Wolf Lepenies (1998) beschreibt aus soziologischer Sicht den Wandel der Arbeitsauffassung im Europa des 18. Jahrhunderts: Für das aufkommende Bürgertum wurde Arbeit zu einem Mittel der Selbstlegitimation gegen den sich in Zeremonien ergehenden Adel. Arbeit wurde zur Grundlage der bürgerlichen Existenz und wirkte als Gegenmittel zu „Handlungshemmung, Melancholie und fehlenden politischen Beteiligung“. Heute wird von Erschöpfung, Burnout, Motivationsverlust und Sinnkrise gesprochen. Dabei bedeutet Arbeit für jeden in unterschiedlichem Maße Lebensunterhalt, Autonomie, Selbstwirksamkeit, Kreativität und soziale Verbindung. Der drohende Verlust der Arbeit und eingetretene Arbeitslosigkeit verbinden sich mit psychischen und somatischen Krankheitssymptomen. Ökonomen wie Case und Deaton stellen aktuell einen Zusammenhang zwischen der seit 1999 erhöhten Mortalität weißer Amerikaner im mittleren Lebensalter und den ökonomischen Veränderungen in den USA her, insbesondere mit sozialer Ungleichheit und unsicheren sozialen Absicherungssystemen. Sie beschreiben einen Kreislauf von Schmerz, Schmerzmittelmissbrauch, Alkohol und Drogen, Lebererkrankungen, Depression und Suizid (Case u. Deaton 2015). Arbeit und sozialer Status stehen in unmittelbarer Verbindung mit unserer seelischen und körperlichen Gesundheit.
Psychologisierung des Arbeitslebens
Die den Körper gefährdenden Aspekte von Arbeit stehen im Mittelpunkt des klassischen Arbeitsschutzes. Durch den Anstieg von Arbeitsunfähigkeit und Frühberentungen aufgrund psychiatrischer Diagnosen und bedingt durch den Wandel der Arbeitsgesellschaft von einer hierarchisch strukturierten Produktionsgesellschaft zur leistungsorientierten Dienstleistungsgesellschaft sind die psychische Gesundheit und die mentalen Aspekte von Arbeit seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts aus dem Schatten getreten, verbunden mit einer Entstigmatisierung seelischen Leidens und einer Psychologisierung des Alltagslebens (Illouz 2011).
Vor diesem Hintergrund und zeitgleich sind verschiedene theoretische Modelle psychosozialer Belastungen am Arbeitsplatz entwickelt und in Langzeitstudien empirisch überprüft worden: Als Beispiel sei hier das Modell der beruflichen Gratifikationskrise genannt, das auf der Grundlage unseres anthropologischen Bedürfnisses nach Tauschgerechtigkeit vier „gratifikationskritische“ Bereiche beschreibt: Entlohnung, nichtmaterielle Wertschätzung, Arbeitsplatzsicherheit und persönliche Weiterentwicklungsmöglichkeiten (s. Siegrist 2015). Wenn sich zwischen der geleisteten Arbeit und der erwarteten Belohnung ein kränkendes und dauerhaft frustrierendes Ungleichgewicht bildet, wird auf körperlicher Ebene die akute oder chronische Stressreaktion aktiviert.
Stress hat seinen Preis
Stress im wissenschaftlichen Sinne entsteht dann, wenn eine Anforderung den Organismus als Ganzes in seiner homeostatischen Regulation zu überfordern droht und eine besondere Anpassungsleistung erfordert. Diese „allostatische“ Leistung, zum Beispiel ein etwas höherer Setpoint der Blutdruckregulation, erfordert vom Körper eine Mehrleistung, für die er auf Dauer einen Preis zu zahlen hat. So ist der Blutdruckanstieg ein Risikofaktor für koronare Herzkrankheit und kardiale Hypertrophie. Auch im mentalen Bereich geht der Erschöpfung oder dem Burnout-Syndrom oft eine Phase der kompensatorischen Mehrarbeit und der Verstärkung des Engagements voraus. Die Entstehung von depressiven Symptomen oder Veränderungen der Herzfrequenzvariabilität als Folge von chronischem Stress sind dann die Bindeglieder zur Entwicklung von Angst- und Schlafstörungen und von depressiven oder kardiovaskulären Erkrankungen.
