Vorbemerkungen
Der Begriff „Globalisierung“ wird seit längerem in praktisch allen Bereichen für die zunehmenden Vernetzungen des menschlichen Zusammenlebens benutzt. Im Vordergrund stehen hierbei die wirtschaftlichen Verflechtungen, die über die Staatengrenzen hinweg beständig zunehmen.
Aber auch im Bereich der Gesundheit wird der Begriff „Globalisierung“ mittlerweile angewandt. Es besteht jedoch absolut kein Zweifel, dass es derzeit (und auch nicht in greifbarer Zukunft) keine wirkliche globale Gesundheit gibt. Allein das Gefälle der Lebenserwartung verschiedener Völker unterscheidet sich um Jahrzehnte. Wenn heute ein Kind in der industrialisierten Welt und – zum Vergleich – in einem kleinen Dorf in Afrika geboren wird, so ist die erreichbare Lebensspanne bzw. sind die Möglichkeiten, die sich dem Kind bieten, um ein gesundes Leben führen zu können, so unterschiedlich, dass es sich eigentlich verbieten muss, von einer globalen Gesundheit zu sprechen – von einer Chancengleichheit ganz zu schweigen.
Namentlich bei den Infektionskrankheiten stellt eine globalisierte Welt eine Herausforderung für die Öffentlichen Gesundheitsbehörden dar, da sich Infektionskrankheiten mit atemberaubender Geschwindigkeit über alle Erdteile ausdehnen können. Die erste Pandemie in diesem Jahrtausend, das Severe Acute Respiratory Syndrom (SARS), breitete sich in drei Tagen über die gesamte Nordhalbkugel aus – eine Erkrankung mit einer Letalitätsrate von 10% (Gottschalk 2005).
Historie
Durch die Untersuchung menschlicher Überreste aus früheren Zeitaltern ist es heute möglich geworden, den Zug von Infektionserkrankungen und Seuchen über die Kontinente anschaulich darzustellen. Beispielsweise konnte nachgewiesen werden, dass der Erreger der Pest (Yersinia pestis) nicht älter als 5000 Jahre alt ist – gemessen an dem unvorstellbaren Leid, das diese Infektionskrankheit über die Menschheit brachte, ein bemerkenswert kurzes Alter. Eine schwedische Arbeitsgruppe hat den ältesten bislang bekannten Fall der Pest beim Menschen beschrieben, der sich vor ca. 4900 Jahren in Schweden ereignete. Die Arbeitsgruppe konnte auch die damalige Ausbreitung dieser für die Bevölkerung schrecklichen Seuche beschreiben.
Epidemien gab es in verschiedenen eurasischen Populationen während der Zeit des Neolithikums und der Bronzezeit, aber eine notwendige Bedingung waren immer große Siedlungen mit vielen dort lebenden Einwohnern, die sich von Mensch zu Mensch über den Luftweg mit dem Erreger infizierten. Hierbei handelt es sich um eine besonders effiziente Strategie der Weiterverbreitung. Zwischen den Siedlungen und global zwischen den Völkern wurde die Pest auf den gängigen Handelsrouten verbreitet (Rascovan et al. 2019).
Bemerkenswert ist neben vielen anderen Beispielen auch die Ausbreitung des Human Immunodeficiency Virus (HIV) seit seinem ersten Auftreten zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert. Es konnte, ebenso wie für die Pest, gezeigt werden, dass das HI-Virus seinen Siegeszug erst antreten konnte, als eine ausreichende Anzahl suszeptibler Personen auf engem Raum miteinander lebten und dem Virus über sexuelle Kontakte, dem typischen Ausbreitungsweg für das HI-Virus, die Chance der Weiterverbreitung gab. Das war in Kinshasa (Demokratische Republik Kongo), dem vermutlichen Hotspot für die Ausbreitung von HIV über die Erde, erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Fall (Worobey et al. 2008).
Das Zusammenleben von Menschen auf engem Raum ist bei vielen Infektionskrankheiten die entscheidende Voraussetzung für eine schnelle Ausbreitung. Vor der Globalisierung war die maximale Ausbreitungsgeschwindigkeit die eines Menschen oder Pferdewagens entlang der Handelsrouten etc. Heute gelingt dies den unterschiedlichsten Erregern durch den Flugverkehr rund um den Erdball innerhalb weniger Stunden (Gottschalk 2005). Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass sich die Ausbreitung der Ebolavirus-Erkrankung (EVD) 2013–2015 in Westafrika exakt nach den „alten“ Wegen vollzog: durch Menschen, die zu arm sind, um sich ein Auto oder Fuhrwerk leisten zu können, entlang der alten Handelsrouten zwischen Guinea, Sierra Leone und Liberia. Es wäre relativ einfach gewesen, diesen Ausbruch, der sich zur ersten EVD-Pandemie entwickelte, zu stoppen, wären intakte Öffentliche Gesundheitsbehörden vorhanden gewesen.
