KK: Herr Dr. Olbrich, Sie haben mit Ihrem Präventionsprogramm Gesundheitsförderung und Selbstregulation durch individuelle Zielanalyse (GUSI) seit 2009 das Rahmenkonzept der Rentenversicherung für die Präventionsleistungen in der Praxis umgesetzt und erprobt. Wie beurteilen Sie die bisherige Entwicklung?
DO: Beim Start des Präventionsprogramms wussten wir weder, ob von Seiten der Versicherten solche Angebote angenommen würden und wie groß die Nachfrage sein würde, noch, wie die Unternehmen und Betriebe reagieren. Insofern haben wir in diesen Jahren viel erreicht: Wir wissen, dass Präventionsleistungen aktiv beworben werden müssen und es nötig ist, Betriebe aktiv aufzusuchen und zu informieren. Wir wissen, dass die Quote der Inanspruchnahme von Präventionsleistungen bei rund 0,5 % der angesprochenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Unternehmen liegt und dass solche Angebote nicht von allen Unternehmen und Betrieben positiv bewertet werden. Das Erfreulichste: Beschäftigte, die das Präventionsprogramm GUSI genutzt haben, haben es als durchweg positiv eingeschätzt und besonders hilfreich für die Nutzung im beruflichen Alltag. In der vierjährigen begleitenden Evaluation des Programms zeigte sich, dass gesundheitsgefährdende Risikomuster im Umgang mit Belastungen in Arbeit und Beruf, die anfangs bei 70 % vorhanden waren, ein Jahr nach Beendigung des GUSI-Präventionsprogramms auf 30 % reduziert waren. Dies ist die wissenschaftliche Beschreibung dessen, was die Teilnehmer selbst nennen: „Ich habe einen anderen Umgang mit Belastungen gelernt; ich habe mir quasi ein dickeres Fell zugelegt.“ Insofern wissen wir: Prävention wirkt.
Ein wichtiges Thema ist die Versorgung von Versicherten bundesweit: Nicht alle Menschen sind berufsbegleitend, wohnortnah erreichbar. Hier bedarf es modularer Formen von Präventionsprogrammen, wobei stationäre Teile in Rehakliniken erbracht werden könnten, die dann in geeigneten Kooperationseinrichtungen in Wohnortnähe der Versicherten fortgeführt werden. Der stationäre Teil sollte zeitlich eine Woche nicht überschreiten – sonst gibt es Akzeptanzprobleme und die Grenze zur medizinischen Rehabilitation wird verwischt. Insbesondere an dieser Schnittstelle ist gute Kommunikation wichtig, so dass sowohl stationäre Einrichtung als auch ambulante Dienstleister an einem Strang ziehen.
Die Implementierung von Präventionsangeboten bei allen Akteuren – angefangen von den Versicherten selbst über Betriebsärzte, Betriebe und Unternehmen bis hin zu Rehakliniken – bedarf allerdings eines langen Atems. Und nicht zu vergessen: Ganz bedeutsame Multiplikatoren sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Firmenservice der Deutschen Rentenversicherung.
KK: Prävention und Gesundheitsförderung sollen die Gesundheit erhalten. Wie ist Gesundheit im betrieblichen Kontext zu verstehen? Ist sie allein die Abwesenheit von Krankheit oder von Gesundheitsbeschwerden?
DO: Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit; es geht um eine grundsätzlich andere Sichtweise, nämlich: Was hält Menschen gesund, worauf können sie bauen, was sind ihre Stärken? Die dazugehörige Arztfrage wäre dann: „Was haben Sie denn, was hilft Ihnen dabei, gesund zu bleiben?“ Ressourcenorientierung ist das Stichwort. Dieselbe Frage geht an Betriebe: „Was haben Sie für Mitarbeiter und was könnten Sie als Betrieb dafür tun, die Gesundheit Ihrer Mitarbeiter zu erhalten und zu fördern?“
Anders formuliert: Es gibt eine individuelle Verantwortung für Gesundheit. Jeder Beschäftigte sollte bei Bedarf die Möglichkeit zur Verhaltensprävention durch die Rentenversicherung nutzen. Hier kann auch der Firmenservice unterstützen, der das Bindeglied zwischen Betrieb und Rentenversicherung ist und eine Lotsen- und Wegweiserfunktion wahrnimmt.
