Bewerbungsverfahren und chronische Erkrankungen
Arbeitsverhältnisse nach § 611a BGB sind in aller Regel auf Dauer angelegt. Aus diesem Umstand resultiert ein Interesse des Arbeitgebers, möglichst nur „gesunde“ Mitarbeiter zu beschäftigen. Auf der anderen Seite sind die Interessen des Beschäftigten zu berücksichtigen, auch mit chronischen Erkrankungen ein selbstbestimmtes Berufsleben führen zu können.
Beide Parteien sind gehalten, die Interessen des anderen entsprechend zu berücksichtigen. Dies gilt auch vor Beginn eines eventuellen Arbeitsvertrages, bereits wenn sich ein solcher anbahnt (vgl. § 311 Abs. 3 i. V. m. § 241 Abs. 2 BGB). Fraglich bleibt somit, ob der Bewerber verpflichtet ist, dem Arbeitgeber schon z. B. im Vorstellungsgespräch über bestimmte chronische Erkrankungen zu informieren. Das diesbezügliche Fragerecht des Arbeitgebers ist zur Absicherung der unterschiedlichen Interessenslagen eingeschränkt.
Schon früh wurden in der obergerichtlichen Rechtsprechung daher für den Arbeitgeber in seinem Fragerecht Grenzen gesetzt, die er zu beachten hat. Der Arbeitgeber kann nur dann ein Fragerecht nach chronischen Erkrankungen des Bewerbers in Anspruch nehmen, wenn er ein berechtigtes, billigenswertes und schutzwürdiges Interesse an der Beantwortung genau dieser Fragestellung geltend machen kann. Ferner muss sich diese Fragestellung streng an dem konkret geplanten Arbeitsplatz orientieren (Grundsatz der Arbeitsplatzbezogenheit). Überschreitet der Arbeitgeber diese Grenzen, so kann vom Bewerber nicht verlangt werden, dass er eine derartige Frage wahrheitsgemäß beantwortet. Auf eine Anfechtbarkeit eines zustande gekommen Arbeitsvertrages wegen Irrtums (§ 119 BGB) kann er sich dann nicht mehr berufen („Recht auf Lüge“).
Bereits vor über dreißig Jahren legte das Bundesarbeitsgericht einen entsprechenden Rahmen fest (vgl. z. B. BAG v. 07. 06. 1984 – 2 AZR 270/83). Folgende Fragestellungen hielt es 1984 für legitim:
- Liegt eine Krankheit bzw. eine Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes vor, durch die die Eignung für die vorgesehene Tätigkeit auf Dauer oder in periodisch wiederkehrenden Abständen eingeschränkt ist?
- Liegen ansteckende Krankheiten vor, die zwar nicht die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen, jedoch die zukünftigen Kollegen oder Kunden gefährden?
- Ist zum Zeitpunkt des Dienstantritts bzw. in absehbarer Zeit mit einer Arbeitsunfähigkeit zu rechnen, z. B. durch eine geplante Operation, eine bewilligte Kur oder auch durch eine zurzeit bestehende akute Erkrankung?
In den Grundzügen kann diese obergerichtliche Entscheidung auch heute noch herangezogen werden. Entscheidend beim Aspekt der Eignungseinschränkung ist aber nach heutiger Auffassung auch hier der konkrete Bezug zum Arbeitsplatz (Grundsatz der Arbeitsplatzbezogenheit). Das Vorliegen einer chronischen Erkrankung führt damit nicht automatisch dazu, dass die „Eignung“ für den vorgesehenen Arbeitsplatz nicht gegeben ist.
Entscheidend bleibt folglich die Fragestellung, ob die chronische Erkrankung ursächlich für entsprechende Eignungseinschränkungen ist (Punkt 1 des Fragekatalogs).
Auch heutzutage kann die Fragestellung der Arbeitsunfähigkeit (ob zum Zeitpunkt des Dienstritts bzw. in absehbarer Zeit mit einer Arbeitsunfähigkeit zu rechnen ist) als berechtigt angesehen werden (Punkt 3 des Fragekatalogs). Die Interessenabwägung an einer solchen Frage beschränkt das Fragerecht des Arbeitgebers allerdings auf die Fälle, in denen bei Beschäftigungsbeginn schon mit einer Arbeitsunfähigkeit im Sinne von § 3 Entgeltfortzahlungsgesetz zu rechnen ist.
