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“Ohne gute Führung ist alles nichts“

Stefan Boltz: Herr Dr. Eichendorf, ich habe meine Gefährdungsbeurteilung gemacht, ich achte darauf, dass meine Beschäftigten ihre persönliche Schutzausrüstung tragen – warum sollte ich mich als Arbeitgeber jetzt auch noch um die Präventionskultur in meinem Unternehmen kümmern?

Walter Eichendorf: Sie sind ja schon auf einem guten Weg.

S.B.: Gut! Dann kann ich ja jetzt gehen.

W.E.: (lacht): Nicht so schnell. Ich würde Ihnen trotzdem empfehlen, sich unsere neue Kampagne näher anzuschauen. Sie würden sonst etwas verpassen.

S.B.: Und das wäre?

W.E.: Die Chance, noch mehr Sicherheit und Gesundheit für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu erreichen. Oder Sie verpassen sogar eine Information, die Ihnen geholfen hätte, einen schweren Unfall zu verhindern.

S.B.: Aber diese Information erhalte ich doch von Ihnen, von der gesetzlichen Unfallversicherung. Sie schauen, was passiert, und sagen mir dann, was ich tun muss, damit das in meinem Unternehmen nicht vorkommt.

W.E.: Und sehen Sie, genau damit kommen wir nicht mehr weiter: Sie nicht in Ihrem Unternehmen und wir nicht als gesetzliche Unfallversicherung.

S.B.: Jetzt verwirren Sie mich.

W.E.: Lassen Sie es mich erklären: Berufsgenossenschaften und Unfallkassen haben gemeinsam mit den Unternehmen bereits viel erreicht, um Unfälle und Berufskrankheiten zu vermeiden. Die Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle ist stark gesunken, inzwischen deutlich unter 500 im Jahr. Bei den schweren Unfällen sieht es nicht anders aus. Das ist erst mal ein großer Erfolg. Sie haben nun allerdings ein Problem: Sie kommen immer stärker in die Situation hinein, dass jeder Unfall ein immer stärker isoliertes Ereignis ist, aus dem Sie kaum noch etwas lernen können. Wenn wir unser Ziel aber nicht aufgeben wollen, eine Welt ohne tödliche oder schwere Arbeitsunfälle zu erreichen – kurz die Vision Zero – dann brauchen wir einen anderen Ansatz.

S.B.: Und der wäre?

W.E.: Wir müssen eine Ebene abstrakter werden und die Kultur der Prävention selbst thematisieren. Wir müssen es schaffen, dass alle Betriebe, alle Schulen, alle öffentliche Einrichtungen, alle Menschen Prävention zu ihrem 7-24-Thema machen, dass sie die Prävention also an jedem Tag der Woche Tag und Nacht zum Begleiter des Lebens machen. Das bedeutet für die Unternehmen: Sicherheit und Gesundheit wird zu einem unverzichtbaren Baustein betrieblichen Denkens und Handelns. Das zu erreichen, ist das Ziel unserer neuen Präventionskampagne „kommmitmensch“.

S.B.: Das klingt alles ziemlich abstrakt. Was bedeutet das konkret für mich als Arbeitgeber?

W.E.: Zunächst einmal: Sie haben Recht, Kultur der Prävention klingt im ersten Moment abstrakt. Das ist auch der Grund, warum wir einerseits die Kampagne auf einen sehr langen Zeitraum ausgerichtet haben, und andererseits im Oktober zuerst mit der medialen Dachkampagne starten, die Aufmerksamkeit für das Thema wecken soll. Erst ab 1. März 2018 gehen wir dann mit dem ersten Thema in die Betriebe hinein: der Führungskultur. Das Thema mag trivial erscheinen, aber der Blick auf die Präventionskultur rückt zentrale Fragen in den Fokus: Sind im Unternehmen Führungsleitlinien vorhanden, die Sicherheit und Gesundheit aktiv thematisieren? Bestätigt der Arbeitgeber den Beschäftigten also, dass Sicherheit und Gesundheit für ihn Top-Priorität haben? Da werden die meisten Betriebe sicher feststellen, dass sie darüber noch nie nachgedacht haben.

S.B.: Aber reicht es wirklich aus, etwas aufzuschreiben? Papier ist geduldig, sagt der Volksmund.

W.E.: Wenn Sie eine Präventionskultur nicht jeden Tag leben und als Führungskraft vorleben, von der Spitze des Unternehmens abwärts, dann werden sie keinen Erfolg haben. Deswegen reden wir über Präventionskultur als Bestandteil allen Handelns. Auf der Ebene der Führungskräfte, aber auch im Miteinander der Kollegen.

