Warum ist Schichtarbeit eine Belastung?
Zahlreiche physiologische Funktionen leben-der Organismen weisen eine tagesabhängige Rhythmik auf. Schichtarbeit mit Nachtarbeit (in der Folge der Einfachheit halber meist nur „Schichtarbeit“) steht diesen natürlichen bio-logischen – und bei Menschen auch den so-zialen – Rhythmen entgegen. Bereits seit der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wurde in zahlreichen Untersuchungen festgestellt, dass nur wenige dieser Rhythmen sich bei Nachtarbeit unmittelbar und voll-ständig anpassen (z. B. Blutdruckregulation), andere hingegen auch nach mehreren aufeinanderfolgenden Nachtschichten keine oder nur eine unvollständige Anpassung auf-weisen (z. B. Körpertemperatur). Hierdurch kann es zu einer Desynchronisierung der relativen Phasenlage der verschiedenen zirkadianen Rhythmen kommen. Diese durch Schichtarbeit verursachte Störung, die sog. „Chronodisruption“, liefert die Hypothese, um eine Reihe von Befindlichkeits- und Gesundheitsstörungen bei Schichtarbeitern zu erklären.
Abgesehen von den genannten physio-logischen Gründen, Schichtarbeit als Belas-tung aufzufassen, spielen auch soziale Einflüsse eine Rolle. Der Nutzwert von freien Stunden am Abend, an Feiertagen sowie am Wochenende wird von den meisten Men-schen als besonders hoch eingeschätzt. Spät-schichten, Nachtschichten und Wochenendarbeit kollidieren mit diesen Wertvorstellun-gen. Für Schichtarbeiter ist es schwer, an regel-mäßigen Freizeitaktivitäten teilzunehmen, wie sie insbesondere im Rahmen von vereins-mäßig organisierten sportlichen oder kultu-rellen Veranstaltungen stattfinden. Auch die Organisation von Haushalt und Kinderbetreuung erfordert einen erhöhten Aufwand, insbesondere dann, wenn beide Partner berufstätig sind. Den größten Stress und den geringsten Schlaf haben unter anderem Schichtarbeitnehmerinnen mit kleinen Kindern. Jedoch dürfen sich per definitionem keine Nachteile bezüglich der Teilnahme an betrieblicher Weiterbildung und hinsichtlich aufstiegsfördernder Maßnahmen ergeben; hier sind gleiche Chancen durch das Arbeitszeitgesetz gefordert (§ 6 Abs. 6 ArbZG).
Dem gegenüber stehen allerdings auch Vorteile, die sich unmittelbar aus der Schicht-tätigkeit ergeben. Diese sind zunächst materieller Natur, da Schichtarbeit mit besonderen Zulagen vergütet wird. Insbesondere Personen, die in Systemen mit einer überlangen Schichtdauer arbeiten (z. B. 12-Stunden Schicht), haben darüber hinaus noch den Vorteil geringerer Wegezeiten und -kosten, da sie die geforderte Arbeitszeit an weniger Tagen pro Woche erbringen als Tagarbeiter. Weiterhin bedeutet „Arbeit zu ungewöhnlicher Zeit“ im Umkehrschluss auch „Freizeit zu ungewöhnlicher Zeit“, so dass manche Aktivitäten unter Vermeidung von „Stoßzeiten“ verrichtet werden können (z. B. Einkäufe, Behördengänge, Schwimmbad- oder Ausstellungsbesuche etc.).
Ein weiterer interessanter Denkansatz wird in neuerer Zeit von den Chronobiologen geliefert. Sie weisen darauf hin, dass für die meisten Menschen schon ein normaler Arbeitstag zu einem zwangsweise frühen Aufstehen führt, was nur durch den Einsatz eines Weckers sichergestellt werden kann. Je größer die zeitliche Diskrepanz zwischen natürlichem und erzwungenem Aufwachzeitpunkt, desto ausgeprägter das hierdurch erzeugte Phänomen des „sozialen Jetlag.“ In der Tat liegen bedenkenswerte Befunde vor, nach denen das Ausmaß des sozialen Jetlags mit Risikoverhalten wie Rauchen und Alkoholkonsum, aber auch mit der Häufigkeit des Auftretens depressiver Verstimmun-gen korreliert ist.