Wenn wir dem Weg der psychologischen Stressforschung in den letzten 50 Jahren folgen, schreibt der Stressforscher Richard Lazarus in einem Rückblick (Lazarus 1998, 2015): Im Vordergrund der psychologischen Betrachtung stand zunächst der persönliche Bewertungsprozess eines Stressors, das „Appraisal“. Dieses Konzept gründete auf der psychodynamischen Idee der Abwehrleistungen des Ich in einer Gefahrensituation. Die Bewertung einer Situation erfordert eine mentale Aktivität der Einschätzung, des Abwägens von Handlungsmöglichkeiten und der Entscheidung für eine Handlung. Diese kognitive Bewertung des Stressors ist aber untrennbar mit einer emotionalen Reaktion verbunden. Denn Stress bedeutet, dass ein persönliches Ziel nicht erreicht zu werden droht, dass eine Motivation in Frage gestellt wird. Der individuelle emotional-motivationale Bedeutungs- und Sinnzusammenhang ist in Gefahr. Und schließlich sind die Bewertung einer Gefahr und die emotionale Reaktion auch untrennbar mit der Bewältigungsreaktion selbst, dem „Coping-Prozess“, verbunden. Und dieser gesamte Prozess läuft wahrscheinlich mehr unbewusst konditioniert als bewusst wahrgenommen und entschieden ab (LeDoux: 2014).
Jeder sollte verstehen, wie sein Gehirn funktioniert!
Diese komplexe, ganzheitliche Sicht erfordert in der täglichen therapeutischen Arbeit ein vereinfachtes Modell: Neurowissenschaftler (Roth u. Strüber 2014; Panksepp u. Biven 2012) unterscheiden drei emotional-motivationale Ebenen in der Gehirnentwicklung: ein instinktgebundenes, genetisch verankertes, schnell reagierendes, unbewusstes „Reflex-Brain“, in dem auch die automatische Kampf-Flucht-Erstarrungs- und Stressreaktionen im Wesentlichen vernetzt sind ( Abb. 1). Eine zweite Ebene, die durch Lernen und emotionale Konditionierung geprägt wird und in der sich unsere frühen Kindheitserfahrungen niederschlagen. Grob vereinfacht könnte von einem unbewussten „Emotional Habit Brain“ oder vom „Autopiloten“ gesprochen werden. Eine dritte Ebene der bewussten Handlungssteuerung umfasst das Feld der komplexem sozialen Emotionen und Motive, der Impulskontrolle und Frustrationstoleranz, im weitesten Sinne das „Reflecting Brain“ . Die drei Ebenen sind ethisch nicht besser oder schlechter, sie interagieren und steuern unser Verhalten. Eine vierte kognitiv sprachliche Ebene, Roth spricht vom „vernünftigen Berater“, ist mit diesen drei emotional-motivationalen Ebenen in Verbindung, hat aber bei weitem nicht diese kontrollierende und übergeordnete Bedeutung, wie sie ihr seit Platon zugeschrieben wurde.
Unter chronischen Stressbedingungen werden Problemlösungen und motivationale Entscheidungen immer weniger durch das Reflecting Brain bearbeitet, konditionierte Reaktionen, so genannte „Autopiloten“, treten in den Vordergrund oder in einer akuten Stresssituation sogar die akute Kampf-Flucht-Erstarrungsreaktion. Dies erklärt, warum es gerade Menschen im Dauerstress so schwer fällt, gesundheitsförderliche und verhaltensändernde Entscheidungen zu treffen. Je gestresster, desto mehr handelt der Mensch nach demselben Schema.
Achtsamkeit – mehr als eine Mode
Dieses Modell erklärt auch den aktuellen Erfolg der achtsamkeitsbasierten Therapien (s. Reb u. Atkins 2015). Achtsamkeit bedeutet, eine Situation nicht sofort zu bewerten – meist nach einem biografisch altbekannten und emotional konditionierten Schema. Denn dann entscheiden „Autopiloten“ über mein Handeln. Achtsamkeit bedeutet, in der Gegenwart zu sein, eine Situation erst einmal wahrzunehmen, nicht gleich zu bewerten, zu akzeptieren, loszulassen. Dabei geht es nicht um eine unkritische Akzeptanz; eine innere Haltungsänderung soll erreicht werden, die wieder bewusste und abwägende Entscheidungen möglich macht. Ziel ist, vom Modus des „Getriebenseins“ wieder zu sich selbst zu kommen, in einen Modus der entschiedenen Handlung.
Resilienz, die Widerstandsfähigkeit gegen Belastungen, kann durch Achtsamkeit trainiert werden. Dies setzt ein dauerhaftes Üben der Achtsamkeit voraus. Grundlegend lässt sich aus dem Paradigma der drei emotional-motivationalen Funktionsebenen unseres Gehirns und der Achtsamkeit lernen, dass für einen resilienteren Umgang mit Belastungen die emotionale Balance von entscheidender Bedeutung ist. Wie gelingt es, sich den negativen Emotionen wie Ärger, Wut, Trauer und Panik zu stellen und wieder einen Blick für Zuversicht, Neugier und Freude zu gewinnen. Denn positive Gefühle lassen uns leichter mit Menschen zusammenarbeiten, beflügeln die Kreativität und erweitern das Verhaltensrepertoire.
