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Status quo und aktuelle Entwicklungen

20 Jahre Berufskrankheit der Lendenwirbelsäule (BK 2108)

Die im Jahre 2005 veröffentlichten Konsensempfehlungen legten einheitliche Grundlagen für die medizinische Beurteilung der BK 2108 „Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung …“.

Bei der Ermittlung und Bewertung der arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 2108 wurde durch das im Jahre 1999 veröffentliche Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD) ein wesentlicher Fortschritt erzielt. Bei annäherndem Erreichen der Orientierungswerte nach dem MDD (25 MNh für Männer, 17 MNh für Frauen) wurde eine Verdoppelung des Erkrankungsrisikos als gegeben angesehen. Seit der 2007 veröffentlichten Erstauswertung der Deutschen Wirbelsäulenstudie (DWS I) wird diskutiert, ob auch deutlich unterhalb der Orientierungswerte des MDD Risiken für die Entstehung einer bandscheibenbedingten Erkrankung bestehen.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat im Oktober 2007 in Anbetracht des noch unzureichenden Erkenntnisstandes zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen entschieden, dass das Vorliegen einer BK 2108 bereits dann medizinisch zu prüfen ist, wenn der Orientierungswert nach dem MDD (modifiziert berechnet) zur Hälfte erreicht ist, d. h. ab 12,5 MNh für Männer und – in analoger Anwendung – 8,5 MNh für Frauen. Das BSG hat damit keine neue „Verdoppelungsdosis“ definiert, sondern einen Grenzwert, unterhalb dessen eine medizinische Prüfung nicht erforderlich ist. Die Konsensempfehlungen für die medizinische Beurteilung behielten auch nach dem BSG-Urteil aus dem Jahr 2007 ihre Gültigkeit.

Die medizinische Diskussion zur Aussagekraft und den Konsequenzen der DWS und ihrer Ende 2012 erstmalig vorgestellten Nachauswertung (DWS II) wird kontrovers geführt. Es wird unterschiedlich beurteilt, ob es gerechtfertigt ist, aus der DWS eine neue „Verdoppelungsdosis“ oder neue medizinische Kriterien für die Zusammenhangs-beurteilung bei der BK 2108 abzuleiten. Im Zentrum der Kontroverse steht, ob bzw. inwieweit mit der DWS – wie beabsichtigt – eine berufsbedingte Häufung von struk-turellen Bandscheibenschäden gemessen wurde oder nur eine häufigere Inanspruch-nahme ärztlicher Behandlung aufgrund einer berufsbedingten Beschwerdeauslö-sung/-verstärkung bei berufsunabhängig entstandenen Bandscheibenschäden. Die Hauptautoren der DWS streben auf der Basis ihrer Studie eine Ausweitung der Legaldefinition der BK 2108 an. Voraussichtlich werden die Ergebnisse der Nachauswertung der DWS im Frühjahr 2014 dem Ärztlichen Sachverständigenbeirat „Sektion Berufskrankheiten“ vorgestellt. Das Ergebnis der dortigen Beratungen und die Reaktion des Verordnungsgebers bleiben abzuwarten.

Einleitung

Chronische Rückenschmerzen sind häufig und haben große volkswirtschaftliche Auswirkungen. Bandscheibenbedingte Erkrankungen sind nur ein Teilaspekt dieses Geschehens. Die meisten chronischen Rückenschmerzen sind multifaktoriell im Sinne eines biopsychosozialen Krankheitsmodells zu erklären (Bigos et al. 1998; Nachemson 1998; Stadler u. Spieß 2009; Vingard u. Nachemson 2000; Voigt et al. 2014).

Die bandscheibenbedingten Erkrankungen der Wirbelsäule wurden zum 01. 01. 1993 auf Empfehlung des ärztlichen Sachverständigenbeirats „Sektion Berufskrankheiten“ als Listenkrankheiten in die Berufskrankheitenverordnung mit den Nummern 2108, 2109 und 2110 aufgenommen. Diese Empfehlung beruhte u. a. auf der Berufskrankheitenverordnung der ehemaligen DDR, die unter BK-Nr. 70 eine Entschädigung von berufsbedingten Verschleißerkrankungen der Wirbelsäule vorsah. Die größte praktische Bedeutung kam dabei der BK 2108 „Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung …“ zu.

Seit Einführung der BK 2108 wurden weit über 100 000 Verdachtsfälle gemeldet. Die Zahl der gemeldeten Verdachtsfälle war auch aufgrund der Rückwirkungsklausel in den ersten Jahren nach Einführung der BK 2108 am höchsten. In den letzten Jahren hat sich sie sich auf knapp 5000 bis 6000 Verdachtsfälle pro Jahr eingependelt. Die Anerkennungsquote ist relativ gering: 2011 wurden 4939 Verdachtsfälle angezeigt; 388 Fälle wurden anerkannt, davon 254 neue Rentenfälle. Hinzu kamen 458 Fälle mit Übergangsleistungen nach § 3 Abs. 2 BKV. Gleichwohl ist die BK 2108 damit noch vor der BK 2102 („Meniskusschäden …“) die „mechanische“ Berufskrankheit mit den meisten neuen Anerkennungen und den mit Abstand meisten neuen Rentenfällen.

