Epilepsie: nicht selten, aber sehr stigmatisiert
In der medizinischen Literatur ist beschrieben, dass etwa 10 % aller Menschen eine erhöhte Krampfbereitschaft haben, die sich teilweise im EEG nachweisen lässt. Wohl 4–5 % aller Menschen erleiden einmal oder wenige Male in ihrem Leben unter besonderen Einwirkungen einen epileptischen Anfall, der sich ohne entsprechende Umstände nicht wiederholt. Von derartigen Gelegenheitskrämpfen zu unterscheiden ist eine aktive Epilepsie, auch fortschreitendes Krampfleiden genannt. Darunter leiden in Deutschland 0,5–1 % der Bevölkerung. Wir haben hier also eine keineswegs seltene Erkrankung, eine Beeinträchtigung, die in aller Regel stigmatisiert wird.
Diese Krankheit im Arbeitsumfeld zu thematisieren, ist zum einen sehr schambesetzt und zum anderen bleibt immer die Furcht vor Arbeitsplatzkonsequenzen. Ein Arzt mit gelegentlichen Krampfanfällen, die während seiner Ambulanztätigkeit in einer großen Klinik auftraten, befindet sich nach Aussagen eines konsultierten Epileptologen ja am sichersten und bestmöglichen Ort für solch ein Geschehen. Seine Patienten und besonders seine Kollegen hatten für diese pragmatische Einschätzung wenig Verständnis. Ein Stationsarzt als Patient – welch groteske Zumutung! Hier gilt es, die Situation möglichst zu versachlichen: Eigen- und Fremdgefährdung sind im Rahmen einer individuellen Gefährdungsbeurteilung zu analysieren und der betreuende Betriebsarzt hat mit dem behandelnden Neurologen die Effizienz der Therapie-Einstellung zu klären sowie die Arbeitsfähigkeit zu beurteilen.
Netzwerk Epilepsie & Arbeit hilft weiter
Ab wann kann eine operativ tätige Ärztin nach Therapie-Einstellung wieder operieren? Kommt für einen Epileptiker eine Ausbildung in der Altenpflege mit später notwendigen Schichtdiensten in Frage? Kann ein therapeutisch gut eingestellter Jugendlicher eine Ausbildung als Mechatroniker beginnen? Wie muss sein Arbeitsplatz gestaltet sein? Sollte man bei einem nach Behandlung anfallsfreien OP-Pfleger nach einigen Jahren einen Therapie-Auslassversuch starten? Diese Fragen mussten bisher im informellen Kreis geklärt werden. Wie froh war ich, als ich 2010 hörte, dass sich ein Netzwerk Epilepsie & Arbeit (NEA) bildet. Regionale Fachteams in allen Bundesländern sollen sich mit Epilepsie im Arbeitsleben befassen und derartige Fragen fachkompetent und im Netz von Experten beantworten. Die Fachteams bestehen aus Neurologen, Arbeitsmedizinern, Arbeitssicherheitsexperten, Integrations- und Rehabilitationsberatern sowie Mitarbeitern anderer Epilepsie-Beratungsstellen. Das NEA-Fachteam nimmt auf Anfrage an einem „runden Tisch“ im Betrieb und an Arbeitsplatzbegehungen im Unternehmen teil. Ziel ist es, epilepsiebedingte Arbeitsunfälle zu vermeiden und den Arbeitsplatz zu erhalten.
Obwohl epilepsiekranke Menschen bei verlässlicher Anfallsfreiheit oder an risikoarmen Arbeitsplätzen häufig ohne Einschränkung arbeiten können, ist die Arbeitslosigkeit in dieser Personengruppe relativ hoch. Wie die Arbeitsmöglichkeit einzuschätzen sei, wird gegebenenfalls im Einzelfall durch den behandelnden Neurologen und den Betriebsarzt zu beurteilen sein. Das NEA-Fachteam kann dabei wertvolle Hilfe leisten.
Netzwerkbildung als BMAS-Projekt – wie geht es weiter?
Die Netzwerk-Bildung wurde als Projekt vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) sowie der Inneren Mission München von 2010–2013 gefördert. In drei aufeinander folgenden Workshops wurden die Netzwerkteilnehmer geschult, informiert und Kommunikationsstrukturen ausgebildet. Nach dreijähriger Projekt-Laufzeit haben sich in fast allen Bundesländern regionale Netzwerk-Strukturen mit einer zentralen Epilepsie-Beratungsstelle etablieren können. Regelmäßige Treffs zum weiteren Austausch stehen auf dem Programm. In der Projektlaufzeit wurden alle Aktivitäten von der Münchner Zentrale unter Leitung von Herrn Brodisch geplant und betreut. Der Erhalt dieser zentralen Stelle wäre für das Netzwerk wünschenswert, um die erreichten Ziele weiter zu entwickeln und das Netzwerk am Leben zu erhalten.
Die folgenden Beiträge sollen Ihnen die Netzwerk-Arbeit näher bringen und das Thema „Epilepsie und Arbeit“ vertiefen.
Weitere Infos
Informationen und der Weg zu Ihrem regionalen Netzwerk
Autorin
Dr. med. Ulrike Hein-Rusinek
Leitende Betriebsärztin im Gesundheitsmangement
REWE-Group
Domstraße 20 – 50668 Köln