Unabhängig davon, dass es nicht einfach ist, Arbeitsunfähigkeitsprognosen für die ferne Zukunft zu stellen, wird man weiterhin nur Prognosen für die ersten 6 Monate des Arbeitsverhältnisses anstellen dürfen („absehbare Zeit“). Alles andere wäre eine unangemessene Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts des Arbeitnehmers, und das Interesse des Arbeitgebers wäre hier in objektiver Sicht nicht so stark, dass entsprechende Beeinträchtigungen gerechtfertigt wären.
Weiterhin gilt bei Betrieben oder Unternehmen ab einer gewissen Mitarbeiteranzahl (vgl. hierzu § 23 KSchG) nach 6 Monaten das Kündigungsschutzgesetz, das festlegt, wie mit dem Arbeitsverhältnis widersprechenden Gründen, die in der Person des Arbeitnehmers liegen, kündigungsrechtlich umzugehen ist (vgl. § 1 Abs. 2 KSchG; „personenbedingte Kündigung“).
Diese Einschränkung ist auch deshalb notwendig, da ansonsten über die auflösenden Bedingungen im Arbeitsvertrag (§ 158 Abs. 2 BGB; hier endet das Arbeitsverhältnis, wenn eine nachträgliche Einstellungsuntersuchung die Nichteignung bescheinigt) der Kündigungsschutz gänzlich umgangen werden kann (ausführlich zur Zulässigkeit solcher „Klauseln“: Aligbe 2015).
Allerdings ist auch bei obergerichtlicher tradierter Rechtsprechung der Umstand zu berücksichtigen, dass sich rechtliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen ändern. Das Fragerecht des Arbeitgebers wird heutzutage weiterhin modifiziert durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG, siehe nachfolgend).
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz und chronische Erkrankungen
Ziel des Gleichbehandlungsgesetzes ist es, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen (§ 1 AGG).
Bei genauer Betrachtungsweise ist folglich festzustellen, dass die Erkrankung/Krankheit an sich nicht unter das AGG fällt, solange sie noch nicht als Behinderung einzustufen ist. Bei chronischen Erkrankungen ist allerdings immer zu berücksichtigen, ob hier bereits eine Behinderung im Sinne des AGG vorliegt.
Das AGG selbst enthält keine Begriffsbestimmung der „Behinderung“. Oftmals wird hier auf § 2 Abs. 1 SGB IX verwiesen, der seit dem 01.01.2018 folgende Fassung aufweist:
„Menschen mit Behinderung sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht (…)“
Abzustellen ist folglich somit nicht allein auf eine Erkrankung. Für die Behinderung ist entscheidend, dass neben der Erkrankung auch entsprechende „Barrieren“ für das Alltagsleben (und somit auch für das Berufsleben) bestehen. Dies ist jeweils im Einzelfall zu entscheiden. „So kann etwa ein an Diabetes mellitus erkrankter Arbeitnehmer, der „gut eingestellt“ ist, an der gesellschaftlichen Teilhabe so geringfügig beeinträchtigt sein, dass er als nicht behindert anzusehen ist, während ein „schlecht einzustellender“ Diabetiker behindert sein kann“ (vgl. BAG v. 19.12.2013 – 6 AZR 190/12).
Die Behinderung im Sinne des AGG bedarf weiterhin keiner formalen Feststellung (z. B. im Sinne des § 69 SGB IX).
Wenngleich diese Definition sich oftmals in der Praxis als hilfreich erweist, ist in konkreten Fall kritisch zu prüfen, ob diese sozialrechtliche Definition immer im Einklang mit europäischen Antidiskriminierungsvorgaben (vgl. z. B. RL 2000/78/EG) steht.
Gerade bei chronischen Erkrankungen ist in Bezug auf den Behindertenbegriff eine richtlinienkonforme Auslegung des AGG gefordert (vgl. Art. 288 UAbs. 3 AEUV, Gebot der Unionstreue nach Art. 4 Abs. 3 EUV und dem Auslegungsgrundsatz des „effet utile“1). So wird hier eine länger dauernde Beeinträchtigung ausreichen, die aber im Einzelfall ggf. die in § 2 Abs. 1 SGB IX benannten 6 Monate unterschreitet.