In der Entwicklung in der Umsetzung der BK 2108 sind – in zeitlicher Reihenfolge – die nachfolgenden Landmarken von besonderer Bedeutung:

  • 1999: Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD)
  • 2005: Konsensempfehlungen
  • 2007: Erstauswertung Deutsche Wirbelsäulenstudie (DWS I)
  • 2007: BSG-Urteil vom 30. 10. 2007
  • 2012: Nachauswertung Deutsche Wirbelsäulenstudie (DWS II)

Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD)

Gegenstand der BK 2108 sind nach der Legaldefinition „bandscheibenbedingte Er-krankungen der LWS durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeit in extremer Rumpf-beugehaltung“. Im Merkblatt zur BK 2108 (BMAS 2006) wird als Anhaltspunkt für eine langjährige Tätigkeit angegeben, dass etwa 10 Berufsjahre als untere Grenze der Dauer der belastenden Tätigkeit zu fordern sind. Dies ist für die Anzeige von Verdachtsfällen hilfreich. Für Zwecke der Begutachtung ist eine Orientierung nur an der Einwirkdauer in Jahren aber nicht ausreichend, da die Intensität der beruflichen Belastung unberücksichtigt bliebe. Allein anhand der gehobenen Lastgewichte und der Häufigkeit der Hebevorgänge kann die Gefährdung nicht abgeschätzt werden, da weitere Parameter, wie die eingenommene Körperhaltung, die an der Bandscheibe wirksam werdende Belastung wesentlich beeinflussen. Bei der Ermittlung und Bewertung der arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 2108 wurde durch das Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD) ein wesentlicher Fortschritt erreicht (Hartung et al. 1999; Jäger et al. 1999). Beim MDD werden die auf die Bandscheiben einwirkenden Kompressionskräfte quadratisch gewichtet. Dadurch kann das MDD auch die Gefährdung durch Tätigkeiten mit wiederholten Spitzenbelastungen angemessen wiedergeben. Ausgehend von einer Analyse der verfügbaren Literatur wird im MDD als Orientierungswert für eine Gefährdung eine Gesamtdosis von 25 MNh bei Männern und von 17 MNh bei Frauen angegeben. Hierbei wird statistisch von einer Verdoppelung des Risikos einer bandscheibenbedingten Erkrankung ausgegan-gen, wenn der geschlechtsspezifische Orientierungswert zumindest annähernd erreicht wird. Nach dem Original-MDD gehen in die Berechnung alle Hebe- und Tragevorgänge mit Kompressionskräften von mindestens 3200 N bei Männern und mindestens 2500 N bei Frauen sowie Arbeiten in extremer Rumpfbeuge ein, wenn eine Tagesdosis von 5500 Nh bei Männern und 3500 Nh bei Frauen erreicht wird.

Konsensempfehlungen

Auf Anregung der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV, damals noch HVBG) wurde eine interdisziplinäre Konsensusarbeitsgruppe eingerichtet, die die medizinischen Beurteilungskriterien zu den bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule (LWS) konkretisiert hat. Die Ergebnisse der Konsensusarbeitsgruppe wurden in der Zeitschrift „Trauma und Berufskrankheit“ veröffentlicht (Bolm-Audorff et al. 2005a,b).

Krankheitsbild

Das Symptom „Rückenschmerz“ ist in der Bevölkerung weit verbreitet und erlaubt für sich nicht den Rückschluss auf das Vorliegen einer bandscheibenbedingten Erkrankung. Psychosoziale Faktoren wie z. B. Depression, Stress oder Unzufriedenheit am Arbeitsplatz, aber auch passiver Lebensstil können Rückenschmerzen verursachen. Ein Großteil der Arbeitsunfähigkeiten wegen Rückenschmerzen ist durch psychosoziale Faktoren bedingt (Bigos et al. 1998; Nachemson 1998). Die meisten chronischen Rückenschmerzen sind multifaktoriell zu erklären im Sinne eines biopsychosozialen Krankheitsmodells. Andere organische Wirbelsäulenerkrankungen, z. B. Osteoporose, sind abzugrenzen.

Die in den bildgebenden Verfahren nach-weisbaren strukturellen Veränderungen mit dem eigentlichen Krankheitspotenzial sind Chondrosen, d. h. Höhenminderungen von Bandscheiben, sowie Bandscheibenvorfälle mit Bedrängung von Nervenwurzeln. Spondylosen (Randzackenbildungen) und Os-teosen (Sklerosierungen der Wirbelkörperdeck- und -tragplatten) haben i. d. R. keinen Krankheitswert, wenn sie nicht mit Höhenminderungen des Bandscheibenraums verbunden sind. Bandscheibenvorfälle sind nur als klinisch relevant zu bewerten, wenn eine korrespondierende neurologische Symptomatik nachgewiesen ist.

Die Erfahrungen mit modernen Schnittbildverfahren haben ergeben, dass Band-scheibenvorfälle als Zufallsbefund bei beschwerdefreien Personen keineswegs selten sind (Boden et al. 1990; Wiesel et al. 1984). Protrusionen (Vorwölbungen) von Band-scheiben lassen sich im mittleren Lebensalter etwa bei der Hälfte der beschwerdefreien Personen nachweisen (Powell et al. 1986). Sie haben i. d. R. keinen Krankheitswert.

Der bildgebende Nachweis eines Band-scheibenschadens (Höhenminderung und/oder Vorfall) ist unabdingbare, aber nicht hinreichende Voraussetzung für den Nachweis einer bandscheibenbedingten Erkrankung. Hinzukommen muss eine korrelierende klinische Symptomatik (Segmentbefund). Rückenschmerzen aufgrund von primären Spondylarthrosen sind keine bandscheiben-bedingte Erkrankung. Anders verhält es sich bei sekundären Spondylarthrosen, die als Folge eines Bandscheibenschadens (Höhen-minderung der Bandscheibe/segmentale Instabilität) entstanden sind. Zur Unterscheidung der klinischen Krankheitsbilder siehe Infokasten.