Überspitzt könnte man folglich formulieren, dass die meisten berufstätigen Menschen Schichtarbeiter sind und dass das Aus-maß der hiermit assoziierten Belastung nicht von dem Faktum „Tag- oder Nachtarbeit“ abhängt, sondern vielmehr von der Diskrepanz zwischen dem individuellen chronobiologischen Typus und der konkret geforderten Arbeitszeit. Um es ganz deutlich zu sagen: Für einen extremen Abendtypen ist Nachtarbeit wahrscheinlich physiologisch weniger belastend als eine typische frühe Tagarbeitszeit. Aus diesem Gedankengang folgt allerdings auch, dass es Menschen gibt, die sich an Wechselschicht- und Nachtar-beit kaum oder nicht adaptieren können. Diese reagieren auf die Arbeitsbedingungen in der Regel frühzeitig und stark mit Beschwerden, so dass eine Umsetzung in nor-malen Tagarbeitsbetrieb meist schon inner-halb der ersten ein oder zwei Jahre erforder-lich wird.
Geht es Schichtarbeitern subjektiv schlechter als Tagarbeitern?
Die mit Schichtarbeit verbundenen physiologischen und sozialen Herausforderungen sind zweifellos „Stressoren“ im Sinne des Belastungs-Beanspruchungs-Konzepts. Da die Entstehung von empfundenem Stress aber ein sehr vielschichtiges Phänomen ist, lässt sich hieraus nicht zwangsläufig ableiten, dass Schichtarbeiter auch vermehrt unter Stress leiden. Zahlreiche Studien wurden in der Ver-gangenheit bei Krankenschwestern durch-geführt. Gerade in dieser Berufsgruppe gibt es aber enorme physische und psychische Belastungen ganz unabhängig von der Schichtarbeit. Dennoch wurde in einer Studie bei Krankenschwestern, die in Schichtarbeit ein-gesetzt waren, eine bessere Vitalität und men-tale Gesundheit als bei den Vergleichsperso-nen beobachtet. Es kann, wie auch bei anderen der Schichtarbeit zugeschriebenen Effekten, gefolgert werden, dass die Auswahl des Schichtsystems ebenso eine wichtige Rolle spielt wie die sozialen und ökonomischen Randbedingungen, unter denen diese Arbeit verrichtet wird.
Unter der Fragestellung, ob es mit zunehmender „Zeit auf Schicht“ zu einer gra-duellen Verschlechterung des Gesundheits-zustandes und der Befindlichkeit bei Schicht-arbeitnehmern kommt, wurden auch Arbeit-nehmer in zwei in einem Großbetrieb der chemischen Industrie hauptsächlich vorkommenden Wechselschichtsystemen mit Tagarbeitnehmern verglichen. Hierzu wurde die selbst eingeschätzte Gesundheit und Ar-beitsfähigkeit, gemessen anhand des Arbeits-bewältigungsindex („Work Ability Index“, WAI), erfragt. Für alle drei Arbeitnehmergruppen fand sich die erwartete tendenzielle Verschlechterung des WAI mit zunehmen-dem Alter, jedoch bestanden keine Unter-schiede zwischen den verschiedenen Arbeits-zeitsystemen. In einer weiteren Untersuchung an einem ähnlichen Studienkollektiv wurde die subjektive Stresswahrnehmung erfasst und zwischen Tag- und Schichtarbeit-nehmern verglichen. Entgegen der Erwartung und im Widerspruch zu manchen Studienergebnissen anderer Autoren in der Vergan-genheit wurde hierbei kein negativer Einfluss der Arbeit in Wechselschicht auf die Stresswahrnehmung gefunden. Die Ergebnisse wiesen sogar darauf hin, dass mit Schichtarbeit eine geringere Wahrscheinlichkeit ver-bunden ist, Termindruck bzw. „Stress in den letzten Wochen“ empfunden zu haben. Keine signifikanten Unterschiede zeigten sich im Hinblick auf andere Aspekte der Stresswahr-nehmung sowie die selbst eingeschätzte generelle Work-Life-Balance.
Geht es Schichtarbeitern objektiv schlechter als Tagarbeitern?
Akute Effekte
Die kurzzeitigen Effekte einer Chronodisruption auf Gesundheit und Wohlbefinden können zwanglos aus dem Vergleich mit einem Jetlag nach einem Zeitzonenflug abgeleitet werden. Sie äußern sich hauptsächlich in Schlafstörungen, Abgeschlagenheit und Verdauungsstörungen. Auch ist bekannt, dass ein Jetlag mit einer vorübergehenden Beeinträchtigung von Immunfunktionen assoziiert sein kann. Ein erhöhtes Unfallrisiko sowohl bei der Arbeit als auch auf dem Arbeitsweg wurde verschiedentlich berichtet und meist auf einen Schlafmangel zurück-geführt. Allerdings sind angesichts der Viel-schichtigkeit der Beziehung zwischen abstraktem Unfallrisiko und tatsächlicher Un-fallmanifestation allzu simplifizierende Be-trachtungen nicht angezeigt. Viele der vorliegenden Studien sind nicht oder nur unzu-reichend auf die Altersstruktur oder die Dauer der Betriebszugehörigkeit der Beschäftigten adjustiert oder tragen der Art der Tätigkeit und möglichen systematischen Unterschieden zwischen Tag- und Nachttätigkeiten, insbe-sondere hinsichtlich der Arbeitsschwere und dem Faktum durchgeführter Alleinarbeit, keine Rechnung. Einflüsse durch die Persön-lichkeitsstruktur der Beschäftigten, wie z. B. generelle Risikobereitschaft, können natur-gemäß gar nicht berücksichtigt werden. Alle diese Faktoren sind aber, wie aus der Unfall-forschung bekannt, mit der Manifestationswahrscheinlichkeit von Unfällen und auch mit der Unfallschwere assoziiert und können sich systematisch zwischen Tag- und Nachtarbeitskollektiven unterscheiden.
Chronische Effekte
Bezüglich der chronischen Gesundheitsfolgen existiert nach über einem halben Jahrhundert Schichtforschung eine Vielzahl von Studien, die aber auch große Diskrepanzen zwischen den einzelnen Untersuchungen zeigen.
Magen-Darm-Beschwerden, insbesondere auch Geschwürsleiden, wurden häufiger bei Schicht- als bei Tagarbeitern beobachtet. Dies trifft allerdings auch für die Infektion mit Helicobacter pylori als einem wichtigen Risikofaktor für solche Erkrankungen zu. Dieser ist wiederum natürlich nicht mit der Nachtarbeit kausal verbunden, sondern mit der ethnischen Zugehörigkeit und regionalen Herkunft der Personen, die diese Arbeit überwiegend leisten.
Manche, aber nicht alle Studien zeigten ein leicht bis mäßig erhöhtes Risiko für kar-diovaskuläre Erkrankungen, und wo ein sol-ches nicht gefunden wurde, wurde oft ein Selektionseffekt („healthy survivor bias“) als Grund angenommen. Eine Reihe von Studien fand das Risiko für Stoffwechselerkrankungen, insbesondere Diabetes mellitus, Hypertriglyzeridämie und Adipositas bei Schichtarbeitern erhöht und lieferten damit die „Brückensymptome“ für ein erhöhtes Infarktrisiko.
