Herausforderung demografische Entwicklung
Die demografische Entwicklung und das tendenziell höhere Ruhestandsalter erfordern in den Betrieben mehrdimensionale Konzepte, um älteren und chronisch erkrankten Beschäftigten eine bessere Teilhabe am Arbeitsleben ohne gesundheitliche Nachteile zu ermöglichen. Sowohl die Erkennung und positive Beeinflussung spezifischer betrieblicher wie individueller gesundheitlicher Integrationshürden als auch die Ableitung angemessener und wirksamer Präventions- und Lösungsansätze gehören damit zu den wichtigsten Aufgaben der Arbeitsmedizin.
Die mit dem Altern einhergehenden physiologischen Veränderungen und Beeinträchtigungen bedingen in der Praxis eher selten eine Einschränkung der Beschäftigungsfähigkeit, da einerseits andere Fähigkeiten mit dem Alter üblicherweise zunehmen und andererseits durch Arbeitsgestaltung und Hilfsmittel oft eine Kompensation ermöglicht werden kann. Entscheidender Engpass für eine optimale Integration älterer Beschäftigter ist vielmehr die zunehmende Häufigkeit chronischer Erkrankungen ( Abb. 1).
Auf betrieblicher Ebene ist folglich ein mehrdimensionales Vorgehen mit den Kernelementen gesundheitsgerechter Arbeitsgestaltung, arbeitsmedizinischer Vorsorge einschließlich Früherkennung und Beeinflussung von Risikofaktoren und einem umfassenden Betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) erforderlich (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013). Schwerpunkte dieser Übersicht sollen die betrieblichen Prozesse zur gesundheitsgerechten Arbeitsgestaltung und arbeitsmedizinische Beiträge im Rahmen des BEM sein.
Gesundheitsgerechte Arbeits-gestaltung
Betriebe können durch einen systematischen Prozess gesundheitsgerechter Arbeitsgestaltung weitgehend vermeiden, dass arbeitsbedingte Erkrankungen bzw. Berufskrankheiten entstehen – im Sinne primärer Prävention. Zugleich können so in der Breite günstige Arbeitsbedingungen geschaffen werden, die bei Auftreten gesundheitlicher Einschränkungen einzelner Beschäftigter – z.B. einer chronischen Erkrankung oder Behinderung – in vielen Fällen einen Tätigkeitswechsel oder eine individuelle Anpassung der Arbeitsgestaltung verzichtbar machen.
Verschiedene Ansätze und „Routinen“ können aufgrund praktischer Erfahrungen kombiniert werden und zu einem solchen systematischen Prozess beitragen, wobei natürlich branchenabhängig und für unterschiedliche Betriebsgrößen deutliche Anpassungen erforderlich sind. Beispielsweise wurden in Zusammenarbeit von Arbeitswissenschaft und Automobilindustrie praktikable Bewertungssysteme entwickelt, die ein betriebliches Monitoring und Berichtsystem über die Gestaltungsqualität repetitiver Arbeit in der Fertigung ermöglichen. Erst auf Grundlage der Messbarkeit und Monitoring-Routine können bedarfsgerechte betriebliche Zielsetzungen für die Gestaltungsqualität von Arbeitsplätzen abgeleitet und betrieblich vereinbart werden. Eine derartige Systematik kann z.B. auch durch Aufnahme in entsprechende Betriebsvereinbarungen verstetigt werden. Einschränkend ist festzustellen, dass diese Verfahren derzeit weitgehend auf biomechanischer Plausibilität basieren und eine Validierung anhand gesundheitlicher Indikatoren (z.B. arbeitsphysiologische Beanspruchungsparameter oder Erkrankungshäufigkeiten des Bewegungsapparats von Beschäftigten) noch aussteht. Arbeitsmediziner wirken im Rahmen ihrer Beratungstätigkeit, z.B. bei Begehungen und im Arbeitsschutzausschuss, auf eine solche betriebliche Systematik hin. Besonders wichtig ist eine Kompatibilität der wichtigsten Gestaltungskriterien für Arbeitsplätze und einer Systematik arbeitsmedizinischer Begutachtung der Einsatzbreite auf Wunsch von Beschäftigten. Nur wenn diese Begrifflichkeiten aufeinander abgestimmt und kompatibel sind, wird die Nutzung gesundheitlicher Gestaltungserfordernisse im Einzelfall auch als Planungsgrundlage für den Ergonomieprozess möglich. Einige Erfolgsfaktoren dafür sind – beispielhaft für die Automobilindustrie – der Checkliste zu entnehmen.