Zusammenhangsbeurteilung

Das Halte- und Bewegungssystem des Menschen ist auf Belastung und Funktion angewiesen, um gesund zu bleiben. Die Grenze zur Schädigung ist individuell unterschiedlich. Auch bei erfüllten arbeitstechnischen Voraussetzungen hält die Mehrzahl der so Exponierten den Belastungen Stand und entwickelt keine bandscheibenbedingte Erkrankung. Hinzu kommt, dass bandscheibenbedingte Erkrankungen auch in der beruflich nicht belasteten Bevölkerung weit verbreitet sind. Der individuelle Nachweis eines Ursachenzusammenhangs zwischen beruflicher Belastung und bandscheibenbedingter Erkrankung wird dadurch erschwert (Pöhl et al. 1997).

Zeitlicher Verlauf, Erstmanifestation

Ist eine manifeste bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS bereits vor Erreichen einer ausreichenden beruflichen Gesamteinwirkung nachgewiesen, ergeben sich zwei Konsequenzen:

  • Der vorzeitig eingetretene Schaden ist nicht berufsbedingt, sondern auf eine Bandscheibenerkrankung innerer Ursache zurückzuführen.
  • Der weitere Verlauf ist i. d. R. schicksalhaft, bestimmt durch das Weiterwirken der inneren Ursachenfaktoren und die Eigendynamik der bereits vorhandenen Bandscheibenschäden. Ein zusätzlicher Einfluss fortgesetzter beruflicher Belastungen lässt sich in den meisten Fällen nicht abgrenzen.

Zuweilen erfolgt die Erstmanifestation der Erkrankung erst nach Aufgabe der belastenden Tätigkeit. Für diese Fälle gilt, dass die Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs mit den beruflichen Belas-tungen mit der Länge des Zeitraums zwischen Ende der Exposition und erstmaliger Diagnose der Erkrankung abnimmt.

Ausprägung der strukturellen Bandscheibenschäden

Die Bandscheibenschäden müssen deutlich über die Schwankungsbreite der altersentsprechenden Norm hinausgehen. Während der Erwerbsjahre ist dies bei Höhenminderungen von Bandscheiben von mehr als 1/3 (Grad II oder höher,  Tabelle 1) und Bandscheibenvorfällen der Fall. Bei geringen bis mäßigen Bandscheibenschäden, z. B. Signalminderungen von Bandscheiben im MR-Tomogramm, Protrusionen sowie leichten Höhenminderungen von Bandscheiben (Grad I), kann eine berufliche Verursachung mit den heutigen Erkenntnismöglichkeiten nicht mit dem Grad der Wahrscheinlichkeit festgestellt werden. Die verfügbaren epidemiologischen Studien für Belastungen im Sinn der BK 2108 zeigen eine zweifache Häufung nur für ausgeprägte Bandscheibenschäden. Bei geringen bis mäßigen Bandscheibenschäden ist dies nicht der Fall. So stellten Riihimäki et al. (1989) erstgradige Höhenminderungen von Bandscheiben in 39 % der von ihnen untersuchten Stahlbetonbauer und in 38,8 % der Kontrollgruppe fest. Zweit- bis drittgradige Höhenminderungen von Bandscheiben fanden sich in 27,8 % der Stahlbetonbauer und in 15,4 % der Kontrollgruppe.

Ein wesentliches Problem bei der Auswertung von Gutachten zur BK 2108 war in der Vergangenheit, dass eine einheitliche Klassifikation der durch Bildgebung dargestellten Befunde den Gutachtern nicht zur Verfügung stand. Nicht definierte qualitative Begriffe wie „leicht“ und „ausgeprägt“ wurden von verschiedenen Gutachtern z. T. sehr unterschiedlich verwendet. Dies führte dazu, dass Beurteilungen des Gutachters, ob z. B. ein Bandscheibenbefund in der Schwankungsbreite der altersentsprechenden Norm lag oder darüber hinausging, anhand des schriftlichen Gutachtens in vielen Fällen vom Leser nicht auf Schlüssigkeit geprüft werden konnten. Von der auf Anregung der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung eingerichteten interdisziplinären Konsensusarbeitsgruppe wurde daher eine Klassifikation bildgebender Befunde nach Schweregrad erarbeitet und für die unterschiedlichen Ausprägungen der Befunde jeweils angegeben, ob diese altersuntypisch sind (Ergebnisse für LWS und untere BWS, s. Tabelle 1). Mit dem Ausdruck „altersun-typisch“ soll ausgedrückt werden, dass ein Befund über die Schwankungsbreite der altersentsprechenden Norm hinausgeht und in diesem Sinn auffällig ist. Soweit in Tabelle 18-2 keine anderen Angaben gemacht werden, bezieht sich die Angabe „altersuntypisch“ auf Personen in den erwerbstätigen Altersgruppen, also bis 65 Jahre. Die Feststellung eines „altersuntypischen“ Be-funds erlaubt als solche noch keinen Rück-schluss auf die Ursache, sie ist Eingangs-voraussetzung für die weitere Prüfung.

Bei der Chondrose ist zu berücksichtigen, dass physiologisch die Höhe der Bandscheiben von L1/2 bis L4/5 zunimmt, während die Bandscheibe L5/S1 wieder flacher ist (Shao et al. 2002). Maßgeblich für die Schweregradeinteilung der Chon-drosen ist die normierte relative Bandscheibenhöhe, die mittels der Korrekturfaktoren nach Roberts et al. (1997) berechnet wird ( Tabelle 2).

Bei der Verlagerung von Bandscheibegewebe handelt es sich bei den Grenzbefunden umso eher um einen Bandscheibenvorfall, je fokaler der Befund ausgedehnt ist.

