ASU: Netiquette klingt schon einmal nach „nett“. Aber geht es dabei wirklich nur um freundliches Verhalten?
Müller-Knöß: Es handelt sich ja um eine Wortspielerei zur Etikette im „Netz“. Tatsächlich geht es um Verhaltensrichtlinien und Standards, wie man sich „im Netz“ angemessen verhält. Ein respektvoller Umgang miteinander und die Berücksichtigung des Datenschutzes gehören dazu.
Stowasser: So wie es in der Offline-Welt eine Business-Etiquette gibt, gibt es auch einen Knigge für die digitale Welt: die Netiquette. Netiquette umfasst alle Aspekte des angenehmen und zielgerichteten miteinander Kommunizierens in der digitalen Welt. Neben der Freundlichkeit spielen dabei die Lesbarkeit der Nachrichten, die Vertraulichkeit – dazu gehört beispielsweise der vertrauliche Umgang der erhaltenen Nachrichten und die datenschutzkonforme Verwendung persönlicher Bilder – und auch technische Dinge wichtige Rollen.
ASU: Was sind die häufigsten Fehler, die Mitarbeiter bei der Kommunikation über die neuen Medien machen?
Stowasser: Ein wichtige Netiquette-Regel ist: „Vergiss niemals, dass auf der anderen Seite ein Mensch sitzt!“ Den Bruch dieser Regel beobachte ich täglich und in vielerlei Ausprägungen. Einige Beispiele möchte ich nennen: geringe Beachtung der Rechtschreibung, Zeichensetzung und Grammatik. Das behindert außerordentlich die gute Lesbarkeit. Oder das Ausleben schlechter Launen in Chaträumen in aggressiven und unhöflichen Tönen. Häufige Fehler in der E-Mail-Kommunikation sind zu große Verteiler, nichtssagende Betreffzeilen, Mail-Pingpong.
Müller-Knöß: Einige scheinen zu vergessen, dass sie mit anderen Menschen kommunizieren. Oft wird nicht daran gedacht, dass das Netz nichts vergisst. Dass zum Beispiel ein Zusammenfügen von Daten die Erstellung von Persönlichkeitsprofilen ermöglicht – nicht immer in guter Absicht. Beschäftigte vergessen aber auch ein gesundheitsverträgliches Zeitmanagement. Technik, die rund um die Uhr verfügbar ist, verführt dazu, dass Arbeitszeiten grenzenlos werden und Beschäftigte rund um die Uhr erreichbar sind.
ASU: Was können Folgen daraus sein?
Stowasser: Unzufriedenheit, Informations- und Reizüberflutung, persönliche Resignation, Vertrauensverlust.
Müller-Knöß: Es gibt eine Reihe von Folgen, die in zahlreichen Studien, etwa von der BAuA (im Projekt „Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt“) vorgelegt wurden. Überlange, „flexible“ Arbeitszeiten stellen nicht nur erhebliche Eingriffe in das soziale Leben der Beschäftigten dar, weil die Grenzen zwischen Arbeit und Privatsphäre verschwimmen. Mit Blick auf die Gesundheit der Beschäftigten muss man feststellen, dass sie zu erheblichen physischen und psychischen Beeinträchtigungen führen können. Detailanalysen weisen auf erhebliche Unterschiede gesundheitlicher Beschwerden je nach Arbeitszeitlänge hin: Beschäftigte, die länger als 40 Stunden pro Woche arbeiten, klagen häufiger über Nervosität und psychische Erschöpfung als kürzer arbeitende.
ASU: Wie kann man – neben dem Aufstellen von „Netiquette-Regeln“ – den richtigen Umgang mit den Neuen Medien lernen oder trainieren?
Stowasser: Regelsammlungen gibt es mittlerweile einige. So hat der Deutsche Knigge-Rat einen Privacy Knigge herausgegeben. Viel beachtet wird vor allem die Netiquette-Guideline RFC 1855. Das alleinige Niederschreiben und Durchführen von Kurztrainings von Regeln ist Voraussetzung, reicht jedoch nicht. Wir benötigen eine Unternehmenskultur, die offen mit der digitalen Welt umgeht. Dies betrifft sowohl Beschäftigte als auch Führungskräfte. Dabei ist ein tägliches Fördern und Vorleben sowie auch Einfordern der Netiquette entscheidend. Zuerst muss jedoch klar definiert werden: Welche Strategie, welche Technologien wollen wir denn im Unternehmen?