Optimale Ergebnisse werden sich allerdings nur erreichen und auf Dauer auch halten lassen, wenn Betriebe ihre Verantwortung für die Verhältnisprävention wahrnehmen. Das reicht von einer guten betriebsärztlichen Versorgung über ergonomische Möbel und gute Beleuchtung bis hin zu einem Führungsverhalten, das Mitarbeitergesundheit mit im Kalkül hat.
KK: Im Mittelpunkt der Präventionsleistungen der Rentenversicherung stehen die Module Ernährung, Bewegung, Stressbewältigung und Resilienz. Um welche Leistungen kann die Rentenversicherung ein Verhaltenspräventionsprogramm für die Lebenswelt „Betrieb“ erweitern? Woran können wir die Wirksamkeit dieser Leistungen messen?
DO: Jeder verhaltenspräventive Ansatz fokussiert auf Lebensstiländerungen. Allerdings: Alleiniges Wissen um gesunde Lebensweisen, sei es Ernährung, Bewegung oder Umgang mit Stress, ändert im Alltag noch gar nichts. Hier helfen auch Verstandesappelle nichts; bestes Beispiel: die Haltbarkeit von Neujahrsvorsätzen. Daher müssen Präventionsprogramme Versicherte in ihren Lebenswelten ansprechen und so konzipiert sein, dass individuelles Lernen mit Freude gelingt und die konkrete Anwendung und Umsetzung sowohl in der Lebenswelt „Betrieb“ als auch im persönlichen Umfeld erprobt werden kann. Das dahinter stehende Prinzip wäre: Gib einem Menschen keine guten Ratschläge, sondern gib ihm Handwerkszeug, das ihn befähigt, seine guten Vorsätze auch in die Tat umzusetzen. Hierzu ist beispielsweise das Präventionsprogramm GUSI mit dem darin enthaltenen ressourcenorientierten Selbstmanagement nach dem Zürcher Ressourcenmodell (ZRM-Training) bestens geeignet.
Die Wirksamkeit solcher Leistungen ist durch verschiedene Ansätze messbar: Einerseits durch die persönliche Einschätzung der Teilnehmer, mit Hilfe des Arbeitsbezogenen Verhaltens- und Erlebensmuster (AVEM)-Fragebogens und des Work-Ability-Index (WAI). Alle Ansätze zeigen, dass die Teilnehmer das Erlernte offensichtlich erfolgreich umgesetzt und neue Verhaltensweisen gelernt haben. Und andererseits die „harten Daten“: Hatten die Teilnehmer ein Jahr vor GUSI durchschnittliche Arbeitsunfähigkeits(AU-)zeiten von 10,5 Tagen, so reduzierten sich diese ein Jahr danach auf sieben Tage!
Und ein letzter Aspekt: Wenn Menschen tatsächlich gelernt haben, mit belastenden Situationen, die ihnen Stress bereiten, erfolgreich umzugehen, hat dies auch Auswirkungen auf andere, oft kompensatorisch genutzte Verhaltensweisen. Obwohl lediglich im Kontext von Stress auf das Ernährungsverhalten bei GUSI eingegangen wurde („Frustessen“), ohne dass je Vorgaben oder Ratschläge zu „gesunder Ernährung“ gemacht worden wären, konnten die Teilnehmer im Durchschnitt in acht Wochen 3,5 kg Gewicht reduzieren. Dies zeigt, dass es auf der Grundlage einer neuen, inneren Haltung, einer Befähigung, mit Belastungen angemessen umgehen zu können, Auswirkungen auf ganz unterschiedliche Lebensbereiche hat. Es ist wünschenswert, dass alle Präventionsprogramme basale Veränderungen messen und in ihrer Wirksamkeit evaluiert werden.
KK: Eine Erfahrung in der Prävention besteht darin, dass Menschen, die ein hohes Krankheitsrisiko haben und für die die Präventionsleistungen in erster Linie gedacht waren, diese eher selten in Anspruch nehmen. Wie können wir unsere Zielgruppe besser erreichen?