Belastungskonformität

Aus biomechanischer Sicht ist bei einer berufsbedingten Bandscheibenerkrankung der LWS eine Betonung der Bandscheibenschäden an der unteren LWS zu erwarten, wobei Spuren der Belastung jedoch auch in den höheren Lendenwirbelsäulensegmenten erkennbar sein sollten. Beim Tragen von Lasten in aufrechter Körperhaltung sind die Kompressionskräfte in allen lumbalen Bandscheiben nahezu gleich. In Rumpfvorbeuge wird aufgrund der Hebelwirkung die untere LWS am stärksten belastet, es fallen aber auch im Bereich der mittleren und oberen LWS relevante Belastungen an. Die Unterschiede in den Druckkräften zwischen der unteren LWS und den höheren Lendenwirbelsäulensegmenten werden z. T. dadurch ausgeglichen, dass der Querschnitt der Lendenwirbelsäulenbandscheiben nach unten hin zunimmt. Die Scherbelastung kann bei den oberen Segmenten erhöht sein, also möglicherweise ein entgegengesetztes Belastungsprofil aufweisen.

Nach Hult (1954) sind deutliche Höhenminderungen (Chondrosen) von Bandscheiben („clearly decreased disc height) in allen Segmenten der LWS bei Schwerarbeitern deutlich häufiger als in der Normalbevölkerung. Dabei ist die relative Häufung von deutlichen Chondrosen bei schwerer im Vergleich zu leichter Arbeit an der mittleren und oberen LWS am höchsten (da Bandscheibenschäden dort bei den nicht Exponierten selten sind), absolut am häufigsten sind berufsbedingte Chondrosen in den unteren beiden Lendenwirbelsäulensegmenten. Dies passt gut dazu, dass berufliche Belastungen im Sinne der BK 2108– wie biomechanisch zu erwarten – zu einem mehrsegmentalen Befall der LWS mit Betonung der unteren LWS führen. Rechnerisch könnte das von Hult für die deutlichen Höhenminderungen von Bandscheiben angegebene Verteilungsmuster zwar auch durch einen monosegmentalen Befall in unterschiedlichen Höhen bei jeweils unterschiedlichen Probanden zustande kommen, dies ist jedoch aus biomechanischer Sicht kaum plausibel. Auch die Erfahrungen aus der Begutachtung zeigen, dass Höhenminderungen in den Segmenten L3/4 und höher bei belasteten Antragstellern typischerweise im Rahmen eines mehrsegmentalen Befalls mit Betonung der unteren LWS gesehen werden, während isolierte Höhenminderungen der Segmente L3/4 und höher – wie auch in der Normalbevölkerung – selten sind.

Spondylosen sind bei schwerer Arbeit im Vergleich zu leichter Arbeit in allen Segmenten der LWS deutlich häufiger. Die absolute Häufigkeit der Spondylosen ist hierbei in allen Segmenten der LWS deutlich höher als die der Chondrosen. Bei den Spondylosen kann das von Hult angegebene Verteilungsmuster bereits rechnerisch nur durch einen gehäuften mehrsegmentalen Befall bei Schwerarbeitern zustande kommen.

Bei Erfüllung der Grundvoraussetzun-gen ist nach den Empfehlungen der Kon-sensusarbeitsgruppe anhand der in  Tabelle 3 angegebenen Positiv- und Negativ-indizien abzuwägen, ob ein Ursachenzusammenhang wahrscheinlich ist:

Für den Vergleich zwischen der LWS und den belastungsfernen Wirbelsäulenabschnitten HWS und BWS sind Chondrosen und Vorfälle maßgeblich. Nicht mit Chondrosen einhergehende Spondylosen der HWS und/oder BWS haben bei gleichzeitigem Vorliegen einer altersuntypisch ausgeprägten Spondylose an der LWS keine negative Indizwirkung. Die von einigen Mit-gliedern der Konsensusarbeitsgruppe ver-tretene Auffassung, bildgebend nachgewiesene Bandscheibenschäden an den belas-tungsfernen Wirbelsäulenabschnitten nur dann bei der Abwägung des Ursachenzusammenhanges als Negativkriterium zu berücksichtigen, wenn diese mit einer klini-schen Erkrankung einhergehen, war nicht konsensfähig. Als „Begleitspondylose“ wird definiert: eine Spondylose

  • in/im nicht von Chondrose oder Vorfall betroffenen Segment(en) sowie
  • in/im von Chondrose oder Vorfall be-troffenen Segment(en), die nachgewie-senermaßen vor dem Eintritt der bandscheibenbedingten Erkrankung im Sinne einer Chondrose oder eines Vorfalls aufgetreten ist.
  • Um eine positive Indizwirkung für eine berufsbedingte Verursachung zu haben, muss die Begleitspondylose über das Altersmaß (s. oben) hinausgehen und mindestens 2 Segmente betreffen. (Anm.: Spondylosen, die auf einen konkurrierenden Ursachenfaktor zurückgeführt werden können – wie Abstütz-reaktionen bei Skoliose – gelten nicht als Begleitspondylose mit Indizwirkung für eine berufliche Verursachung.)
  • Bei Vorliegen einer Begleitspondylose als Positivkriterium ist eine Anerkennung als Berufskrankheit auch möglich, wenn konkurrierende Ursachenfaktoren erkennbar werden, die jedoch das Schadensbild nicht durch eine überragende Qualität erklären.
  • Bei beruflichen Belastungen, bei denen sich die Gefährdung hauptsächlich aus wiederholten Spitzenbelastungen ergibt, hat das Fehlen einer Begleitspondylose keine negative Indizwirkung.

Zusammenhangsbegutachtung bei typischen Fallkonstellationen

Von der Konsensusarbeitsgruppe wurden Befundkonstellationen, wie sie sich typischerweise bei der Begutachtung ergeben, definiert und die Einschätzung zur Beurteilung des Ursachenzusammenhangs entsprechend der jeweiligen Befundkonstellation wiedergegeben (Bolm-Audorff et al. 2005a).