Es gibt ein beeindruckendes Beispiel aus Singapur, wie das gelingen kann – und zwar aus dem Schiffbau. Die Arbeit auf Werften ist an sich schon gefährlich. In Singapur kommt noch das tropische Klima hinzu, das die Konzentration beeinträchtigt und damit die Fehleranfälligkeit erhöht. Dementsprechend hatte Singapur relativ hohe Unfallhäufigkeiten in diesem Bereich. Dennoch ist es ihnen gelungen, diese um 80 Prozent zu verringern.

S.B.: Wie?

W.E.: Mit guter Führung. Die Unternehmensführung hat klar kommuniziert, dass alle Beschäftigten sich nicht nur für die eigene Sicherheit verantwortlich fühlen sollen, sondern auch für die der Kolleginnen und Kollegen. Um das zu erleichtern, haben sie überall in der Werft Telefone angeschraubt. Diese Telefone hatten nur zwei Tasten: eine Taste zur internen Arbeitsschutzabteilung, die andere war direkt ins Arbeitsministerium geschaltet. Dann wurde allen Leuten gesagt: Wenn ihr irgendwo eine Gefährdung seht – sei es unsicheres Handeln oder eine technische Gefährdung – greift zum Hörer und gebt dem internen Arbeitsschutz Bescheid, damit er das beheben kann. Wenn ihr dem aus irgendwelchen Gründen nicht traut oder das Gefühl habt, da passiert nichts, dann ist es genauso okay, wenn ihr im Ministerium anruft und die Gefahr meldet. Das hat das Unternehmen so konsequent umgesetzt, dass es auf der Werft nun als gut angesehen wurde, wenn man zum Hörer griff. Die Werft hat es geschafft, bei allen Beschäftigten ein Bewusstsein zu schaffen: Wenn ich irgendein Detail sehe – einen rostigen Nagel, eine Ölpfütze – dann schaue ich da nicht drüber weg, sondern stelle über den Anruf sicher, dass auch niemand anderem eine Gefahr droht. Das ist das, was wir mit Kultur der Prävention meinen.

S.B.: Das klingt aber nach etwas sehr Betriebsspezifischem. Eine Werft ist ja etwas anderes als eine Arztpraxis oder Schreinerei.

W.E.: Das stimmt. Mein Beispiel passte zu diesem Betrieb und seiner Kultur. In einem anderen Unternehmen hätte es so vielleicht nicht funktioniert. Dennoch: Vom Grundsatz her sind die Werkzeuge gar nicht so unterschiedlich. Wir werden zum Beispiel im Rahmen von kommmitmensch einen Prototypen für Führungsleitlinien anbieten, den das Unternehmen dann intern diskutieren und gegebenenfalls anpassen muss. In den meisten Fällen wird es dann so sein, dass 60 oder 70 Prozent des Prototypen passen, dass es aber einen gewissen Bereich gibt, der angepasst werden muss, weil es ganz am Ende zwischen der Arztpraxis und der Schreinerei eben doch Unterschiede gibt. Genauso werden wir für das Thema Fehlerkultur im Werkzeugkasten eine Reihe von Handlungshilfen haben, mit denen die Betriebe das Thema angehen können.

S.B.: Warum spielt die Fehlerkultur so eine wichtige Rolle? Soll eine Kultur der Prävention nicht verhindern, dass Fehler passieren?

W.E.: Sieht wie ein Widerspruch aus, ist aber keiner. Ich habe ja vorhin erwähnt, dass die Zahl der Unfälle so stark gesunken ist, dass Sie kaum noch etwas lernen können aus dem, was geschieht. Das trifft aber nicht auf die Beinahe-Unfälle zu. In diesen steckt noch eine Menge Wissen für mehr Sicherheit. Da wollen wir ran.

S.B.: Nun gibt aber keiner gerne zu, dass er einen Fehler gemacht hat.

W.E.: Stimmt. Fehlerkultur, das ist etwas, was für Betriebe und in vielen Berufen ein echt schwieriges Thema ist. Wobei es nicht einfach darum geht, dass Fehler aus Angst vor Strafe verborgen werden. Ich glaube, da hat sich unserer Kultur schon weiter entwickelt. Wir wollen aber noch einen Schritt weiter kommen: Wir wollen, dass Fehler als etwas Positives gesehen werden. Wir wissen ja, dass jeder Mensch Fehler macht. Das kann man gar nicht vermeiden. Zur Fehlerkultur sollte gehören, dass man über falsches Handeln offen spricht. Dadurch kann man Beinahe-Unfälle oder konkrete und abstrakte Gefährdungen im Betrieb so diskutieren, dass man daraus etwas lernen kann.