DO: Tatsächlich kommen Menschen in die Prävention, die von sich aus schon eine hohe Motivation haben, Dinge zu verändern. Dazu gehört, dass sie ein Empfinden für eigene, wie wir es nennen „dysfunktionale Verhaltensweisen“ haben. Wenn zum Beispiel eine Kindergartenleiterin beklagt, sie könne weder zu den Kindern noch zu deren Eltern „Nein“ sagen und sei deshalb völlig erschöpft, dann ist die Grundlage für eine Intervention der Wunsch der Kindergartenleiterin, daran etwas zu verändern. Solche inneren Prozesse bedürfen manchmal einiger Zeit. Es wäre sicher sehr hilfreich für die Mitarbeiterin, wenn ihr seitens der Vorgesetzten vermittelt würde, man sähe es gerne, wenn sie Präventionsleistungen nutze, um zu lernen, sich besser abzugrenzen und so ihre Gesundheit zu erhalten.
Um besonders problematische Zielgruppen zu erreichen, ist es notwendig, niederschwellige Angebote zu offerieren. Ein Beispiel hierfür sind Präventionssprechstunden, die in Ankopplung an den betriebsmedizinischen Dienst direkt vor Ort oder in Werksarztzentren durchgeführt werden. Entsprechende Modelle sind in Deutschland erfolgreich erprobt worden.
KK: Wir haben Schwierigkeiten, Versicherte in kleinen- und mittelständischen Unternehmen zu rekrutieren. Brauchen wir für diese ein neues Rahmenkonzept?
DO: Klare Antwort: Nein, wir brauchen kein neues Rahmenkonzept. Um kleine und mittlere Unternehmen anzusprechen, bedarf es besonderer Strategien: einer guten regionalen Vernetzung und einer guten Zusammenarbeit mit lokalen Werksarztzentren, die oft einen großen Pool von kleinen und mittleren Unternehmen in der Region betreuen. Und auch hier kommt dem Firmenservice der Rentenversicherung eine große Bedeutung zu: Die Mitarbeiter des Firmenservice tragen die Informationen direkt in die kleinen und mittleren Unternehmen.
KK: Die Präventionsleistungen richten sich an Menschen, die noch nicht krank sind, aber bei denen ein hohes Krankheitsrisiko besteht. Woran können wir die Wirksamkeit unserer Leistungen messen?
DO: Wichtig ist, dass wir im Vorfeld die Risikofaktoren identifizieren und es schaffen, eine klare Abgrenzung zu erreichen, wo Prävention greift und wo bereits Behandlung oder Rehabilitationsbedarf besteht. Die Diagnostik sollte von dafür eigens geschulten Ärztinnen und Ärzten durchgeführt werden. Optimal wäre es, wenn diese Ärzte dann auch in den entsprechenden Präventionsprogrammen mit tätig sind. Bei unserem GUSI-Präventionsprogramm werden alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach individueller Absprache bei einem Termin von einem halben Tag diagnostiziert, und es wird mit ihnen abgesprochen, ob die Indikation für Prävention gegeben ist oder welche anderen Maßnahmen notwendig sind. 75 % der interessierten Versicherten nehmen wir dann auch in die Präventionsgruppen auf. Bei den übrigen 25 % beraten wir dazu, was alternativ nötig und möglich wäre. Die Bedeutung dieses Vorgehens liegt auf der Hand: Wir haben seit 2009 in 28 Präventionsgruppen mit insgesamt über 400 Teilnehmerinnen und Teilnehmern noch keinen Abbruch gehabt! Das ist außergewöhnlich.
Optimal wäre natürlich, jenseits der Katamnesen auch ein Augenmerk darauf zu richten, inwieweit durch Präventionsleistungen der Rehabilitationsbedarf reduziert wird und, unabhängig von den gesetzlichen Rahmenbedingungen, wann eine Wiederholung von Präventionsleistungen angezeigt und sinnvoll ist. Das wären Themen für interessante rehawissenschaftliche Projekte.
KK: Vielen Dank für das Gespräch!
„Um alle Zielgruppen zu erreichen, ist es notwendig, niederschwellige Angebote zu offerieren.“