Bei der Beurteilung von 15 der insgesamt 21 Fallkonstellationen bestand Einigkeit zwischen den Experten. Für sechs Konstellationen konnte kein einstimmiger Konsens erzielt werden. Die unterschiedlichen Sichtweisen zu den nicht im Konsens beurteilten Fallkonstellationen können den Anhängen 1 und 2 auf S. 219–222 des Konsensuspapiers entnommen werden.

A-Konstellationen: Ist eine bandscheibenbedingte Erkrankung nicht nachgewiesen (Konstellation A1) oder liegt eine ausreichende berufliche Einwirkung nicht vor (Konstellation A 2), kann eine BK 2108 nicht anerkannt werden.

B-Konstellationen: Für alle B-Konstellationen gilt:

  • Lokalisation: Die bandscheibenbedingte Erkrankung betrifft L5/S1 und/oder L4/5
  • Ausprägung des Bandscheibenschadens: Chondrose Grad II oder höher

B-Konstellationen sind häufig. Die Konstellationen, bei denen ein Ursachenzusammenhang im Konsens als wahrscheinlich beurteilt wurde, haben gemeinsam, dass ent-weder eine „Begleitspondylose“ nach Definition der Konsensempfehlungen vorliegt oder mindestens 1 der Zusatzkriterien der Konstellation B 2 erfüllt ist ( Tabelle 4).

Tabelle 5 zeigt, wie die B-Konstellationen ohne erkennbare wesentliche spezielle konkurrierende Ursachenfaktoren durch die Konsensusarbeitsgruppe beurteilt wurden.

Sind wesentliche spezielle konkurrierende Ursachenfaktoren erkennbar, führt dies in Fällen ohne „Begleitspondylose“ da-zu, dass ein Ursachenzusammenhang nicht wahrscheinlich ist (Konstellation B 10). Bei den Fällen mit „Begleitspondylose“ ist dies – bei ansonsten erfüllten Anerkennungsvoraussetzungen – nur dann der Fall, falls die konkurrierenden Krankheitsursachen das Schadensbild durch eine überragende Qualität erklären (Konstellation B 9).

C-Konstellationen: Für alle C-Konstellationen gilt:

  • Lokalisation: Die bandscheibenbedingte Erkrankung betrifft nicht die unteren beiden LWS-Segmente.
  • Ausprägung des Bandscheibenschadens: Chondrose Grad II oder höher und/oder Vorfall

Die Beurteilung der – seltenen – C-Konstellationen durch die Konsensusarbeitsgruppe zeigt  Tabelle 6.

D- und E-Konstellationen: Bei leichten Bandscheibenschäden im Sinne von Chondrosen Grad I oder Protrusionen liegt meist kein Krankheitswert vor und damit auch keine bandscheibenbedingte Erkrankung, so dass bereits aus diesem Grund das Vorliegen einer Berufskrankheit abzulehnen ist (Konstellation A 1). Hinzu kommt, dass Chondrosen Grad I und Protrusionen nur bei Personen unter 50 bzw. 40 Jahren altersuntypisch sind. Für solche leichten Bandscheibenschäden ist epidemiologisch eine relevante berufsbedingte Häufung im Vergleich zur Normalbevölkerung nicht nachgewiesen. Auch wenn im Einzelfall ein Krankheitswert vorliegen sollte (Konstellation D bei Protrusionen und Konstellation E bei Chondrosen Grad I), ist i. d. R. kein Aufgabezwang vorhanden. Eine bejahende Aussage zum Ursachenzusammenhang lässt sich bei diesen leichten Bandscheiben-schäden selbst bei Vorliegen einer Begleitspondylose kaum mit dem Grad der Wahrscheinlichkeit treffen. Bei fehlenden wesentlichen konkurrierenden Ursachenfaktoren ist es sinnvoll, die Frage des Ursachenzusammenhangs zunächst offen zu lassen. Bei Fortführen der belastenden Tätigkeit ist später ggf. eine erneute Begutachtung zu veranlassen, da im weiteren Verlauf eine berufliche Verursachung noch erkennbar werden könnte. Bei Vorliegen einer Begleitspondylose können ggf. §-3-Maßnahmen ohne bescheidsmäßige Anerkennung eines Ursachenzusammenhangs angezeigt sein. Falls im Ausnahmefall aufgrund einer Bandscheibenprotrusion bei zusätzlichem Vorliegen eines engen Spinalkanals ein Aufgabezwang gegeben sein sollte und eine Begleitspondylose als positives Indiz für einen Ursachenzusammenhang vorliegt, ist eine Anerkennung als Berufskrankheit vertretbar (Grenzfall).

Konkurrierende Ursachen

Beim Großteil der bandscheibenbedingten Erkrankungen in der beruflich nicht belasteten Bevölkerung handelt es sich um eigenständige Erkrankungen innerer Ursache, bei denen sich die zugrunde liegende Ursache mit unseren heutigen Erkenntnismöglichkeiten nicht feststellen lässt. Gesichert ist, dass neben unbekannten Faktoren die genetische Prädisposition eine wesentliche Rolle spielt. Abgesehen von Ausnahmefällen – Vorhandensein eines eineiigen Zwil-lingsbruders ohne berufliche Belastung und mit bekanntem Degenerationszustand der LWS –, entzieht sich die genetische Prädisposition jedoch bisher, bezogen auf den Einzelfall, dem direkten Nachweis. Für die Begutachtung bedeutet dies, dass der fehlende Nachweis erkennbarer konkurrierender Ursachen als solcher keinen Rückschluss auf eine berufsbedingte Verursachung erlaubt. Auch bei Fehlen erkennbarer konkurrierender Ursachenfaktoren ist das Vorliegen eines belastungskonformen Schadensbildes Voraussetzung für eine Anerkennung.