Globalisierung
Während für unsere industrialisierte und mit einem exzellenten Gesundheitssystem ausgestatte Welt mit der Globalisierung insbesondere zunehmende Handelsmöglichkeiten und Vernetzung des internationalen Warenverkehrs verknüpft werden, bedeutet Globalisierung für Entwicklungsländer oftmals das genaue Gegenteil: „Es ist das Schaffen von Mehrwert für die industrialisierte Welt auf dem Rücken der ärmsten Menschen weltweit, die von Despoten hemmungslos ihrem Schicksal überlassen werden“ (Gottschalk 2018).
Direkte Folgen können sein:
- Kinderarbeit
- Arbeit unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen
- Inakzeptable Arbeitsplätze
- Ungelöste Müllprobleme
- Zunehmende Verarmung und Verwahrlosung
Durch die unvorstellbaren Lebensbedingungen dieser Menschen ergeben sich aus infektiologischer Sicht indirekte Folgen:
- massiv zunehmende Resistenzentwicklung bei bekannten Erregern,
- Entstehen von neuen Krankheitserregern (Emerging Infectious Diseases, EID).
EID entstehen in Folge entsprechender Lebensbedingungen: Vögel, Reptilien, Amphibien und Säugetiere werden auf engstem Raum zusammen gehalten – in direktem Kontakt zu den dort lebenden Menschen. Es ist leicht verständlich, dass es zum „Spillover“ kommt – die weitaus meisten EID sind zoonotischen Ursprungs (Quammon 2013).
Zur zunehmenden Resistenzentwicklung kommt es durch eine oftmals ungeregelte Abgabe von Medikamenten, insbesondere Antibiotika in Entwicklungs- und Schwellenländern. Dieser viel zu häufige und meistens falsche Gebrauch von Therapeutika kann zur genetischen Anpassung verschiedenster Erreger führen. Ein Paradebeispiel hierfür ist das Auftreten des New Dehli Metallo-ß-Lactamase 1-Gens (NDM 1) (Kumarasamy 2010). Mitverantwortlich für die Entstehung dieses bei uns längst angekommenen Resistenzgens waren und sind plastische Operationen in Indien. Hier gibt es gut ausgebildete plastische Chirurgen, die entsprechende „Schönheitsoperationen“ bei begüterten Patienten vornehmlich der westlichen Welt durchführen. Deren „Eingriffe“ sind dabei wesentlich günstiger als vergleichbare Leistungen beispielsweise im Vereinigten Königreich. Um die Patienten schnell wieder entlassen zu können, werden zur Prophylaxe Breitspektren-Antibiotika gegeben, die letztlich zu einer folgenschweren Carbapenem-Resistenz führten und weiterhin führen. Diese beschäftigt uns heute mehr denn je und ist, neben anderen Resistenzmustern, eine der größten Herausforderungen in der Behandlung von Infektionskrankheiten geworden.
Aber auch völlig gesunde Reisende können in großer Zahl resistente Krankheitserreger in der westlichen Welt verbreiten: Eine Arbeitsgruppe des Instituts für Infektiologie der Universität Bern hat bei über 76 % von 38 zufällig ausgesuchten Rückreisenden aus Indien Colistin-resistente Enterobacteriaceae nachgewiesen, einschließlich solcher, die das mcr-1-Resistenzgen als Plasmid weitergeben können. Wohlgemerkt: Es handelte sich um gesunde Reiserückkehrer, die keinerlei Symptome bei der Untersuchung zeigten (Odette et al. 2016). Diese Problematik sollte auch bei international tätigen Unternehmen Beachtung finden: Fachkräfte (Expats) und deren Familienangehörige, die von diesen Unternehmen in ein entsprechendes Land entsendet werden, bedürfen der arbeitsmedizinischen Kontrolle, sowohl direkt nach der Rückkehr als auch in der Folge nach einigen Monaten. Bei einer kurz nach der Rückkehr einsetzenden Krankheit muss immer nach möglichen Ursachen gefahndet werden, die ihren Ursprung in den genannten infektiologischen Problemen haben könnten, wie sie bereits genannt wurden. Der Grund ist einfach: Diese Expats halten sich zumeist länger als Touristen in diesen Ländern auf und haben eine hohe Wahrscheinlichkeit, auch mit den in dem jeweiligen Land vorkommenden Krankheitserregern in Kontakt zu kommen.
