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Schwerpunkt | Aufgaben des Betriebsarztes

Chronisch Erkrankte im Unternehmen

Die besondere Stellung des Betriebsarztes

Der Stellung des Betriebsarztes im betreuten Unternehmen ist eine ganz besondere: Er kann unabhängig von organisatorischen Strukturen sein Expertenwissen sowohl den chronischen kranken Mitarbeitern als auch dem Arbeitgeber zur Verfügung stellen und beratend tätig werden. Das Besondere ist, dass er beide Seiten gleichermaßen unterstützen kann und somit alle Beteiligten von ihm profitieren.

Grundlage ist die arbeitsmedizinische Aus- und Weiterbildung. Diese vereint klinische Kenntnisse von Erkrankungen mit Wissen über das Sozialversicherungssystem und Kenntnisse von Belastungen an den Arbeitsplätzen. Durch die durch das Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG) gesetzlich legitimierte Stellung finden betriebsärztliche Beurteilungen zur Einsatzfähigkeit von chronisch kranken Mitarbeitern gemeinhin eine breite Akzeptanz bei allen Beteiligten.

Aus Sicht der chronisch kranken Mitarbeiter hat die betriebsärztliche Sprechstunde eine entscheidende Besonderheit, die sie von anderen ärztlichen Sprechstunden unterscheidet: Der Betriebsarzt kennt den Arbeitsplatz des Mitarbeiters, der zu ihm in die Sprechstunde kommt. Er weiß, wo er arbeitet, was er macht, wie er es macht und welchen körperlichen und psychischen Belastungen er in seinem Arbeitsleben ausgesetzt ist. Dem chronisch kranken Mitarbeiter eröffnet sich somit die Möglichkeit, die individuellen Besonderheiten seiner Erkrankung zusammen mit dem Betriebsarzt herauszuarbeiten und diese mit den Bedingungen an seinem Arbeitsplatz abzugleichen. Daraus lassen sich Maßnahmen im Sinne einer tertiären Prävention ableiten.

Aus Sicht des Unternehmens ist der Betriebsarzt ein besonderer Ansprechpartner, wenn es um die Einsatzfähigkeit eines chronisch kranken Mitarbeiters geht. Zu nennen sind hier Absprachen mit Vertretern aus der Personalabteilung, des Betriebsrates, der Schwerbehindertenvertretung oder mit den Vorgesetzten des Mitarbeiters. Bei oftmals drängenden Fragen zur Einsatzfähigkeit kann sich der Betriebsarzt aus seiner besonderen Stellung heraus moderierend und unterstützend einbringen und Lösungen vorschlagen.

Die besonderen Aufgaben des Betriebsarztes

Aus der besonderen Stellung des Betriebsarztes ergeben sich die besonderen Aufgaben. Besonders deshalb, weil kein Arzt im deutschen Gesundheitssystem sich diesen Aufgaben in so herausragender Weise stellen kann, wie es dem Betriebsarzt möglich ist. Grundlage des betriebsärztlichen Handelns ist sein Wissen über das Sozialversicherungssystem, die Krankheiten und die damit verbundenen Leistungseinschränkungen sowie die Belastungen am Arbeitsplatz ( Abb. 1). Wesentliche Aufgabe des Betriebsarztes ist es, sein Wissen in allen genannten Bereichen stetig auf dem aktuellen Stand zu halten. Nur so kann er seiner besonderen Stellung gerecht werden