Eine detaillierte Darstellung der nach dem heutigen Wissenstand nachgewiesenen konkurrierenden Ursachenfaktoren mit Literaturverweisen kann der Publikation der Konsensusarbeitsgruppe (Bolm-Audorff et al. 2005a) entnommen werden (Übersicht siehe  Tabelle 7).

Zwang zur Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit

Das wesentliche Kriterium für die Beurteilung des Zwangs zur Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit ist die Ausprägung der Funktionseinschränkungen, die nach adäquater Behandlung der bandscheibenbedingten Erkrankung verblieben sind. Insbesondere ist die präventive Aufgabe der belastenden Tätigkeit nicht erforderlich, wenn nach erfolgreicher konservativer oder operativer Therapie eines Bandscheibenvorfalls keine oder nur geringe Funktionseinschränkungen verblieben sind. Der Gefahr einer wesentlichen Verschlimmerung durch fortgesetzte berufliche Belastungen kann i. d. R. auch durch weniger eingreifende Präventionsmaßnahmen (Rückenschule, organisatorisch-technische Maßnahmen am Arbeitsplatz) ausreichend begegnet werden. Besonders bei jüngeren Patienten kann eine geplante Kontrolluntersuchung angezeigt sein, um zu überprüfen, ob die ergriffenen Präventionsmaßnahmen weiterhin ausreichend sind.

Präventionsmaßnahmen nach § 3 BKV

Präventionsmaßnahmen fallen nach § 3 der Berufskrankheitenverordnung in die Zuständigkeit der Berufsgenossenschaft, wenn die konkrete Gefahr der Entstehung einer Berufskrankheit gegeben ist. Dies ist regelmäßig der Fall, wenn ein Ursachenzusammenhang zwischen der beruflichen Belastung und der bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS wahrscheinlich ist und zur Anerkennung als Berufskrankheit nur noch der Unterlassungszwang fehlt. Eine §-3-Situation kann auch gegeben sein, wenn bei gegebenen Anhaltspunkten für einen Einfluss der beruflichen Belastungen aufgrund einer noch geringen Ausprägung der Bandscheibenschäden eine Aussage zum Ursachenzusammenhang mit dem Grad der Wahrscheinlichkeit noch nicht möglich ist (siehe Zusammenhangsbeurteilung bei typischen Fallkonstellationen, Ausführungen zu den Konstellationen D und E). Eine §-3-Situation liegt nicht vor, wenn bei einer bereits fortgeschrittenen bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS ein Ursachenzusammenhang mit der beruflichen Belastung nicht wahrscheinlich ist.

Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)

Zur Einschätzung der MdE sind objektivierbare Funktionseinschränkungen zu bewerten. Die größte Bedeutung kommt hierbei den Bewegungsausmaßen (insbesondere dem isoliert gemessenen LWS-Beugewinkel), Instabilitäten, Wurzelreizsyndromen und neurologischen Ausfällen zu. Da bandscheibenbedingte Erkrankungen häufig chronisch rezidivierend sind, ist auch der in der Akte dokumentierte Krankheitsverlauf kritisch zu würdigen und in die Beurteilung mit einzubeziehen. Bei relevanter neurologischer Symptomatik sollte ein fachneurologisches Zusatzgutachten veranlasst werden.

Anhaltspunkte zur Einschätzung der MdE sind:

MdE 10 v.H.: Funktionseinschränkung der LWS, funktionell nicht bedeutsame neurologische Ausfälle.

  • MdE 20 v.H.: starke Funktionseinschrän-kung der LWS,
  • MdE 30 v.H.: Funktionseinschränkung mit funktionell bedeutsamen motorischen Ausfällen und/oder ausgeprägtem, funktionell schwer wiegendem chronischem Wurzelreizsyndrom.
  • Eine MdE > 30 v.H. ist je nach Ausmaß zusätzlicher neurologischer Ausfallerscheinungen möglich, z. B. beim Vorliegen eines Kaudasyndroms mit Blasen- oder Mastdarmstörungen.

Deutsche Wirbelsäulenstudie (DWS I)

Im Rahmen der „Deutschen Wirbelsäulenstudie“ (DWS) (Bolm-Audorff et al. 2007a,b; Ellegast et al. 2007; Jäger et al. 2007; Linhardt et al. 2007; Michaelis et al. 2007; Petereit-Haack et al. 2007; Seidler et al. 2007), einer von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung geförderten Fall-Kontroll-Studie, wurde versucht, das MDD weiterzuentwickeln. Untersucht wurden 4 Fallgruppen ( Tabelle 8).

Die Studie ergab, dass sich beruflich Exponierte wegen bandscheibenbedingter Erkrankungen signifikant häufiger in ärztliche Behandlung begaben. Bei der Auswertung nach dem MDD war dies bereits bei Gesamteinwirkungen der Fall, die weit unterhalb der Orientierungswerte des MDD und auch erheblich unterhalb des später im BSG-Urteil vom 30. 10. 2007 definierten Grenzwertes liegen. Paradoxerweise waren die Odds Ratios bei Belastungen, die die Orientierungswerte des MDD zumindest annähernd erreichten, nicht signifikant er-höht. Insgesamt fanden sich in den Fallgruppen der DWS mit 9,5 % (87 von 915 Fälle) nur relativ wenige Probanden, die die Orientierungswerte für die Lebensdosis nach dem MDD (Männer 25 MNh, Frauen 17 MNh) erreichten.

Nach der Erstauswertung der DWS gab es für die 4 Fallgruppen unterschiedliche „beste“ Modelle ( Tabelle 9).