Schließlich hat noch die International Agency for the Research on Cancer (IARC) im Jahr 2007 „Schichtarbeit, die zu Chrono-disruption führt“ als „wahrscheinlich krebserzeugend für den Menschen“ eingestuft. Diese Einstufung stützte sich auf eine „aus-reichende Beweislage im Tierversuch“ und auf eine „beschränkte Beweislage bei Men-schen.“ Während die experimentelle Befund-lage tatsächlich als vergleichsweise konsistent gelten kann, wird die epidemiologische Beweisführung nach wie vor kontrovers dis-kutiert Die bestehende Datenlage wird ver-breitet als verdachtsbegründend, aber nicht als hinreichend angesehen. Kritisiert wurde insbesondere die Tatsache, dass sich die weit überwiegende Zahl der berücksichtigten Stu-dien auf nur wenige Berufsgruppen konzen-trierte, nämlich Krankenschwestern und fliegendes Personal. Diese können schwerlich als repräsentativ für sonstige schichtarbeitende Bevölkerungsgruppen angesehen werden. Auch war die interne Konsistenz der Studienergebnisse bei weitem nicht so gut, wie aus methodischen Gründen wünschens-wert. Erhebliche Heterogenität bestand sowohl zwischen den untersuchten Schichtsystemen als auch hinsichtlich der gefundenen Expositions-Effekt-Beziehungen.
Diese Heterogenität sowie die in manchen Studien erkennbare Betonung von po-sitiven, aber oft nicht signifikanten Ergebnissen machen allgemeine Schlussfolgerungen zu einem Zusammenhang zwischen Schichtarbeit und Krebs schwierig. Seit der IARC-Einstufung sind mehrere neue Studien sowie Übersichten und Kommentare erschienen, die jedoch ebenfalls kein abschließendes Urteil erbracht haben. Weitere Untersuchungen mit verbesserter Erfassung von Expositionen und Störfaktoren werden dringend für erforderlich gehalten.
Warum sind Schichtarbeitsstudien schwierig zu interpretieren?
Schichtarbeit gibt es seit Menschengedenken, und sie wird seit über 60 Jahren systematisch beforscht. Dennoch ist die Literatur über die gesundheitlichen Folgen von Schichtarbeit bemerkenswert heterogen. Warum ist das so?
Weltweit existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Schichtmodelle, von denen nicht a priori anzunehmen ist, dass sie alle zu gleichartigen Gesundheitseffekten führen. Auch ist naheliegend, dass Schichtarbeit in manchen Branchen und Berufen auch mit an-deren, potenziell gesundheitsschädlichen Expositionen einhergehen kann. Dies ist besonders offenkundig in zwei Berufsgruppen, die beispielsweise in der Forschung zu Schichtarbeit und Krebs eine große Rolle spielen: Krankenpflegepersonal (Umgang mit Chemotherapeutika, infektiöse Agenzien) und fliegendes Personal (Höhenstrah-lung). Selektionseffekte, nicht nur bei Tätig-keitsaufnahme, sondern auch im weiteren Verlauf eines Berufslebens, können dazu führen, dass sich Schichtarbeitnehmerpopu-lationen gravierend von Tagarbeitnehmern unterscheiden. Üblicherweise wird davon ausgegangen, dass eine solche Selektion dazu führt, dass zunächst gesündere und robustere Personen Schichtarbeit verrichten. Tatsächlich existieren aber nur wenige Studien, die tatsächlich Berufsanfänger in Tag- oder Wechselschichtarbeit bereits vor Berufsaufnahme verglichen und prospektiv weiter verfolgt haben. In einer dänischen Untersuchung an Auszubildenden für soziale- und Pflegeberufe wurde gezeigt, dass bereits zu Ausbildungsbeginn bei später schichtarbeitenden Personen häufiger Übergewicht und Nikotinmissbrauch bestand als bei den tagarbeitenden Vergleichspersonen. Eine Untersuchung in einem deutschen Großbetrieb der chemischen Industrie bestätigte die Überhäufigkeit von Rauchern unter den künftigen Schichtarbeitnehmern, fand aber darüber hinaus keine wesentlichen Unterschiede in den körperlichen Befunden und bei der Ver-teilung von Risikofaktoren zwischen den Gruppen.
Auf der anderen Seite ist gut belegt, dass außer dem Rauchen auch andere ungünstige Lebensstilfaktoren wie ungesundes Essen und Bewegungsmangel bei Schichtarbeitnehmern im Vergleich häufiger anzutreffen sind als bei Tagarbeitern. Solche systematischen Unterschiede können zu einer erheblichen Verzerrung von Studienergebnissen führen und machen auch den Vergleich zwi-schen verschiedenen Studien schwierig.