Betriebsärztliche Unterstützung der medizinischen Rehabilitation
Immer noch werden tatsächliche Arbeitsplatzanforderungen nur in Ausnahmefällen in die medizinische Rehabilitation eingebracht. Dadurch wird es sehr erschwert, realistische Rehabilitationsziele mit der/dem Erkrankten zu besprechen. In verschiedenen Modellprojekten „vernetzter Rehabilitation“ konnte gezeigt werden, dass sich bereits vor und in der Phase der medizinischen Rehabilitation eine betriebsärztliche Beteiligung lohnt (Weiler et al. 2006), beispielsweise durch folgende Beiträge:
- Erkennen und Besprechen von Reha-Bedarf
- Im Rahmen arbeitsmedizinischer Vorsorge, besonders der Wunschvorsorge
- Unterstützung bei der Antragstellung
- Beraten der Beschäftigten
- Kooperation mit behandelnden Kollegen
- G 1204: ärztlicher Befundbericht zum Reha-Antrag
- Information von Therapeuten über objektive Arbeitsanforderungen
- Koppelbar mit Gefährdungsanalyse/Ergonomieanalyse
- Je plastischer, desto besser (z. B. Fotodokumentation von Arbeitsplätzen)
- Kontakt und Unterstützung
- Mitgabe von Kontaktdaten schon an Gesunde erwägen
- Sensibilisieren von Personalabteilungen für das Thema (Re)Integration.
Arbeitsmedizinische Aufgaben in der betrieblichen Rehabilitation
Die individuelle betriebsärztliche Beratung zur Wiedereingliederung von Beschäftigten, aber auch maßgeblicher Partner der betrieblichen Rehabilitation ist bei angemessener und kontinuierlicher arbeitsmedizinischer Betreuung gut etablierte und bewährte Praxis – Arbeitsmediziner bewerten sowohl die Gesundheit der Beschäftigten als auch die gesundheitlich relevanten Arbeitsbedingungen und prüfen ihre Vereinbarkeit. Die Prozesse, Teilverantwortlichkeiten und Aufgabenverteilung sollten in einem BEM auf Unternehmensebene eindeutig abgestimmt und definiert sein.
Typische arbeitsmedizinische Aufgaben im BEM sind:
- Individuelle Begleitung und Beratung der Beschäftigten im Rahmen der Wiedereingliederung (Schweigepflicht)
- Arbeitsmedizinische Begutachtung der Einsatzbreite auf Wunsch bzw. im Einvernehmen mit den Beschäftigten
- Arbeitsmedizinische Prüfung früherer sowie vorgeschlagener zukünftiger Arbeitsplätze/Aufgaben.
In Abhängigkeit von der Betriebsstruktur und vom BEM-Konzept können Betriebsärzte darüber hinaus weitere wesentliche Beiträge leisten, z. B.:
- Identifikation von Bereichen/Arbeitsbedingungen mit erhöhten Reha-Hürden bzw. gesundheitsbezogener „Fluktuation“ innerhalb eines Unternehmens
- Hinwirken auf den Abbau betrieblicher (Re)Integrationshürden
- Initiativfunktion für das BGM und BEM im Unternehmen
- Einbringen anonymisierter Auswertungen und Erkenntnisse aus der arbeitsmedizinischen Vorsorge und aus der Reintegration in das BEM-/BGM-Gremium (z. B. den Arbeitsschutzausschuss)
- Einbringen von Erkenntnissen aus dem BEM-Prozess in die Gefährdungsbeurteilung.