Diese „besten“ Modelle kollidieren mit dem in der Legaldefinition der BK 2108 geforderten „Heben und Tragen schwerer Lasten“, denn eine Druckkraft auf die Bandscheibe L5/S1 von 2000 N wird beim Heben vom Boden zur Taillenhöhe bereits bei einem Gewicht von 2,7 kg erreicht. Zumindest für die Fallgruppen 1 und 3 entsprechen die „besten“ Modelle auch nicht der in der Legaldefinition geforderten „Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung“.

Aus medizinischer Sicht ist im Hinblick auf das Studiendesign der DWS kritisch zu hinterfragen, ob die DWS in Bezug auf die Ableitung eines Dosismodells für die BK 2108 überhaupt aussagekräftig ist (s. unten).

BSG-Urteil vom 30. 10. 2007 und Status quo

In einem Urteil vom 30. 10. 2007 (Az. B 2 U 4/06 Re) hat das BSG aufgrund des noch unzureichenden Erkenntnisstands zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung entschieden, dass 50 % der Orientierungswerte nach dem MDD für eine Einleitung des Prüfverfahrens, ggf. mit Anerkennung, ausreichend sind. Die Berechnung der Dosis wurde dahingehend modifiziert, dass nunmehr alle Hebe- und Tragevorgänge mit Druckkräften von mindestens 2700 N (statt bisher 3200 N) bei Männern unabhängig vom Erreichen einer Tagesdosis berücksichtigt werden (die Schwelle für die Druckkraft bei Frauen von 2500 N wurde durch das BSG-Urteil nicht geändert).

Durch das BSG-Urteil ist ein Grenzwert definiert worden, unterhalb dessen eine medizinische Prüfung des Ursachenzusammenhangs entfallen kann. Ein neuer Orientierungswert („Verdoppelungsdosis“) ist durch das BSG nicht definiert worden.

Die „Konsensempfehlungen“ zu den medizinischen Kriterien zur Beurteilung des Ursachenzusammenhangs behielten auch nach dem Urteil des BSG vom 30. 10. 2007 ihre Gültigkeit. Bei der Anwendung ist zu beachten, dass die „Konsensusempfehlungen“ unter der Voraussetzung formuliert wurden, dass der geschlechtsspezifische Orientierungswert nach dem MDD als Maß für eine Verdopplung des Erkrankungsrisikos zumindest annähernd (Anhaltspunkt: zu ca. 80 %) erreicht ist. Bei einer erheblichen Unterschreitung des Orientierungswerts können die medizinischen Kriterien der Konsensempfehlungen daher nicht un-modifiziert angewendet werden. „Eine Unterschreitung führt zu erhöhten Anforderungen an die Begründung des Ursachen-zusammenhanges mit Hilfe der übrigen Krite-rien“ (Schönberger et al. 2010). Aus medizinischer Sicht muss dabei zwischen Anerkennungskonstellationen unterschieden werden, bei denen positive Indizien für eine berufliche Verursachung (Begleitspondylose, mehrsegmentale [mindestens 3 Seg-mente], von oben nach unten zunehmende Bandscheibenschäden an der LWS mit deutlicher Betonung gegenüber den belas-tungsfernen Wirbelsäulenabschnitten HWS und BWS) vorliegen und denjenigen Anerkennungskonstellationen, bei denen die An-erkennungsempfehlung der Konsensusarbeitsgruppe nur auf dem Fehlen von wesent-lichen negativen Indizien in Verbindung mit statistischen Überlegungen beruht. Konstitutionelle Besonderheiten (z. B. schmäch-tig gebauter Mann) sind zu berücksichtigen.

DWS II und kritische Auseinandersetzung mit der Aussagekraft der DWS

DWS-Richtwertestudie

Ziel der Richtwertestudie (Seidler et al. 2013a,b) war es, im Rahmen einer Nachauswertung der Daten der DWS ein Dosismodell unter Berücksichtigung geeigneter Schwellenwerte abzuleiten. Das von den Autoren abgeleitete „best estimate“ ist in  Tabelle 10 zusammengefasst.

Bezüglich der Verdoppelungsdosis ergab sich in Fallgruppe 1 ein 95 %-Konfidenz-intervall von 1–23 MNh, für die Fallgruppen 2, 3 und 4 ließ sich kein 95 %-Konfidenzintervall der Verdoppelungsdosis bestimmen.

Die geschlechtspezifischen „Verdoppe-lungsdosen“ wurden auch in der bevölkerungsbezogenen Kontrollgruppe von 38 % der Männer und 35 % der Frauen erreicht (unter Einbezug auch der Kontrollpersonen unter 40 Jahre). Es stellt sich hier die Frage, ob dies noch als eine „besondere Einwirkung“ im Sinne des für alle Berufskrankheiten geltenden § 9 Abs. 1 SGB VII gewertet werden kann.

In Tätigkeitsfeldern, die im Konsens als risikobehaftet angesehen werden, würden die in der DWS-Richtwertestudie abgeleiteten „Verdoppelungsdosen“ bereits inner-halb weniger Jahre erreicht. Dies soll anhand von Tätigkeitsfeldern im Stahlbetonbau, im klassischen Hafenumschlag und in der Pflege illustriert werden, für die die für die Abschätzung erforderlichen Expositionsdaten von Jäger et al. (1999) publiziert wurden ( Tabelle 11). Die in der Legaldefinition der BK 2108 geforderte Langjährigkeit der Einwirkung wäre hier nicht mehr gegeben.

Die in der DWS-Richtwertestudie abgeleiteten Werte für die „Verdoppelungsdosis“ stehen damit im Widerspruch zu den Studien, welche primär der Einführung der BK 2108 zugrunde lagen.

Sie liegen zudem in einer Größenordnung, bei der nach Untersuchungen an eineiigen Zwillingen (Battié et al. 1995, 2009) eine relevante Auswirkung auf die Entstehung von Bandscheibenschäden nicht zu er-warten ist.