Müller-Knöß: Tatsächlich bedarf es umfangreicher Qualifikationen und Kenntnisse über die Möglichkeiten der Technik. Wo diese nicht vermittelt werden, steigen nicht nur Fehlerhäufigkeiten, sondern auch Unsicherheit und Stress. Gelernt werden muss auch die Selbstorganisation beim Umgang mit den digitalen Arbeitsmitteln. Nicht jede E-Mail muss sofort beantwortet werden. Vereinbarte Arbeitszeiten sind zu beachten. Die Chancen, das Gelernte auch umzusetzen, werden aber ganz wesentlich durch das Führungsverhalten und eine gute Unternehmenskultur beeinflusst.
ASU: Digitale Medien fordern ja beinahe ständige Präsenz von uns. Wie kann man sich vor einer Überforderung schützen und worauf sollten Betriebe und Mitarbeiter achten?
Stowasser: Den digitalen Medien können wir uns nicht entziehen. Intensive Aufgabe für uns alle, unsere Gesellschaft, Politik, Bildungsträger und Wirtschaft ist die Stärkung der Medienkompetenz – also der vernünftige Umgang mit den Medien. Und das von früher Kindheit an. Unternehmen spielen dabei sicherlich auch eine Rolle, doch ist die ständige, arbeitsbezogene Erreichbarkeit in Deutschland für die meisten Beschäftigten nicht so entscheidend: Nur ein kleiner Prozentsatz muss ständig erreichbar sein.
Müller-Knöß: Es ist erstaunlich, wie selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass es die digitalen Medien seien, die eine ständige Präsenz fordern würden. Sie ermöglichen zwar Rund-um-die-Uhr-Arbeit, aber eine Nutzung dieser Möglichkeit ist nicht zwangsläufig. Notwendig ist eine betriebliche Arbeitszeitkultur, in der Beschäftigte vor einer solchen Überforderung geschützt werden. In der arbeitswissenschaftlichen Fachdebatte wird seit geraumer Zeit eine „Kultur des Abschaltens“ gefordert. Es muss ein Recht auf Nicht-Erreichbarkeit geben, das nicht als mangelnde Leistungsbereitschaft fehlinterpretiert werden darf.
ASU: Gibt es eine allgemeine Regel für das Verhältnis von Online- und Offline-Zeiten?
Stowasser: Nein, es gibt keine generelle Aussage darüber, wie lange online und offline gelebt oder gearbeitet werden soll. Selbst die Elf-Stunden-Ruhezeitregelung, die in unserer Arbeitszeitgesetzgebung eine wesentliche Tragkraft hat, basiert auf keiner wissenschaftlichen Belegung. Um die Zusammenhänge zwischen digitaler Belastung und Erholung sowie die Langfristwirkungen zu ergründen, sind Forschungsarbeiten sehr bedeutsam.
Müller-Knöß: Dafür sollten die arbeitswissenschaftlichen und arbeitsmedizinischen Erkenntnisse über die gesundheitsverträgliche Gestaltung der Arbeitszeiten und der erforderlichen Ruhezeiten berücksichtigt werden. Eine Ausdehnung täglicher (Online-)Arbeitszeit verlängert auch den (Offline-)Erholungsbedarf. Die technischen Möglichkeiten setzen ja die Wirkmechanismen, die zur Beeinträchtigung der Gesundheit der Menschen durch grenzenlose Arbeit führen, nicht außer Kraft.
ASU: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ – Als Artikel 2 des Grundgesetzes verfasst wurde, waren Stress und weitere Erkrankungen durch intensive Nutzung von E-Mails oder Social Media undenkbar. Gibt es dazu quantitative und qualitative Untersuchungen?
Müller-Knöß: Ja. Der DGB-Index hat in einer Sonderauswertung zu den Folgen digitaler Arbeit wichtige Erkenntnisse geliefert. Es wird deutlich, dass längere und unregelmäßige Arbeit, wie sie mit der Digitalisierung einhergeht, das Risiko für die Gesundheit der Beschäftigten deutlich erhöht. Etwa 80 Prozent der digital Arbeitenden muss häufig oder oft gehetzt arbeiten, fast die Hälfte der Befragten gab an, dass mit der Digitalisierung die Arbeitsbelastung gestiegen ist, Beschäftigte werden bei der Arbeit häufiger unterbrochen, zwei von drei Beschäftigten werden verstärkt mit Multitasking-Anforderungen konfrontiert – um nur einige Ergebnisse zu referieren.
Stowasser: Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin hat in ihrem kraftvollen Projekt zur psychischen Gesundheit in der Arbeitswelt einige interessante Ergebnisse auch zum Umgang mit digitalen Technologien ergründet. Dennoch – und gerade für Social-Media-Psychologie – bleibt noch vieles offen, vor allem die langfristigen Auswirkungen sind eine Wissenslücke.
ASU: Inzwischen bestehen zahlreiche neue Möglichkeiten zur Überwachung von Arbeitsleistung. Trägt auch dieser Aspekt zur Stressverdichtung bei?
