Schwerpunkt der vorliegenden Ausgabe wird das wichtige sozialmedizinische Thema „Langzeitarbeitslosigkeit und Gesundheit“ sein. Langzeitarbeitslosigkeit und Langzeitleistungsbezug sind zunächst Begriffe mit besonderer Bedeutung für die Bundesagentur für Arbeit (BA) mit ihren 156 Agenturen für Arbeit und für die Jobcenter als gemeinsame Einrichtungen oder als zugelassene kommunale Träger sowie für deren Kundinnen und Kunden. Einzelheiten zu den Begriffen werden in dieser Ausgabe von ASU erläutert. Es wird auch deutlich gemacht, dass eine Erwerbsperson im rechtlichen Sinn noch nicht immer dann arbeitslos ist, wenn sie gerade ohne Beschäftigung ist.
Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, gibt gemeinsam mit Theresa Unger und Johannes Klein-Heßling eine Einführung zu „Erwerbslosigkeit – eine Gefahr für die psychische Gesundheit“. Mit Betonung der Tatsache, dass erwerbslose Personen eine schlechtere psychische Gesundheit als berufstätige Menschen aufweisen, zeigt die psychotherapeutische Perspektive, dass es erfolgreiche Maßnahmen der Prävention, Gesundheitsversorgung und betrieblichen Wiedereingliederung für Menschen mit psychischen Erkrankungen gibt, die jedoch zukünftig noch stärker in die Fläche gebracht werden müssen.
Psychotherapeuten komme dabei eine wichtige Aufgabe zu. Zum „Henne-Ei-Problem“ wird zunächst die Frage beantwortet, warum psychische Erkrankungen bei Erwerbslosen überproportional häufig vorkommen, ob psychische Erkrankungen zu Erwerbslosigkeit führen oder die Erwerbslosigkeit selbst die psychische Erkrankung verursacht (Selektions- versus Kausalitätshypothese). Eine „Negativspirale“ wird veranschaulicht. Aber: Psychotherapeuten können da etwas tun, auch im Kontext von Arbeitsuche, Arbeitsaufnahme oder Arbeitserhalt, die mit einer Vielzahl von Herausforderungen und Problemen verknüpft sein können (krankheitsbedingte Motivationsprobleme, Antriebsschwäche und soziale Kontaktprobleme).
Drei relevante „Wirkbereiche“ von Psychotherapeuten zur psychischen Gesundheit von Erwerbslosen werden umfangreich beschrieben: Primärprävention psychischer Erkrankungen bei Arbeitslosen, Früherkennung und Behandlung bereits psychisch erkrankter Erwerbsloser, Unterstützung beim beruflichen Wiedereinstieg für psychisch Kranke. Auch auf ganz praktische Aspekte wie die aktuelle „Rechtslage“ zur besseren und schnelleren Erreichbarkeit von Psychotherapeuten wird eingegangen.
Unter dem Titel „Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit – die AloHA-Studie“ informieren Nicolas Rüsch et al. aus der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm am BKH Günzburg, Sektion Public Mental Health, über ihre wissenschaftliche und praktische Herangehensweise mit dem Ziel, herauszufinden, welche Faktoren bei psychisch Kranken Behandlungsteilnahme und Arbeitsuche fördern. Sie gehen davon aus, dass die große Mehrheit psychisch erkrankter Arbeitsloser nicht in adäquater psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung ist und die Behandlungsteilnahme somit noch niedriger als bei berufstätigen Menschen mit psychischen Erkrankungen liegt.
Ihre Studie mit Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft möchte zwei Hauptfragestellungen beantworten:
- „Welche Faktoren erleichtern oder erschweren Hilfesuche für psychische Erkrankungen und Arbeitsuche?“ (mit der Erwartung u. a., dass größere Furcht vor Stigmatisierung als “psychisch krank“ und geringeres Wissen über psychische Gesundheit und Behandlungsmöglichkeiten die Hilfesuche erschweren) und
- „Kann ein Gruppenprogramm, das die in Antwort auf Frage 1 identifizierten Faktoren einbezieht, für diese Zielgruppe Hilfesuche und Arbeitsuche verbessern?“
Das entwickelte Gruppenprogramm zur Unterstützung dieser Zielgruppe wird derzeit evaluiert. In beiden Studien wurde die Rekrutierung der Studienteilnehmer unterstützt durch den Ärztlichen Dienst und die Regionaldirektionen Bayern und Baden-Württemberg der BA, das Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg und das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration sowie vor Ort ermöglicht durch die Agenturen für Arbeit und Jobcenter und zugelassenen kommunalen Träger. Hilfesuche wurde erleichtert beispielsweise durch soziale Unterstützung und durch den Entschluss, das eigene Leben zu verändern; es scheint also in den Bereichen Wissen (z. B. über Medikamente), Stigma (unfaire Behandlung) und Strukturen des Gesundheitssystems aus Sicht Betroffener Verbesserungspotenzial zu geben.