Hemmende und fördernde Faktoren erfolgreicher Wiedereingliederung
Nicht nur die medizinischen und betrieblichen Eingliederungsmöglichkeiten, vielmehr auch die politische, soziale und kulturelle Bewertung der Arbeit älterer oder chronisch erkrankter Erwerbstätiger kann die erfolgreiche Rehabilitation sowohl in der medizinischen als auch in der betrieblichen Phase erheblich beeinflussen.
Zu den hemmenden Faktoren können z. B. gehören:
- Fehlender Zielkonsens aller Beteiligten zur medizinischen oder betrieblichen Rehabilitation
- Verbreitet negative Einstellungen zum Arbeiten mit chronischer Erkrankung
- Spannungsfeld „Demografischer Wandel – Lebensarbeitszeit – Rentenniveau“
- Historisch negative Stereotype bei Arbeitgebern und Gewerkschaften (z.B. Vorruhestandswellen der Vergangenheit)
- Verbreitete populärwissenschaftliche Konzepte (Burnout, Präsentismus usw.)
- Versicherungsrechtlich geprägtes Konzept der arbeitsmedizinischen Vorsorge vor ArbMedVV („gesundheitliche Bedenken“ oder auch nicht)
- „Gatekeeping“ als Rollenerwartung an Medizin, Sozialversicherungsträger, Politik
- Die immer noch häufige Fehlallokation medizinischer Reha-Angebote: Die „Bedürftigsten“ werden noch nicht zufriedenstellend erreicht.
Eine betriebliche Reintegration kann dagegen u.a. durch folgende Aspekte gefördert werden:
- Bindung, Vertrauen, Zuversicht der/des Erkrankten
- Unterstützendes Kollegium, wertschätzende Führungskräfte
- Positive Bedeutung und Bewertung der eigenen Arbeit
- Sinngebung, Selbstwirksamkeitserleben
- Attraktivität der Arbeit trotz chronischer Erkrankung
- Engagiert und im Konsens gelebtes BEM
- Vernetzung der am Rehabilitationsprozess Beteiligten
- Erweiterter Fokus der kurativen und Rehabilitationsmedizin – u.a. auf die soziale Integration und gesundheitsbezogene Lebensqualität
- Engagierte Arbeitsmedizin, Schutz der Persönlichkeitsrechte, konsequente Wahrung der Schweigepflicht, Ethikkodex der Arbeitsmedizin.
Literatur
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.) Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit – Arbeitsmedizinische Empfehlung. 2013.
Weiler SW, Hartmann B, Josenhans J, Hanse J, Hauck A, von Bodmann J, van Mark A, Kessel R: Arbeitsplatzorientierte Rehabilitation von Bauarbeitern – Ergebnisse der Pilotstudie „RehaBau“. Rehabilitation 2006, 45: 309–313.
Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.
Checkliste
Betrieblicher Ergonomieprozess am Beispiel eines Automobilherstellers
- Messbarkeit der Gestaltungsqualität von Arbeitsplätzen, z.B. durch abgestimmten Einsatz von Checklisten, der Leitmerkmalmethode, Arbeitsplatzmessungen usw.
- Betrieblich festgelegte und vereinbarte „Ergonomieziele“ auf quantitativer Grundlage, z. B.:
– „Demografieprognose“– Betriebsärztlich festgestellte Einsatzbeschränkungen nach Altersgruppen
- Kompatible Systematik der arbeitsmedizinischen Beurteilung und der Arbeitsanforderungen im Planungsprozess
- Verbindliche Ergonomieziele im Lastenheft der Planung von Unternehmensbereichen und Arbeitsplätzen
- Wirtschaftlichkeitskriterien mit Finanzbereich abgestimmt
- Routinequalifizierung zum Prozess und Unterstützung durch das Personalmanagement und Führungskräfte
- Gestaltungsqualität ist Berichtsroutine in Arbeitsschutzgremien (ASA).
Autor
Dr. med. Joachim Stork
Facharzt für Arbeitsmedizin
Frankenstraße 8
34131 Kassel