S.B.: Insgesamt klingt das recht aufwändig. Ist Präventionskultur damit nicht eher ein Thema für große Konzerne und weniger für kleine und mittlere Betriebe?

W.E.: Ich glaube, viele der größeren Betriebe haben in diesem Bereich schon eine ganze Menge gemacht. Sie sind aufgrund ihrer internationalen Ausrichtung, aber auch aufgrund der Erfahrung mit schweren Unfällen viel mehr als kleine und mittlere Betriebe gezwungen, Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit ernst zu nehmen. Nicht zuletzt auch aus Sorge um ihre Reputation.

Einen Kleinbetrieb trifft es aber letztlich viel härter, wenn ein schwerer Unfall passiert. Das wissen wir aus Erfahrung. Nehmen Sie einen Handwerksbetrieb mit vielleicht fünf oder zehn Beschäftigten. Der wird ins Mark getroffen, wenn ein guter Mitarbeiter ausfällt. Der Mitarbeiter sollte an dem Tag vielleicht zu einem Kunden. Und jetzt ist er eine Woche weg, ungeplant. Schaut man sich dann die Folgen an, sieht man: Der Umsatzausfall, den das Unternehmen in dieser einen Woche hat, den kann es normalerweise nie wieder wettmachen. Außer die übrigen Beschäftigten machen Überstunden, die allerdings teuer sind. Insofern ist der Kleinbetrieb noch viel stärker auf die Kultur der Prävention angewiesen, um im Markt bestehen zu können.

S.B.: Aber kann ich als Betrieb nicht auch argumentieren, wenn ich weniger investiere, kann ich billiger anbieten und bekomme mehr Aufträge? Dann könnte ich den Umsatzausfall auch so kompensieren.

W.E.: Das ist zum einen ethisch bedenklich, zum anderen ist es auch betriebswirtschaftlich ein Fehler. Es gibt inzwischen eine ganze Reihe von Studien, die zeigen: Investitionen in Prävention erzielen ungefähr das Doppelte an Rendite. Das heißt, für jeden investierten Euro kriege ich bis zu zwei zurück. Mal abgesehen davon, dass eine solche Einstellung einen auch am Arbeitsmarkt nicht gut dastehen lässt. Gerade KMU haben ohnehin Schwierigkeiten, gute Mitarbeiter zu gewinnen, und bei der Entscheidung für oder gegen einen Arbeitgeber können Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit eben auch ein Faktor sein. Da hilft es, wenn man in dem Ruf steht, das Thema Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit ernst zu nehmen.

S.B.: Fast überzeugt. Ein letzter Einwand noch: Lege ich mir nicht möglicherweise Ketten an, wenn ich permanent darüber nachdenke, was alles passieren könnte? Bremst das nicht meine Kreativität aus?

W.E.: Man kann es umgekehrt auch als Herausforderung an die Kreativität sehen. Schauen Sie: Im Betrieb habe ich als Führungskraft die Situation, dass ich das Wohlbefinden der Menschen negativ oder positiv beeinflussen kann. Wenn ich selbst nicht krank werden oder einen Unfall haben möchte, dann muss ich akzeptieren, dass das auch die anderen nicht möchten. Dann habe ich die Pflicht, einen Teil meiner Kreativität in die Prävention zu investieren. Wenn ein Arbeitgeber das akzeptiert hat, ist er bei unseren Handlungsfeldern und kann sich aus unserem Werkzeugkasten bedienen. Er muss nur motiviert dazu sein.

S.B.: Zum Abschluss: Wenn Sie nur eine Sache benennen dürften, um etwas für die Präventionskultur im Unternehmen zu erreichen würde – welche wäre es?

W.E.: Ganz klar Führung. Darum haben wir dieses Handlungsfeld auch an den Anfang unserer Kampagne gestellt. Ohne gute Führung ist alles nichts. Wenn an der Spitze eines Unternehmens ein Mensch steht, der beim Thema Sicherheit nachlässig ist, der nachlässig mit seiner Gesundheit umgeht, dann färbt das negativ auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ab. Stellen Sie sich einen Abteilungsleiter vor, der in seinem Büro oder draußen vor der Tür regelmäßig raucht und so gut wie nie Pausen macht. Wie soll der seinen Leuten glaubwürdig machen, dass ihm das Thema Sicherheit und Gesundheit wichtig ist? Führung macht im Betrieb den Unterschied. Denken Sie an mein Beispiel aus Singapur: Hätte die Geschäftsführung das nicht vorgelebt, hätte das nie und nimmer funktioniert.

S.B.: Herr Dr. Eichendorf, wir danken Ihnen für das Gespräch.

    Kontakt

    Stefan Boltz

    Pressesprecher der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung

    stefan.boltz@dguv.de

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