Zwei weitere Beiträge des Heftes stammen aus der BA selbst. Friedhelm Siepe, als Geschäftsführer in der Zentrale u. a. zuständig für Themen mit Bezug zu Langzeitarbeitslosigkeit und zur Gesundheitsorientierung, holt unter dem gemeinsam mit Karina Pohl verfassten Beitrag „Auf dem Weg zur BA 2025 – Neuen Herausforderungen erfolgreich begegnen“ etwas weiter aus. Eine Antwort auf die großen aktuellen Herausforderungen ist die „Lebensbegleitende Berufsberatung“ mit Beratung für Menschen in allen beruflichen Lebenslagen. Jugendberufsagenturen können unter dem Motto „Keiner darf verloren gehen“ präventiv wirksam sein.
Die Verringerung der Langzeitarbeitslosigkeit wird als eine der drängendsten sozialpolitischen Herausforderungen unserer Zeit beschrieben mit bereits guten Erfolgen bei deren Reduzierung. Das Spektrum der relevanten Handlungsbedarfe langzeitarbeitsloser Menschen reicht von fehlender beruflicher Qualifikation oder eingeschränkter Mobilität über mangelnde Deutschkenntnisse, gesundheitliche Beeinträchtigungen bis hin zu nachteiligen individuellen Rahmenbedingungen (z. B. Wohnungslosigkeit). Für jeden einzelnen langzeitarbeitslosen Menschen ist eine individuelle und mitunter langfristige Strategie erforderlich. In einem Projekt der Bundesagentur für Arbeit mit dem Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung haben Empfehlungen zur besseren Verzahnung von Arbeits- und Gesundheitsförderung u. a. zu Angeboten der Krankenkassen geführt, die speziell auf die Lebenssituation von Arbeitslosen zugeschnitten sind.
Unter dem Titel „Langzeitarbeitslosigkeit und Gesundheit – Perspektive des Ärztlichen Dienstes der Bundesagentur für Arbeit“ wird durch den Leiter dieses Fachdienstes, Andreas Bahemann, von der fachlichen „Herkunft“ Arbeitsmediziner, jetzt mit umfassend sozialmedizinischer Perspektive diese auch auf begutachtungsrelevante Fragen mit Blick über den Tellerrand ergänzt. Betont wird am Ende, dass trotz möglicher schädlicher Einwirkungen auf dem Arbeitsweg und am Arbeitsplatz Erwerbsarbeit in Deutschland gesundheitsbezogen in allererster Linie als Chance und nicht als Gefährdung anzusehen ist.
Ein wissenschaftlicher Beitrag mit dem Titel: „Psychisch Kranke im SGB II: Zwischen Arbeitswunsch und Beratungswirklichkeit“ aus dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit im Rahmen der SGB-II-Wirkungsforschung von Uta Gühne, Steffi G. Riedel-Heller und Peter Kupka wird in dieser Ausgabe von ASU vorgestellt. Die Studie bestätigt die aus der Literatur bekannte Position, dass ein großer Teil der Betroffenen den Wunsch habe, erwerbstätig zu sein, und sich eine Erwerbstätigkeit auch zutraue.
Allerdings müssten bestimmte Bedingungen erfüllt sein, damit die Tätigkeit selbst oder die Arbeitsbedingungen nicht zu belastend werden und sich letztlich negativ auf den Gesundheitszustand auswirken. „Wohlmeinendes“ Verhalten, gestützt auf eine sequentielle Vorstellung (erst gesund werden, dann arbeiten) wird infrage gestellt und eine integrierte Sichtweise auf Arbeit und Gesundheit, die Erwerbstätigkeit als Teil des Genesungsprozesses begreift, als angemessen beschrieben. Auf eine dichotome Sichtweise, die nur zwischen den Zuständen „gesund“ und „krank“ unterscheidet, müsste verzichtet werden.
Wenn aktuelle Forschungsergebnisse belegen, dass in Deutschland knapp ein Drittel der Bevölkerung zwischen 18 und 79 Jahren im Verlauf eines Jahres an einer psychischen Störung erkrankt (Angststörungen noch häufiger als unipolare Depressionen), sind sehr viele Menschen von gravierenden Beeinträchtigungen psychosozialer Funktionen und einer beeinträchtigten Teilhabe in verschiedenen Lebensbereichen betroffen. Eine durch das IAB in Auftrag gegebene Vorgängerstudie verwies basierend auf Krankenkassendaten auf eine 12-Monats-Prävalenz psychischer Erkrankungen bei SGB-II-Leistungsempfängern („Hartz IV“) auf mehr als ein Drittel aller Versicherten.
Unter anderem nach Fallstudien in acht Jobcentern mit umfangreichen Dokumentenanalysen und leitfadengestützten qualitativen Interviews sowie Befragungen in Einrichtungen der psychosozialen Versorgung mit Einbeziehung der Betroffenen konnten wichtige Ergebnisse zum „Wunsch nach Arbeit aus Sicht der Betroffenen“ und damit verbundenen Problemen wie auch zur „Beratung in den Jobcentern“ abgeleitet werden. Handlungsempfehlungen werden vorgestellt.
Autor
Dr. med. Andreas Bahemann
Bundesagentur für Arbeit
Leiter des Ärztlichen Dienstes
Regensburger Str. 104
90478 Nürnberg