In der Beratung von chronisch kranken Mitarbeitern sind detaillierte Kenntnisse vom deutschen Sozialversicherungssystem von großem Nutzen. Insbesondere gilt es zu erkennen, welche Möglichkeiten der Unterstützung sich aus den Sozialgesetzbüchern (SGB) ergeben können: Ein chronisch kranker Mitarbeiter ist zunächst einmal häufiger krank im Sinne einer Arbeitsunfähigkeit gemäß §34 BMV-Ä. Dass er weiterhin Lohn erhält, liegt an der Lohnfortzahlung gemäß §3 EFZG. Bei Arbeitsunfähigkeit länger als sechs Wochen gibt es Krankengeld gemäß §44 SGB V. Eine medizinische Anschlussheilbehandlung („Rehabilitation“) wird finanziert über die Rentenversicherung gemäß §9 SGB VI. Um sich dann wieder langsam an das Arbeitsleben zu gewöhnen, kann eine stufenweise Wiedereingliederung nach §15 SGB VI und §28 SGB IX durchgeführt werden. Im weiteren Verlauf erfolgt noch ein BEM gemäß §84 SGB IX, um erneuter Arbeitsunfähigkeit vorzubeugen. Bestehen dann die gesundheitlichen Einschränkungen weiterhin, wird ein Antrag auf Behinderung beim Integrationsamt gemäß §69 SGB IX gestellt. Gegebenenfalls erfolgt noch eine Gleichstellung beim Arbeitsamt gemäß §2 SGB IX. Um den Arbeitsplatz behindertengerecht zu gestalten, werden nach §33 SGB IX Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben beantragt. Schließlich kommt es vielleicht zur frühzeitigen Berentung gemäß §236a SGB VI. Es gehört zur Aufgabe des Betriebsarztes, den chronisch kranken Mitarbeiter durch den ganzen Prozess der deutschen Sozialversicherung zu begleiten. Die hier genannten Paragrafen sind nur ein kleiner Ausschnitt aus den vielen Regelungen, die chronisch kranke Mitarbeiter betreffen können.

Ergänzend zu den Kenntnissen zur Sozialversicherung erfordert die Beratung von chronisch kranken Mitarbeitern ein gutes Maß an medizinischem Verständnis von der Erkrankung. Das klingt banal: Es ist aber nicht zu leugnen, dass dem Betriebsarzt ein in der Weiterbildung angeeignetes klinisches Wissen auch einmal verloren gehen kann. Hier gilt es, über den Tellerrand der Arbeitsmedizin hinaus Fortbildungen zu besuchen und ein Verständnis dafür zu entwickeln, welche chronischen Krankheitsbilder für die betreuten Unternehmen relevant sein könnten. Denn bei allen Formen von chronischen Erkrankungen wird der Betriebsarzt erster Ansprechpartner im Sinne einer tertiären Prävention sein.

Die betriebsärztliche Betreuung von Mitarbeitern mit chronischen Hauterkrankungen ist bereits ein langjährig etabliertes Gebiet. Hier ist es Aufgabe des Betriebsarztes, die technischen, organisatorischen und persönlichen Maßnahmen zu initiieren und an deren Umsetzung mitzuwirken. Der demografische Wandel wird es aber mit sich bringen, dass der Betriebsarzt in ähnlicher Weise auch eine Vielzahl von Mitarbeitern mit anderen chronischen Erkrankungen betreuen wird ( Tabelle 1). Zu nennen sind hier insbesondere Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Lungenerkrankungen. Der Betriebsarzt wird vor die Aufgabe gestellt, die klinischen Befunde, z.B. eine EF von 35% oder eine VC von 60%, hinsichtlich der Bedeutung für den Arbeitsplatz zu interpretieren – eine Aufgabe, die ein gutes klinisches Verständnis von aktueller Therapie und Diagnostik erfordert. In ähnlicher Weise wird der Betriebsarzt sich mit chronischen psychischen Erkrankungen oder Erkrankungen am Muskel-Skelett-System befassen müssen.

Nicht zuletzt ist es Aufgabe des Betriebsarztes, sich gute Kenntnisse über den Arbeitsplatz anzueignen. Hier stellt sich die Frage, inwieweit sich der Betriebsarzt von der einfachen Teilnahme an Begehungen, die die Sicherheitsfachkraft leitet, lösen kann, um eigene Begehungsschwerpunkte zu setzen. Der Betriebsarzt wird die knappe Zeit, die für Begehungen zur Verfügung steht, für sich sinnvoll nutzen, um einen Mehrwert für die Betreuung chronisch kranker Mitarbeiter daraus abzuleiten. Beispielsweise könnte er einen Begehungsschwerpunkt hinsichtlich Besonderheiten für Mitarbeiter mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen setzen. Durch die gewonnenen Erkenntnisse wird es dem Betriebsarzt möglich, Fragen zur Einsatzfähigkeit spezifischer zu beurteilen. War beispielsweise in der Vergangenheit ein so genannter „5-Kilo-Schein“ ein Dokument, mit dem sich alle Beteiligten arrangieren konnten, so fordert die heutige Realität in den Unternehmen etwas anderes: Einschränkungen sind so gezielt wie möglich herauszuarbeiten, damit der Mitarbeiter an möglichst vielen Arbeitsplätzen noch einsetzbar ist. Mit dem Ausstellen eines unspezifischen „5-Kilo-Scheins“ wird der Betriebsarzt seiner besonderen Stellung nicht mehr gerecht.