Das Schichtsystem ist ein Teil des Problems, aber auch der Lösung
Im Arbeitszeitgesetz ist gefordert, „die Arbeitszeit der Nacht- und Schichtarbeitnehmer … nach den gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit festzulegen“ (§ 6 Abs. 1 ArbZG). Angesichts geschätzter mehrerer hundert bis tausend verschiedener Schichtplanmodelle, die weltweit eingesetzt werden, ist nicht anzunehmen, dass diese alle auf gesicherter arbeitswissenschaftlicher Erkenntnis beruhen. Die Schichtforschung der vergangenen Jahrzehnte hat aber zumindest einige Erkenntnisse bezüglich empfehlenswerter Schichtplangestaltung erbracht. Es besteht überwiegend Einigkeit, dass Schichtsysteme schnell vorwärts rotierend sein sollten, wobei die Schichtdauer umgekehrt proportional zu den körperlichen und mentalen Arbeitsanforderungen sein sollte. Mehr als drei geblockte Nachtschichten in Folge werden überwiegend als ungünstig angesehen, da sie mit einem erhöhten Risiko für kumulierte Schlafdefizite verbunden sind. Es ist allerdings auch darauf hinzuweisen, dass es ein bestimmtes „optimales“ Schichtsystem nicht gibt. Jede Schichtplangestaltung muss nicht nur die technische Gegebenheiten be-rücksichtigen, sondern auch den sozialen und kulturellen Gewohnheiten Rechnung tragen.
Da, wie oben bereits angesprochen, weniger die absolute Lage der Arbeitszeit als vielmehr die Diskrepanz zwischen Arbeitszeit und individuellem Schlafrhythmus das Ausmaß der resultierenden Gesundheitsbelastung bestimmt, werden zunehmend auch flexible Schichtzeiten in der Praxis erprobt. Vor allzu kühnen Experimenten bei der Neu-einführung vermeintlich verbesserter Schicht-modelle ist allerdings zu warnen. Es wurde bereits erwähnt, dass Schichtarbeiter einen gesteigerten organisatorischen Aufwand be-treiben müssen, um gesellschaftliche und familiäre Anforderungen mit ihrer Arbeitszeit kompatibel zu machen. Dementsprechend sind auch die Beharrungskräfte bei den Be-legschaften stark, wenn ein wie auch immer begründetes neues Schichtsystem eingeführt werden soll.
Was kann die Arbeitsmedizin zusätzlich leisten?
In Ergänzung zu einem gesundheitsverträglichen Schichtsystem kommt den regelmäßigen arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen in Verbindung mit Maßnahmen der Gesundheitsförderung eine wichtige Bedeutung für die Vermeidung schädlicher Auswirkungen von Schichtarbeit auf die Ge-sundheit zu. Gemäß Arbeitszeitgesetz sind Nachtarbeitnehmer berechtigt, sich vor Be-ginn der Beschäftigung und danach in regelmäßigen Zeitabständen arbeitsmedizinisch untersuchen zu lassen (§ 6 Abs. 3 ArbZG). Verbindliche Vorgaben für Art und Umfang dieser Untersuchung bestehen jedoch eben-so wenig wie ein Konsens darüber, welche Konsequenzen aus welchen erhobenen Befunden bezüglich der Beschäftigungsfähigkeit auf Schicht zu ziehen wären. Früher aufzufindende Ratschläge zu „befristeten oder dauernden gesundheitlichen Bedenken“ können als weitgehend obsolet betrachtet werden. Falls nicht spezifische und verbindliche Vorschriften anderes regeln (z. B. Per-sonenbeförderung, Luftfahrt), wird heute die Souveränität des Arbeitnehmers stärker betont, so dass sich die ärztliche Rolle vorwiegend auf die Beratung des Betroffenen zu seinen speziellen gesundheitlichen Risiken sowie zu möglichen Maßnahmen, die der Gesunderhaltung dienen, beschränkt.