Dies ist bei chronischen Erkrankungen auch gerechtfertigt. Das SGB IX regelt u. a. Leistungsansprüche, während das AGG die Diskriminierung von Beschäftigten verhindern möchte. Es ist durchaus berechtigt, bestimmte Leistungsansprüche (z. B. unterhaltssichernde Leistungen) erst nach einer gewissen Zeit zu gewähren. Ein Aspekt, der aber in Bezug auf Diskriminierungen kaum Geltung erlangen kann.
Das AGG gilt ausdrücklich auch für die Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen (vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG). Im Ergebnis darf vom Grundsatz her der Arbeitgeber chronische Erkrankungen, die eine Behinderung im Sinne des AGG darstellt, nicht in seinen Entscheidungen negativ berücksichtigen (vgl. § 7 Abs. 1 AGG).
Würde dies aber ohne Ausnahme gelten, so wären die Interessen eines Arbeitgebers jedoch unangemessen berücksichtigt. Menschen mit Behinderung darf der Arbeitgeber daher dann unterschiedlich in seinen Entscheidungen berücksichtigen, wenn es einen entsprechenden sachlichen Grund hierfür gibt. Dieser Grund muss allerdings wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche oder entscheidende berufliche Anforderung darstellen. Weiterhin muss der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen sein (§ 8 Abs. 1 AGG).
Beim schlecht eingestellten Diabetiker ist es somit gerechtfertigt, ihn z. B. nicht als Kraftfahrer einzustellen bzw. ihm auch im laufenden Beschäftigungsverhältnis diese Tätigkeit zu versagen. Die sichere Verkehrsfähigkeit ist bei Kraftfahrern eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung. Hier ist mehr als das unmittelbare rechtliche Band zwischen Arbeitgeber und Beschäftigtem betroffen Denn es wirken auch entsprechende Außenpflichten auf den Arbeitgeber ein. So darf er z. B. als Halter die Inbetriebnahme eines Fahrzeugs nicht zulassen, wenn ihm bekannt ist oder bekannt sein muss, dass der Fahrzeugführer nicht zur selbständigen Leitung des Fahrzeugs geeignet ist (vgl. § 31 StVZO).
Die Berücksichtigung von Behinderungen ist umso mehr nach § 8 AGG gerechtfertigt, je weniger sich die entsprechenden behinderungsbedingten Einflüsse auf die Arbeitstätigkeiten vorhersehen und durch den Arbeitgeber beeinflussen lassen. Für den Arbeitgeber ist es allerdings zuweilen schwer festzustellen, ob eine Behinderung (z. B. in Form einer chronischen Erkrankung) entsprechende Beeinträchtigungen der konkret zu leistenden Arbeit nach sich zieht. Chronische Erkrankungen können sich auch gar nicht auf das Arbeitsleben auswirken.
Diese Fragestellungen sollten schwerpunktmäßig arbeitsmedizinisch aufgeklärt werden. Zur Gewährleistung des entsprechenden Facharztstandes (vgl. § 2 Abs. 3 MBO, § 630a Abs. 2 BGB) sollte ein Arzt mit der Gebietsbezeichnung „Arbeitsmedizin“ bzw. der Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“ hier involviert werden.
Ohne arbeitsmedizinische Beratung sollte ein Arbeitgeber keine Feststellungen treffen, ob bestimmte chronische Erkrankungen nicht mit den durchzuführenden Tätigkeiten vereinbar sind. Ein Verstoß gegen das AGG liegt in Bezug auf eine Behinderung auch dann vor, wenn der Arbeitgeber lediglich annimmt, eine solche könne vorliegen (vgl. § 7 Abs 1 AGG).
Literatur
Aligbe P: Die Einstellungsuntersuchung als auflösende Bedingung im Arbeitsvertrag. ArbR 2015; 542–544.
Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonfklikt vorliegt.
Fußnoten
1 „effet utile“ = Normen sind so auszulegen und anzuwenden, dass das Ziel der Richtlinie am besten und einfachsten erreicht werden kann.
Weitere Infos
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz
https://www.gesetze-im-internet.de/agg/
Sozialgesetzbuch IX: Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen