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SCHWERPUNKT | Psychische Gesundheit im Betrieb

Die Rolle der Führungskraft

Einleitung

Arbeitsunfähigkeitszeiten und Frühberentungen aufgrund psychischer Belastungen nehmen seit Jahren zu. Die Datenlage der Krankenkassen, aber auch der Unternehmen sprechen eine deutliche, eine eindeutige Sprache  – seien es die alljährlichen Gesundheitsreporte (z. B. DAK Gesundheitsreport 2016, s, „Weitere Infos“) oder die Statistiken der Rentenversicherungen. Die daraus entstehenden Folgen für die Volkswirtschaft sind erheblich, die Konsequenzen für die Unternehmen, aber auch für die Betroffenen (Arbeitnehmer, aber auch Führungskräfte) ebenfalls. Die Aufsichtsbehörden der Länder haben sich aus diesem Grund zusammengetan, um Beratungs- und Überwachungsstrategien zu schaffen (s. „Weitere Infos“). Dadurch sollen sowohl die Ursachen (Gefährdungsanalysen) verstanden als auch Strategien zur Bewältigung und Reduktion der Belastungen in der Arbeitswelt erstellt werden.

Führungskräfte und ihre Bedeutung für die Gesundheit der Mitarbeiter

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Rolle von Führungskräften für psychische Gesundheit im Betrieb und in der Arbeitswelt. Die Rolle der Führungskraft scheint eine enorme Bedeutung für die psychische Gesundheit von Arbeitnehmern zu haben:

  1. Gutes Führungsverhalten und gute Arbeit von Vorgesetzten sind die einzigen signifikanten Faktoren, für die eine Verbesserung der Arbeitsfähigkeit zwischen dem 51. und dem 62.  Lebensjahr von Arbeitnehmern nachgewiesen worden ist.
  2. Der Arbeitnehmer hat zwei Fehltage weniger, wenn der Chef lobt, anerkennt, eigene Fehler zugibt, sich Zeit nimmt, auf Ideen eingeht.
  3. Eine Führungskraft nimmt ihren Krankenstand mit, wenn sie versetzt oder befördert wird.

Ungeachtet dieser Quellen weiß jeder, der bereits als Praktikant während der Schulzeit oder später in der Ausbildung erste Schritte in das Arbeitsleben gegangen ist, dass die dort erlebten Erfahrungen entscheidenden Einfluss auf die Lebens- und Arbeitsfreude und auch auf das Engagement, die Motivation sowie das Interesse für den eigenen Ausbildungsweg, aber auch das spätere Berufsleben hervorbringen. Positive Erfahrungen, der Eindruck, freundlich aufgenommen zu sein, das Interesse an den Ideen und Vorstellungen, aber auch an den Visionen junger Leute, die Bereitschaft Professioneller, ihre Profession zu erklären, Zutrauen und Vertrauen, das Professionelle jungen Auszubildenden, Studierenden oder Praktikanten entgegenbringen, die eigene Freude und Begeisterung an dem jeweiligen Fach sowie die Vermittlung positiver Erfahrungen an der eigenen Fachlichkeit an andere sind entscheidende Faktoren, die Gesundheit, Leistungsfähigkeit, Kreativität, Interesse, die Fähigkeit, auch Durststrecken zu überwinden, Problemlösekompetenz und schließlich konstruktive Selbstwirksamkeitserfahrungen hervorzubringen vermögen.

„Neuroleadership“

Der neue Begriff „Neuroleadership“ beschäftigt sich mit den physiologischen, biologischen und anatomischen Gegebenheiten des zentralen Nervensystems und den daraus entstehenden Bedingungen zur Gestaltung von Arbeits- und Sozialräumen, die Gesundheit und Leistungsfähigkeit erschaffen können.

Grundlage dieses Begriffsverständnisses ist unter anderem die Konsistenztheorie nach Grawe (2004). Konsistenz bedeutet hier, dass neuronale Prozesse gleichzeitig, vereinbar und synchron ablaufen sollen und dass jeder Organismus sich dahingehend ausrichtet, einen konsistenten Zustand zu erreichen. Konsistenz entsteht nach Grawe, wenn die vier Grundbedürfnisse im sozialen Miteinander berücksichtigt und umgesetzt werden: Bindung, Autonomie, körperliches Wohlbefinden und Selbstwerterhöhung. Er spricht in diesem Zusammenhang auch von Kongruenz: Übereinstimmung zwischen dem, was ein Organismus benötigt, und dem was er gerade bekommt.

Werden diese Erkenntnisse auf die Arbeitswelt übertragen, kann eine konsistente Arbeitswelt dadurch gestaltet werden, dass Führungskräfte und Mitarbeiter aktiv für die Umsetzung der genannten vier Basisbedürfnisse eintreten und dieselben im zwischenmenschlichen Umgang miteinander realisieren. Das hört sich jedoch einfacher an als es ist. Die Gestaltung konsistenter Lebens- und Arbeitsräume setzt bei Führungskräften voraus, dass sie sich authentisch, empathisch, präzise, ehrlich, wertschätzend, fachlich verhalten. Konsistente Führung bedeutet, sich aufrichtig für den einzelnen Mitarbeiter zu interessieren, seine Arbeit, seine Person anzuerkennen (Selbstwerterhöhung, körperliches Wohlbefinden), seine Talente zu berücksichtigen (Orientierung und Kontrolle, Selbstwerterhöhung, Bindung), zu fördern, ihm Gestaltungsspielraum zu geben (Orientierung und Kontrolle) und ihn über lange Zeiträume zu begleiten (Bindung, Selbstwert, körperliches Wohlbefinden).

Bei Betrachtung der Arbeitswelt und der eingangs beschriebenen Zustände und Bedingungen wird schon deutlich, warum es so hohe Arbeitsunfähigkeitszeiten und so viele Frühberentungen aufgrund psychischer (und körperlicher) Leiden gibt: In der heutigen Arbeitswelt werden die Bedingungen konsistenten Führens nicht nur vielfach nicht beachtet.In einer Arbeitswelt, in der das Arbeiten ausschließlich auf das „Geldverdienen“ reduziert wird, in der es primär um „Wertschöpfung“ im materiellen Sinne geht und in der immer weniger Menschen immer mehr Arbeit erledigen müssen, um eine entsprechende Rendite zu erwirtschaften, bleiben die Basisbedürfnisse auf der Strecke. Dabei wird immer deutlicher, dass sehr wahrscheinlich höhere Renditen und höhere Leistungsfähigkeit durch konsistentes Führen hervorzubringen sind als durch autoritär entmündigendes Führungsverhalten. Gegebenenfalls wird es zukünftig ökonomisch messbar sein, welche Unternehmen welches Führungsverhalten bevorzugen und umsetzen. Erste Inhalte dieser Art sind bereits in der Betriebswirtschaft zu beobachten: Der Begriff „Agility“ bedeutet, auf verschiedenen unternehmerischen Ebenen Flexibilität und schnelle Anpassung an sich verändernde Märkte aufzuweisen. Ein wesentlicher Teil von „Agility“ ist die Etablierung eines konstruktiven Führungsverhaltens („servant leadership“; Greenleaf 2012). Dienende Führungskräfte schaffen Bedingungen, die es anvertrauten Mitarbeitern ermöglichen, ihre Fähigkeiten und ihre Leistungsfähigkeit auszubauen und zu entwickeln.

Das Training Emotionale Kompetenz

Das Training „Emotionale Kompetenz“ stellt eine Schlüsselqualifikation für Führungskräfte dar, ein Führungsverhalten zu erlernen, das die vier von Klaus Grawe beschriebenen Grundbedürfnisse umzusetzen hilft (Grawe 2004). Es wurde von Claude Steiner (1935–2017) beschrieben und erarbeitet (Steiner 2003). Er hat mit Eric Berne zusammen die Transaktionsanalyse entwickelt und sein Training in Emotionaler Kompetenz basiert auf den gleichen Grundannahmen und Strukturen. Der große Vorteil dieses Trainings ist, das es sich nicht nur um das reine Vermitteln von theoretischen Inhalten handelt. Diese sind auch von Bedeutung und nehmen eine nicht unwichtige Rolle ein. Im Wesentlichen geht es bei der Vermittlung dieses Trainings jedoch um neue, fundamentale emotionale Erfahrungen, denen sich auch uneinsichtige Führungskräfte vielfach nicht entziehen können. Davon ausgehend, dass die von Grawe beschriebenen Grundbedürfnisse genetisch determiniert bei jedem Menschen, bei jedem menschlichen Organismus vorliegen, kann davon ausgegangen werden, dass diese Grundbedürfnisse auch bei Führungskräften vorhanden sind.

In diesem Beitrag soll die Hypothese aufgestellt werden, dass es eine Korrelation gibt zwischen einerseits der individuellen Fähigkeit, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen und für sich umzusetzen, und andererseits einer damit korrespondierenden Fähigkeit, dies bei und für andere Menschen hervorzubringen, beispielsweise anvertrauten Mitarbeitern. Das Training in Emotionaler Kompetenz unterstützt Führungskräfte dabei, mit sich selbst hilfreicher und konstruktiver umzugehen und über diese Erfahrung genau diese Fähigkeit für andere immer weiter zu entwickeln und auszubauen. Hierbei müssen Produktivität, Leistungswille und auch Leistungsvermögen nicht auf der Strecke bleiben. Im Gegenteil: Emotional kompetentes Führungsverhalten ermöglicht erst, die volle Leistung zu erbringen, und zwar nicht aus Zwang oder durch Manipulation, Demütigung und Indoktrination, sondern auf einer Grundlage der Freiwilligkeit und der Freude am gemeinsamen Arbeiten, am gemeinsamen Erreichen von Zielen. Im Wesentlichen werden drei verschiedene Phasen, d.h. drei verschiedene Fähigkeiten Emotionaler Kompetenz unterschieden. Im Training sollen diese drei Fähigkeiten nacheinander und aufeinander aufbauend vermittelt werden.

Drei-Phasen-Training der emotionalen Kompetenz

Phase 1

Die erste Fähigkeit nennt Steiner: „Das Herz öffnen“. Innerhalb dieser Fähigkeit lernen Führungskräfte, sich und andere auf authentische Weise anzuerkennen und wertzuschätzen. Steiner hypothetisiert, dass sich in der westlichen Welt eine Art „Mangelwirtschaft“ etabliert hat (Stroke-Ökonomie), die dazu führt, dassviele, ohne es bewusst zu merken, das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung nicht ausreichend umsetzen. Innere Einstellungen wie „Was uns nicht tötet, härtet ab“, „Nur die Harten kommen in den Garten“, „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“, „ Augen zu und durch“ sind Muster, die unbemerkt das Verhalten (nicht selten das Verhalten von Führungskräften) steuern. In dieser ersten Phase Emotionaler Kompetenz lernen Führungskräfte, auf einer emotionalen Erfahrungsebene gegen diese Muster und Schemata zu verstoßen und ihre tatsächlichen Bedürfnisse mit anderen auf gesunder und konsensueller Basis zu teilen. Dies kann zu tiefen und berührenden Erfahrungen der Selbstakzeptanz führen, die wiederum Voraussetzung dafür ist, eine empathische Führungskraft zu sein.