In diesem Zusammenhang hat sich der Schwerpunkt der präventiven ärztlichen Tä-tigkeit längst von der „Selektion der Ge-eigneten“ oder der Früherkennung arbeits-bedingter Gesundheitsstörungen hin zur Ge-sunderhaltung und Gesundheitsförderung verschoben. Hierbei spielt die Vermittlung von Ressourcen und Bewältigungsstrategien eine entscheidende Rolle. Zugegebenerma-ßen ist die Zahl an wissenschaftlichen Publikationen zum langfristigen Erfolg betrieb-licher gesundheitsfördernder Maßnahmen durchaus überschaubar. Hieraus sollte aber nicht abgeleitet werden, dass dieser nicht existiere. Vielmehr liegt ein Grund für fehlende Evidenz darin, dass zahlreiche betriebliche Aktionen durchgeführt werden, ohne dass eine spätere Evaluation von Vorn-herein mit geplant und die hierfür nötige Dokumentation durchgeführt würde. Auch sind in den meisten Betrieben weder die erforderliche Teilnehmerzahl für bedeutsame statistische Auswertungen noch die nötigen zeitlichen und personellen Ressourcen für eine wissenschaftliche Aufarbeitung vorhanden. Die meisten Autoren auf diesem Gebiet sind sich allerdings auch einig, dass punktuelle, einmalige Aktionen, gleich mit welcher Methode und Zielsetzung, keine dauerhaften Erfolge zeitigen können. Hier ist vielmehr eine langfristige und konse-quent beibehaltene Strategie regelmäßiger Angebote von Gesundheitsvorsorge- und -förderungsmaßnahmen erforderlich, die im Betrieb auch eine hohe Akzeptanz erfahren müssen, um eine gewisse Nachhaltig-keit überhaupt erst zu ermöglichen.
Wir konnten in eigenen umfangreichen Studien an über 14 000 Schicht- und über 17 000 Tagarbeitern zeigen, dass unter sol-chen Bedingungen Schichtarbeit weder mit einem erhöhten Unfallrisiko noch mit einer vorzeitigen Sterblichkeit an Krebs und an-deren Erkrankungen einhergehen muss.
Schlussfolgerung
Es gibt hinreichende Belege, und es ist biologisch plausibel, dass Schichtarbeit sich un-günstig auf die Gesundheit auswirken kann. Offenbar liegen hier aber keine monokausalen Expositions-Wirkungs-Beziehungen vor. Vielmehr bestehen vielfältige Wechsel-wirkungen zwischen persönlichen Anlagen, schichtassoziierten Verhaltensmodifikationen und durch die jeweilige Schichtorganisation in unterschiedlichem Maße verur-sachten physiologischen Veränderungen, die im Einzelnen jedoch nur unvollständig ver-standen sind. Es gibt aber auch Belege dafür, dass Schichtarbeit in einer Art und Weise organisiert werden kann, die diese Auswir-kungen vermindert. Darüber hinaus haben Schichtarbeitnehmer es selbst in der Hand, zusätzliche Risikofaktoren wie z. B. Fehl-ernährung, Bewegungsmangel und Rauchen zu vermeiden. Gezielte und nachhaltige be-triebliche Gesundheitsförderung, die speziell auf die Bedürfnisse von Schichtarbeitern ein-geht, kann ein Übriges dazu beitragen, dass negative Gesundheitsauswirkungen durch Schichtarbeit gar nicht erst entstehen.
Literatur
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Nasterlack M, Knauth P: Nachtarbeit, Schichtarbeit. In: Triebig G, Kentner M, Schiele R (Hrsg.): Arbeits-medizin. Handbuch für Theorie und Praxis, 4. Aufl. Stuttgart: Gentner, 2014, S. 594–601.
Oberlinner C, Lang S, Nasterlack M, Yong M: Schicht-arbeit und Gesundheit in einem Großunternehmen der chemischen Industrie. Dtsch Med Wochenschr 2013; 138: 466–472.
Wang X-S, Armstrong MEG, Cairns BJ, Key TJ, Travis RC: Shift work and chronic disease: the epidemiological evidence. Occup Med 2011; 61: 78–89.
Autor
Dr. med. Michael Nasterlack
Facharzt für Arbeitsmedizin
Konrad-Seel-Straße 1
68526 Ladenburg