Die besonderen Herausforderungen für den Betriebsarzt

Die besondere Stellung und die daraus resultierenden Aufgaben sind nicht die einzigen Herausforderungen, die sich der Betriebsarzt in der Betreuung chronisch kranker Mitarbeiter stellen muss ( Tabelle 2).

Der Betriebsarzt wird sich der herausfordernden Rolle des Moderators stellen müssen. In gemeinsamen Gesprächen mit Arbeitgebervertretern und betroffenem Mitarbeiter wird es seine Aufgabe sein, mit Fingerspitzengefühl angemessene Worte in emotional aufgeladenen Situationen zu finden. Dabei gilt es, zu allen Beteiligten eine gewisse Distanz zu wahren, um nicht Gefahr zu laufen, sich für gewisse Absichten einzelner Beteiligter instrumentalisieren zu lassen. Insbesondere bei der Beurteilung der Einsatzfähigkeit von chronisch kranken Mitarbeitern wird der Betriebsarzt je nach seinen Aussagen von den Beteiligten als arbeitnehmerfreundlich oder arbeitgeberfreundlich eingestuft werden. Es ist für den Betriebsarzt eine Herausforderung, sich aufgrund solchen Schubladendenkens nicht verbiegen zu lassen. Nur so bleibt er glaubhaft und seine Entscheidungen werden Akzeptanz finden.

Auch das betriebsärztliche Zeitmanagement wird in der Betreuung chronisch kranker Mitarbeiter auf die Probe gestellt. Der Betriebsarzt vereinbart mit dem Unternehmen nur eine begrenzte Anzahl von Einsatzstunden (gemäß DGUV Vorschrift 2). Er steht somit vor der Herausforderung, allen Bedürfnissen von Arbeitgeber und Mitarbeitern mit der ihm zur Verfügung stehenden Zeit nachzukommen. Das stellt ihn vor die Entscheidung, wie viel Zeit er in die Mitarbeitersprechstunde investieren kann. Denn der Arbeitgeber fordert auch viel Einsatzzeit bei der Mitwirkung in ASA-Sitzungen, Gesundheitszirkeln, Gesundheitsaktionen, BGM, Schulungen, Gefährdungsbeurteilungen oder Sicherheitsbegehungen. In das Zeitmanagement des Betriebsarztes sollte daher immer einfließen, dass dennoch genügend Zeit für die individuelle Beratung des Mitarbeiters übrig bleibt. Die Teilnahme an Sitzungen oder Veranstaltungen, in denen viele Themen besprochen werden, zu denen der Betriebsarzt keinen Beitrag leisten kann, sollte möglichst reduziert werden.

In der Organisation der Mitarbeitersprechstunde sollte der Betriebsarzt berücksichtigen, dass ein chronisch kranker Mitarbeiter in der Betreuung mehr Zeit beansprucht als ein gesunder Mitarbeiter. Es gilt sich folgerichtig davon zu lösen, Vorsorgeinhalte immer nach einem definierten Standard durchzuführen (beispielsweise gemäß den DGUV Grundsätzen für Arbeitsmedizinische Untersuchungen). Vielmehr sollten diese Standards an die Bedürfnisse der Mitarbeiter angepasst werden. Was spricht dagegen, einem gesunden Mitarbeiter ein verkürztes Untersuchungsprogramm anzubieten? Und dafür kann ein chronisch kranker Mitarbeiter ausführlicher körperlich und technisch untersucht werden. Hier gilt es, die Möglichkeiten der ArbMedVV auszuschöpfen, die nicht Untersuchungsinhalte vorgibt, sondern explizit darauf hinweist, dass körperliche und technische Untersuchungen je nach Erforderlichkeit durchzuführen sind (§ 6).

Interessenkonflikt: Beide Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

    Weitere Infos

    Sozialgesetzbuch (SGB) V – Gesetzliche Krankenversicherung

    https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/

    Sozialgesetzbuch (SGB) VI) – Gesetzliche Rentenversicherung

    https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_6/

    Sozialgesetzbuch (SGB) IX – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen

    https://www.gesetze-im-internet.de/sgb9ua_ndg/BJNR104600001.html

    Für die Autoren

    Dr. med. Tobias Rethage

    Infraserv GmbH & Co. Höchst KG

    Arbeits- und Gesundheitsschutz

    Industriepark Höchst

    65926 Frankfurt am Main

    tobias.rethage@Infraserv.com

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