Es werden jedoch nicht nur die Krankheitserreger als unmittelbare Gefahr weltweit verbreitet – auch potenzielle mittelbare Vektoren, insbesondere Moskitos wie Aedes albopictus und andere, werden mittlerweile sogar nicht nur in bestimmten europäischen, sondern auch in deutschen Regionen gefunden. Aufgrund enormer Widerstandsfähigkeit können brutfähige Kolonien selbst Winter, wie sie in der Nordhalbkugel vorkommen, überleben (s. „Weitere Infos“).
Resümee
Die größte Bedrohung durch Infektionskrankheiten geht von natürlichen Erregern aus. Das zunehmend globalisierte Welthandelssystem erleichtert vielen Erregern, die Artgrenzen zu überwinden. Die Gründe hierfür sind mannigfaltig: Insbesondere sind die Lebensbedingungen und die Armut der Menschen in den benachteiligten Regionen zu nennen. Neben der Armut und den Lebensbedingungen sind das Fehlen von einwandfreiem Trinkwasser, das Fehlen von Bildungseinrichtungen, die Überbevölkerung, die schonungslose Ressourcenausbeutung, die selbst von westlichen Politikern negierte, gleichwohl vorhandene Klimaveränderung im Sinne einer dramatisch zunehmenden Erderwärmung und insbesondere das Fehlen von Öffentlichen Gesundheitseinrichtungen zu nennen. Entwicklungsländer kämpfen praktisch ohne Erfolg gegen Probleme, die bereits von Johann Peter Frank im 18. Jahrhundert und von Rudolf Virchow im 19 Jahrhundert beschrieben wurden. Bereits damals wurden Lösungsansätze für diese Zustände beschrieben, die zum großen Teil heute noch gültig sind und angewandt werden.
Durch die „Globalisierung“ wird die Einschleppung neuer Infektionskrankheiten zu einem wachsenden Problem für die Gesundheitssysteme — dabei spielt der Flugverkehr die entscheidende Rolle. Auf das Vordringen dieser neuen oder resistenten Krankheitserreger müssen alle vorbereitet sein – allerdings ist die beste Prävention in diesem Kontext, die Lebensbedingen der Menschen am Ort des Entstehens umgehend und drastisch zu verbessern.
Offensichtlich ist die Ausbreitung von Infektionserregern und deren Vektoren die einzige „gerechte“ Facette der Globalisierung: Industrienationen, die enormen Nutzen aus der Globalisierung ziehen, sehen sich zunehmend mit Problemen konfrontiert, gegen die Menschen aus Entwicklungs- und Schwellenländern, falls sie dazu überhaupt in der Lage sind, schon lange frustran kämpfen.
Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.
Literatur
Gottschalk R: Neue und hochinfektiöse Krankheitserreger – Seuchenschutz durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst am Beispiel SARS. Düsseldorf: Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen, 2005.
Kumarasamy KK et al.: Emergence of a new antibiotic resistance mechanism in India, Pakistan, and the UK: a molecular, biological, and epidemiological study. Lancet Infect Dis 2010; 10: 597–602.
Odette J et al.: Travelers can import Colistin-resistant Enterobacteriaceae, including those possessing the Plasmid-mediated mcr-1 gene. Antimicrob Agents Chemother 2016; 60: 5080–5084.
Quammon D: Spillover: Animal infections and the next human pandemic. New York, London: W.W. Norton & Company, 2013.
Rascovan N et al.: Emergence and spread of basal lineages of Yersinia pestis during the Neolithic decline. Cell 2019; 176: 1–11.
Worobey M et al.: Direct evidence of extensive diversity of HIV-1 in Kinshasa by 1960. Nature 2008; 455: 661–664.
Weitere Infos
Informationen zur Asiatischen Tigermücke in Hessen (Hessisches Ministerium für Soziales, Integration und Gesundheit)
autor
Prof. Dr. med. habil. René Gottschalk
Gesundheitsamt Frankfurt am Main
Breite Gasse 28
60313 Frankfurt am Main