Müller-Knöß: Fast die Hälfte der Befragten des DGB-Index gibt an, dass Überwachung und Kontrolle ihrer Arbeitsleistung durch die Digitalisierung größer geworden sind. Je geringer die Einflussmöglichkeiten auf die Art und Weise des Technikeinsatzes am Arbeitsplatz, desto stärker fühlen sich Beschäftigte der digitalen Technik ausgeliefert. Das sind schlechte Voraussetzungen für gute Arbeit.
Stowasser: Nein, in einem Unternehmen mit klaren Kommunikationsstrukturen und positiver digitaler Kultur wissen die Beschäftigten, dass die digitalen Möglichkeiten nicht zur Überwachung dienen. Ein zusätzlicher Stressfaktor liegt erst gar nicht vor. Und ja, es wird dann zum Stressfaktor, wenn unklar ist, was mit den Daten passiert. Also in den Unternehmen mit unzureichender Kommunikation über den Sinn und Zweck dieser Möglichkeiten.
ASU: Dominieren uns Computer, Handys und Internet inzwischen zu sehr? Geht es uns wie dem Zauberlehrling, der die gerufenen Mächte nicht mehr loswird?
Stowasser: Wir befinden uns mitten in der digitalen Transformation unserer Gesellschaft. Die Digitalisierung und Internetverknüpfung können wir nicht mehr rückgängig machen. Wie bereits gesagt, benötigen wir eine allumfassende Medienkompetenz in der Bevölkerung. Und eine ethische Diskussion darüber, wie es weitergehen soll. Die nächsten Entwicklungsschritte warten bereits und spätestens bei der Diskussion zur Künstlichen Intelligenz muss uns klar werden, dass wir wegweisende Technologien für die zukünftigen Generationen der Menschheit in Gange setzen.
Müller-Knöß: Tatsächlich bergen die digitalen Arbeitsmittel das Potenzial, die Arbeit humaner und gesundheitsförderlicher zu gestalten. Mehr Zeitsouveränität wäre möglich. Allerdings müssen die Rahmenbedingungen dafür anders gestaltet werden.
ASU: Haben Sie Vorschläge für Arbeitsschutzmaßnahen im Kontext digitaler Mediennutzung?
Stowasser: Mit der ganzheitlichen Gefährdungsbeurteilung, also Berücksichtigung von physischen und psychischen Belastungsfaktoren, sind die Unternehmen auf gutem Wege, die Mediennutzung im Betrieb hinsichtlich Arbeitsschutz zu analysieren und zu gestalten. Damit kann sehr viel erreicht werden. Wenn dann noch das Miteinander, die Kultur und die Netiquette im Unternehmen stimmt, bin ich positiver Dinge, dass das Unternehmen eine sichere Basis zum Umgang mit digitalen Medien bietet.
Müller-Knöß:Präventiver Arbeitsschutz muss die Verhältnisse, unter denen gearbeitet wird, in den Blick nehmen. Es reicht nicht, darüber nachzudenken, wie Beschäftigte stark gemacht werden können für den Umgang mit digitalen Arbeitsmitteln. Vielmehr müssen insbesondere Arbeitsintensität und Arbeitszeiten genauer unter die Lupe genommen werden.
ASU: Frau Müller-Knöß, Herr Prof. Stowasser – vielen Dank für das Gespräch.
Info
Unter der Netiquette (auch Netikette geschrieben, ein Kofferwort aus dem englischen net für das „Netz“ und dem französischen etiquette für die „Verhaltensregeln“) versteht man das gute oder angemessene und achtende (respektvolle) Benehmen in der technischen (elektronischen) Kommunikation. Der Begriff beschrieb ursprünglich Verhaltensempfehlungen im Usernet, er wird aber mittlerweile für alle Bereiche in Datennetzen verwendet. Wenn auch von vielen Netzteilnehmern als sinnvoll erachtet, hat die Netiquette meist keinerlei rechtliche Relevanz. Teilaspekte der Netiquette werden häufig kontrovers diskutiert. Was im Netz als guter Umgang miteinander (noch) akzeptiert wird, ist sehr unterschiedlich und hängt von den Teilnehmern innerhalb des Kommunikationssystems ab, wobei es in der Hand des jeweiligen Betreibers/Verantwortlichen liegt, Art und Ausmaß der Netiquette vorzugeben, deren Einhaltung zu kontrollieren und Verstöße ggf. durch Ausschluss von Teilnehmern negativ zu sanktionieren. Es gibt keinen einheitlichen Netiquettetext, sondern eine Vielzahl von Texten und Vorgaben. (Quelle: Wikipedia)