Die emotionale Balance spielt also für Gesundheit und Wohlbefinden eine entscheidende Rolle (Unger u. Kleinschmidt 2014). Bewegung, Ernährung und Schlaf können die emotionale Balance verbessern, genau wie ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Aktivität und Erholung, zwischen Arbeitzeit und Freizeit. Es geht dabei nicht nur um die zur Verfügung stehende Zeit. Gelingt das Ab- und Umschalten, die mentale Distanzierung von der Arbeit? Das so genannte Detachment hat bei hohen emotionalen Anforderungen im Beruf und unter veränderten Arbeitsbedingungen wie Homework, ständiger Erreichbarkeit und flexiblen Arbeitszeitsystemen eine immer größere Bedeutung.
Listen to your body! Listen to your people!
Prozesse einer achtsamen Balance setzen nun beim einzelnen Mitarbeiter, dem gesamten Arbeitsteam und den Führungskräften voraus, dass das Verhältnis zwischen Beanspruchung/Belastung und Ressourcen/Erholung auch tatsächlich wahrgenommen wird. Wenn Sportmediziner gefragt werden, wie sich ein Übertraining bemerkbar macht – das heißt, ein Leistungsabfall trotz immer intensiveren Trainings – antworten sie meist: Listen to your body! Der Dialog mit dem eigenen Körper ist entscheidend. Will ich den Körper bezwingen oder achte und höre ich auf seine Signale. Denn je erschöpfter der Einzelne oder das Team, umso mehr verbinden sich negative Emotionen wie Ärger, Enttäuschung, Resignation mit Motivationsverlust und Selbsteinschränkung des Handlungsspielraums („Dienst nach Vorschrift“). Daraus resultiert in der Arbeitswelt die Forderung an die Führung nach mehr Dialog: Listen to your people! Ist die Führungskraft in Kontakt mit ihren Mitarbeitern, erkennt sie, wo die Mitarbeiter emotional stehen? Nimmt die Führung wahr, wann ein Zuviel an Veränderungen nicht zur erwarteten Effizienzsteigerung, sondern zu einem organisationalen Burnout führt?
Aber es geht nicht nur um Risiken und Gefährdung, auch die Beurteilung der Ressourcen darf nicht vergessen werden. Die wissenschaftliche Standortbestimmung der BAUA zur psychischen Gesundheit zeigt, dass bei vielen der bekannten Risikofaktoren keine linear kausale Beziehung zwischen Belastungserleben und dem Risikofaktor besteht (BAUA 2017). Oft besteht eine umgekehrte U-Funktion wie beim Übertraining im Sport: Eine Ressource wie der Handlungsspielraum kann in ihrer extremen Ausprägung als fehlender Handlungsrahmen und unstrukturierte Arbeitsanforderung auch belastend wirken. Die Ergebnisse des BAUA-Projekts zeigen auch, dass Risikofaktoren und Ressourcen nicht getrennt, sondern in ihrer Wechselwirkung gesehen werden sollten. So kann die Ressource „Handlungsspielraum“ einen Stressor wie hohe Arbeitsintensität abmildern, zum Beispiel durch höhere Selbstbestimmung und Selbstgestaltung der Arbeit. Der Dialog ist entscheidend, um die individuelle Situation gemeinsam beurteilen zu können.
Literatur
BAUA: Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt. Wissenschaftliche Standortbestimmung. Berlin, 2017.
Case A, Deaton A: Rising morbidity and mortality in midlife among white non-Hispanic Americans in the 21st century. PNAS ; 112: 15078–15083.
Illouz E: Die Errettung der modernen Seele. Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe. Berlin: Suhrkamp, 2011.
LeDoux JE: Coming to terms with fear. PNAS 2014; 111: 2871–2878.
Lepenies W: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp, 1998.
Panksepp J, Biven L: The archaeology of mind. Neuroevolutionary origins of human emotions.New York: Norton, 2012.
Reb J, Atkins P: Mindfulness in organisations. Cambridge: Cambridge University Press, 2015.
Roth G, Strüber N: Wie das Gehirn die Seele macht, Stuttgart: Klett-Cotta, 2014.
Siegrist J: Arbeitswelt und stressbedingte Erkrankungen. München: Elsevier, 2015.
Unger HP, Kleinschmidt C: Das hält keiner bis zur Rente durch! Damit Arbeit nicht krank macht: Erkenntnisse aus der Stress-Medizin. München: Kösel, 2014.
Autor
Dr. med. Hans-Peter Unger
Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Zentrum für seelische Gesundheit
Asklepios Klinikum Harburg
Eißendorfer Pferdeweg 52
21075 Hamburg