Phase 2

Steiner bezeichnet die zweite Phase emotionaler Kompetenz als die Fähigkeit „die emotionale Landkarte zu entdecken“. In dieser zweiten Fähigkeit lernen Führungskräfte, die eigenen Emotionen, aber auch die Emotionen anderer besser zu verstehen und miteinander zu teilen. Emotionen stellen in der heutigen komplexen sozialen Welt, innerhalb der immer arbeitsteiliger anspruchsvolle Aufgaben zu erfüllen sind, eine Art „inneren Kompass“ dar, der situativ vermittelt, welches Verhalten jetzt angebracht ist. Es gibt innerhalb eines anspruchsvollen Arbeitstages für eine Führungskraft keine „Patentrezepte“ sozialen Verhaltens. Ein und derselbe sachliche Anlass kann je nach Kooperationspartner und Kontext zu völlig unterschiedlichen Reaktionen und Handlungen einer Führungskraft führen. Im Sinne des Trainings Emotionaler Kompetenz ist es hilfreich zu wissen, dass zu jedem Zeitpunkt die Fähigkeit verfügbar ist, hoch komplexe soziale Situationen zu verstehen und sich angemessen und konstruktiv zu verhalten. In dieser zweiten Phase emotionaler Kompetenz spielen auch Phantasien und die Kommunikation derselben eine Rolle.

Phase 3

Die dritte Fähigkeit in diesem Training nennt Steiner „Verantwortung übernehmen“. Hierbei geht es darum, dass in jeder sozialen Interaktion die Gefahr besteht, auch Grenzen zu verletzten, jemanden zu kränken oder sogar Schmerz zuzufügen. Im Sinne dieses Trainings lernen Führungskräfte sich zu entschuldigen und Verantwortung für ihr Verhalten zu übernehmen. Nichts lässt eine Führungskraft, einen Menschen so wachsen, wie im Aussprechen einer Entschuldigung. Wichtig ist, wie in jeder emotional kompetenten Interaktion, dass diese ehrlich erlebt und ernsthaft umgesetzt werden.

Umsetzung und Fazit

Der Autor führt seit ca. 10 Jahren regelmäßig Trainings dieser Art durch. Hierbei interessieren sich große Unternehmen immer mehr für diese Methode. Einige haben das Training in emotionaler Kompetenz bereits in ihre Ausbildungscurricula für die Entwicklung von Führungskräften integriert. Das Training in Emotionaler Kompetenz stellt einen Paradigmenwechsel in der Arbeitswelt dar. Zunächst erscheint die Vorgehensweise, die Methode, einfach zu sein, beinahe naiv und nicht wenige halten emotional kompetentes Verhalten in der Arbeitswelt für nicht umsetzbar. Es wird auch immer Unternehmen geben, die ein solches Führungsverhalten nicht unterstützen. Es ist aber von großer Bedeutung, dass die Neurowissenschaften und die Arbeitswelt immer mehr zu ähnlichen Ergebnissen kommen: Es müssen physiologische und biologische Bedingungen geschaffen werden, dass in einer immer älter werdenden Gesellschaft der Einzelne gesund die Altersgrenze erreicht. Jede Methode und jedes Konzept, das hilft, Basisbedürfnisse in der Arbeitswelt angemessen umzusetzen, sollte willkommen sein.

Literatur

Grawe K: Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe, 2004.

Greenleaf R: The servant as a leader. Atlanta, GA: The Greenleaf Center for Servant Leadership, 2012.

Steiner C: Emotional Literacy, Intelligence with a Heart. Fawnskin, CA: Personhood Press, 2003.

    Weitere Infos

    DAK Gesundheitsreport 2016

    https://www.dak.de/dak/download/gesundheitsreport-2016---warum-frauen-und-maenner-anders-krank-sind-1782660.pdf

    Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie: Leitlinie Beratung und Überwachung bei psychischen Belastungen am Arbeitsplatz

    www.gda-portal.de/de/pdf/Leitlinie-Psych-Belastung.pdf?__blob=publicationFile

    Autor

    Matthias Gasche

    Facharzt für Psychosomatische Medizin

    Gelderland-Klinik

    Clemensstr. 10

    47608 Geldern

    matthiasgasche@yahoo.de

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