive Ausnahmen im bisherigen negativen Verhaltensmuster (Insoo Kim Berg) Unterschiede zu definieren, die es zu verstärken gilt, um so eine Verhaltensmodifikation zu erreichen. Eine weitere, sehr gute Alternative ist die Bildarbeit über ein Worst-case- und ein Best-case-Szenario, um daraus dann Verhaltensveränderungen abzuleiten. Gerade bei kognitiv wie verbal begabten Menschen bietet sich dies häufig an. Hier gilt wirklich: Viele Wege führen nach Rom, solange der Mitarbeiter sie denn gehen möchte.
Ziel der Coachings und Beratungen in der Stress-Sprechstunde ist also, die Mitarbeiter dazu zu befähigen, ihre Probleme weitgehend selbst zu lösen. Es geht darum, sie zu ermuntern, in sich zu vertrauen und sie dabei hilfreich zu unterstützen, um so negative Stressfolgen zu minimieren und die Mitarbeiter in ihrer Selbstkompetenz zu stärken.
Welches Modell von Stress wird hierbei in der Stress-Sprechstunde benutzt?
Evolutionspsychologisch betrachtet ermöglicht Stress eine Adaption an Reize aus der Umgebung, was uns als Spezies eine gute Überlebensmöglichkeit generiert hat. Ich nutze hierbei ein Bild: ein Mammut umgeben von Cro-Magnon-Menschen, um die Funktion unseres Stress-Systems als Problemlöser zu erklären, der leider ein bisschen in die Jahre gekommen ist. Und auch heute noch verdanken wir unsere Leistungen einem funktionierenden Stresssystem, das uns die kleinen und großen Herausforderungen unseres Lebens bewältigen lässt. Leider sind diese Herausforderungen aber eben keine kurzfristig auftretenden Mammuts mehr, sondern manchmal dauerhaft auftretende Reize, im schlimmsten Fall langfristig negative Lebensumstände (z. B. Mobbing). Aus diesem Mismatch aus Reiz, Reaktion und Moderne resultieren die negativen Stressfolgen, die häufig unter „Ich habe Stress“ resümiert werden (Davison Neale). Und damit bekommt unser Stresssystem eine negative Konnotation, die nicht lösungsorientiert, sondern eine Schublade ist. Die Verbindung von Reiz (Stressor) und Reaktion (z. B. Aggression) erscheint linear und kausal, so wird dann beispielsweise die Schlaflosigkeit eine direkte Folge von „zu viel Arbeit“. Als einfachste Veränderung wird durch die Betroffenen die Reiz-(Stressoren-)Verminderung als mögliche Lösung wahrgenommen. Klinisch betrachtet ist dieses „sich selbst in Watte packen“ aber mit Vorsicht zu sehen, da Menschen mit Angst- oder Zwangsstörungen genau dieses Verhalten kultiviert haben (Davison Neale).
Außerdem liegt zwischen Reiz und Re-aktion mit dem Gehirn ein recht autono-mes Nervensystem, das verschiedene Verhaltensmöglichkeiten kennt und ansteuern kann. Sicherlich erhalten wir durch unser Stresssystem eine Einladung, um auf Reize (Stressoren) beispielsweise aggressiv zu reagieren – allerdings ist es nur eine Einladung. Diese können wir annehmen oder ausschlagen, je häufiger wir jedoch eine Re-aktion zeigen, umso lieber und schneller wird unser Gehirn diese wieder benutzen.
Die Verursachung dieser Verhaltensmus-ter, die Stressfolgen, lassen sich auch neuro-endokrin darstellen. Ein Zuviel an Adrena-lin, ein Zuviel an Cortisol ist hierbei in den Stressphasen beobachtbar, auch wenn beide Neurotransmitter tageszeitlichen Schwankungen unterworfen sind. Dopamin und Oxytocin werden wiederum bei Menschen mit negativen Stressauswirkungen häufig weniger gebildet (Walton).
Hier zeigt sich die Nähe zur Depression, in die ein Burn- oder Bore-out-Prozess füh-ren kann. Und genau hier knüpft auch die klassische Resourcenorientierung, das Suchen nach Kraftquellen an, die Teil jedes guten Coachings sein sollte. Die Resourcen-orientierung ist die Suche und Nutzbar-machung der körpereigenen Dopamin- und Ocytocinquellen, damit wir uns wieder besser fühlen. Unter anderem darin begründet sich auch die Grundannahme, dass die Lösung eines Problems im Mitarbeiter selbst zu finden ist. Der Berater / Coach ist also, um es mit Gunther Schmidt zu sagen, ein „Realitätenkellner“ oder Geburtshelfer für eigene Lösungen.
Welche Beweggründe können Unternehmen motivieren, eine Stress-Sprechstunde einzurichten?
„Stress haben“ wird oft mit zu viel Arbeit as-soziiert. Ein Zuviel an Arbeit kann aber auch die beste Stressberatung nicht wegschaffen. Noch dazu kostet die Stress-Sprechstunde Geld und hält die Mitarbeiter von der Arbeit ab. Bei Auftragsgesprächen freuen wir uns fast schon, wenn uns diese Argumentation begegnet.
Denn ja, die Stress-Sprechstunde ist eine Investition, eine Investition in die Mitarbeiter. Und wie bei Investitionen üblich, sollte es auch einen „Return of Invest“ geben, der zum einen sichtbar als Kundenfeedback vorhanden sein sollte und zum anderen auch wissenschaftlich evaluiert wurde. Hieran sollte unser Berufsstand sich messen lassen und dies auch ernst nehmen. Es ist der Kompass für unser Tun. Ich vergleiche hier die psychosozialen Interventionen gerne mit medizinischen Eingriffen, die ja ebenfalls eine Akzeptanz beim Patienten wie eine wissenschaftlich belegte positive Wirkung über den Plazeboeffekt hinaus haben müssen, um als wirksam zu gelten.
In diesem Zusammenhang stellt die Burn-out-Prävention, das Aufhalten des Burn-out-Prozesses, bevor dieser in eine Depression führt, einen großen Anreiz dar, da ein verhinderter Totalausfall eines Mitarbeiters schon die Kosten für viele Stunden Stress-Sprechstunde deckt. Dieser monetäre Ansatz als Begründung ist durchaus zielführend, sollte jedoch nicht allein Motivation sein, da die Effekte breiter gestreut sind.
Betrieblich beobachtbare Veränderungen, die durch die Stress-Sprechstunden erreicht werden können, sind hierbei sehr unterschiedlich. Dies reicht vom Rückgang offener Konflikte, über die bessere Potenzial-entwicklung der Mitarbeiter bis zur Verrin-gerung der Fluktuation. Um es klar zu sagen, die Stress-Sprechstunde hat auch die Funktion der Entlastung von Führungskräften und Personalabteilung des Kunden, so dass diese sich ihren Kernaufgaben widmen können. Enge Zusammenarbeit und Verzahnung sind hier wichtig, um Akzeptanz und Vertrauen in das gegenseitige Tun zu generieren und langfristig wirksam zu bleiben.
Hinweise zur Implementierung einer Stress-Sprechstunde
Oft entsteht eine Stress-Sprechstunde zah-len- oder fallbezogen, also als Reaktion auf Vorfälle im Unternehmen, wie zum Beispiel einer sprunghaft angestiegenen Krankheits-rate. Hierbei fungiert meist ein Arbeitsmedi-ziner als Türöffner für das Beratungsangebot der Stress-Sprechstunde, indem er auf den Zusammenhang zwischen negativen Stress-Auswirkungen und Krankheit (Diathese-Stress-Modell) hinweist und so die Stress-Sprechstunde (die psychosoziale Beratung) als Möglichkeit der Prävention hierbei vorstellt. Der Ort hierfür ist die ASA-Sitzung, dort kann über Ursachen und Interventions-möglichkeiten diskutiert werden, dort habe ich schon häufig unseren Ansatz der Beratung sowie andere Interventionsmöglichkeiten wie Workshops, GBVs, Vorträge vorgestellt. Auch werden in der ASA jährlich die Inhalte der Beratung (anonymisiert aus-gewertet) besprochen und bewertet. Zum einen sind sie ein gutes Stimmungsbarometer für die Kultur im Unternehmen, zum anderen lassen sich so auch andere Interventionen (z. B. Strukturveränderungen) ab-leiten. Ich verstehe unser Tun hierbei als Unterstützung der Arbeitsmedizin und arbeite gerne mit ihren Vertretern Hand in Hand. Häufig kommt es vor, dass Klienten von arbeitsmedizinischer Seite geraten wird, die Stress-Sprechstunde aufzusuchen und die Klienten dem dann auch gerne Folge leisten. Gleiches gilt übrigens auch umgekehrt, beispielsweise, um organische Ursachen für psychische Probleme auszuschließen. Dementsprechend wichtig ist der Kontakt zur Arbeitsmedizin wie auch zur Fachkraft für Arbeitssicherheit, mit der ich ähnlich zusammenarbeite.
Wichtig bei der Implementierung einer Stress-Sprechstunde in ein Unternehmen ist durchweg, dass den Mitarbeitern sowie Arbeitnehmervertretern deutlich gemacht wird, dass ein Besuch dort absolut sinnvoll und von jeder Seite goutiert wird. Dies bedeutet, dass gleichzeitig dieses Angebot Top-Down (von der Geschäftsführung zu den Führungskräften) wie Bottom-Up (vom Betriebsrat zu den Mitarbeitern) vorgestellt werden sollte. Bei Rewe haben wir nach Vorgesprächen hierzu zwei 1,5-stündige Vorträge gehalten (jeweils einen vor den Führungskräften und einen vor dem BR), die unser Verständnis von Stress sowie unsere Arbeitsweise den Zuhörenden näherbrachte. Mit Erfolg: Als Klienten dürfen wir nun Mitarbeiter und Führungskräfte be-grüßen.
Als zweiten Schritt haben wir im Jahr 2014 rund 300 ausgesuchte Mitarbeiter, die sog. Gesundheitsmultiplikatoren, geschult, um dieses Thema auch in die Peripherie des Unternehmens zu tragen. Für 2015 ist angedacht, nochmals mit den Führungskräften mittels Workshop das Thema abzurunden, um so den inneren Beobachter für die eigene Belastung und die Belastung eigener Mitarbeiter zu sensibilisieren. Die zentrale Frage wird sein: „Welche Signale gibt mir mein Körper und wie reagiere ich bei mir und anderen darauf?“ Ein Konzept sowie ein Ort für die Durchführung liegen vor, wir freuen uns auf die Umsetzung! Damit wäre die Implementierung ganzheitlich und abgeschlossen.
Wofür machen wir das? Welche Auswirkungen hat mein Handeln? Diese Fragen gilt es bei der Implementierung der Stress-Sprechstunde eben genauso zu beantworten wie bei der eigentlichen Stressberatung!
Literatur
Baumeister R: Self-regulation and ego threat: motivated cognition, self deception, and destructuve goal setting. In: Gollwitzer PM, Bargh JA (Hrsg.): The psychology of action: linking cognition and motivation to behavior, New York: The Guilford Press, 1996.
Baumgartner E: Der Nutzen betrieblicher Sozialarbeit. Eine KostenNutzenAnalyse in zwei Unternehmen. Reihe A Discussion Papers DSP 2003/02. Fachhochschule Solothurn Nordwestschweiz (FHSO), Olten 2003.
Davison GC, Neale JM: Klinische Psychologie; Stress, 6. Aufl. München: Beck, 2002, S. 228–224.
De Shazer S: Der Dreh. 11. dt. Ausg. Heidelberg, Carl Auer Verlag, 2010.
Lemos JC, Wanat MJ, Smith JS, Reyes BAS, Hollon NG, Van Bockstaele EJ, Chavkin C, Phillips PEM: Severe stress switches CRF action in the nucleus accumbens from appetitive to aversive. Nature 2012; 490: 402–406.
Schmidt G: Einführung in die hypnosystemische Therapie und Beratung. Heidelberg: Carl Auer Verlag, 2014.
Walton ME, Gan JO, Phillips PEM: The influence of dopamine in generating action from motivation. In: Mars RB, Sallet J, Rushworth MFS, Yeung N (eds.): Neural basis of motivational and cognitive control. Cambridge, MA: MIT Press, 2011.
Autor
Dipl.-Psych. Alexander Juli
Universität Konstanz
Bereich Mitarbeiter- und Führungskräfteberatung bei der BAD GmbH
Zaunmüllerweg 3, 82024 München