Wie sind diese Diskrepanzen zu erklären? Bei der Bewertung der Aussagekraft der DWS ist zu beachten, dass bei Fallkontroll-studien erst die Inanspruchnahme ärztlicher Behandlung zur Aufnahme in die Fallgruppe führt. Bei Krankheiten wie dem Bronchialkarzinom, bei denen davon ausgegangen werden kann, dass fast alle Personen mit einer derartigen Erkrankung schließlich in ärztliche Behandlung kommen, ist dies kein wesentliches Problem. Anders verhält es sich bei degenerativen Erkrankungen des Bewegungsapparats im Allgemeinen und bandscheibenbedingten Erkrankungen im Besonderen. Ein Großteil der Personen mit strukturellen Bandscheibenschäden ist beschwerdefrei, selbst wenn die Bandscheibenschäden erheblich über das Altersmaß hinausgehen. Diese Personen werden in einer Fall-Kontroll-Studie überhaupt nicht erfasst. Die klinischen Einschlusskriterien der DWS wurden im Hinblick darauf, innerhalb der für die Studie vorgesehenen Zeit eine ausreichende Anzahl von Probanden zu rekrutieren, relativ weit gefasst. Sie um-fassen auch klinische Bilder, die insbeson-dere in Berufen, in denen sich die Beschäftig-ten bei Wirbelsäulenbeschwerden schonen können, nicht unbedingt zur Inanspruchnahme ärztlicher Behandlung führen. Hinzu kommt, dass beim Rückenschmerz die Beschwerdehaftigkeit, die Inanspruchnahme ärztlicher Behandlung und Zeiten der Arbeitsunfähigkeit stark von psychosozialen Faktoren abhängen (Bigos et al. 1998; Nachemson 1998; Vingard u. Nachemson 2000; Stadler u. Spieß 2009). Hieraus ergibt sich aus medizinischer Sicht das Hauptproblem der Verwertbarkeit der Ergebnisse der DWS:

Aufgrund des Studien-Designs der DWS kann nicht differenziert werden, ob bzw. inwieweit die beruflichen Belastungen tatsächlich

  • strukturelle Bandscheibenschäden verursacht haben
  • oder lediglich zu einer häufigeren Inanspruchnahme ärztlicher Behandlung aufgrund einer Beschwerdeauslösung oder -verstärkung bei berufsunabhängig entstandenen Bandscheibenschäden geführt haben.

Diese Interpretationsprobleme hätten sich vermeiden lassen, wenn die DWS nicht als Fall-Kontroll-Studie durchgeführt worden wäre, sondern als Kohortenstudie mit bildgebender Untersuchung (aus Strahlenschutzgründen mittels MRT) aller Exponierter und Kontrollen, unabhängig vom Vorliegen einer Beschwerdesymptomatik.

Die Autoren der DWS führen an, dass eine neuere dänische Kohortenstudie von Sørensen et al. (2011) an 5245 Männern vergleichbare Ergebnisse wie die DWS erbracht habe. Diese Studie weist jedoch ebenfalls erhebliche methodische Probleme auf. Zum einen wurde nur eine sehr grobe Kategorisierung der Exposition durchgeführt, die zudem ausschließlich auf Angaben der Probanden beruhte. Zum anderen weist die Studie einen sehr weichen Endpunkt auf, nämlich die Inanspruchnahme stationärer Behandlung wegen „herniated lumbar disc disease“, entnommen aus dem dänischen National Hospital Register. Eine bildgebende Untersuchung aller Exponierter und Kontrollen, unabhängig von der Beschwerdesymptomatik, wurde nicht durchgeführt. Daher erlaubt die Studie von Sørensen et al. ebenso wie die DWS keine Differenzierung, ob bzw. inwieweit die beruflichen Belastungen tatsächlich strukturelle Bandscheibenschäden verursacht haben oder lediglich zu einer häufigeren Inanspruchnahme von Behandlung bei berufsunabhängig entstandenen Bandscheibenschäden geführt haben.

Bemerkenswert ist, dass eine frühere Studie an Frauen, die ebenfalls auf Daten aus dem dänischen National Hospital Register beruht, aber einen etwas härteren Endpunkt aufweist, ganz andere Ergebnisse erbrachte (Jørgensen et al. 1994). In dieser Studie wurde das Risiko von 28 619 Schwesternhelferinnen, an einem lumbalen Bandscheibenvorfall operiert zu werden, mit dem der allgemeinen weiblichen dänischen Bevölkerung verglichen. In dieser Studie fand sich eine relevante Risikoerhöhung erst ab einem Lebensalter von 45 Jahren. In diesem Lebensalter haben Schwesterhelferinnen in der Regel den Orientierungswert nach dem MDD bereits erreicht oder überschritten.

„Machbarkeitsstudie“ zur Auswertung der DWS zu gutachtlichen Fragen

Bei dieser Nachauswertung der Daten der DWS (Bolm-Audorff et al. 2013) wurde keine signifikante Abhängigkeit des Schadensbildes an der Wirbelsäule von der Höhe der Expositionsdosis gefunden. Dies betraf die Begleitspondylose nach Definition der Konsensempfehlungen, die Zahl der Segmente mit Bandscheibenschaden an der LWS (verglichen wurde monosegmental gegen bisegmental), die Höhenlokalisation der Segmente mit Bandscheibenschaden an der LWS und die Häufigkeit von Bandscheibenschäden an der belastungsfernen HWS.

Bei der Bewertung der Aussagekraft dieser Nachauswertung ist zu berücksichtigen, dass sich in den Fallgruppen der DWS mit 9,5 % (87 von 915 Fällen) nur relativ wenige Probanden fanden, die die Orientierungswerte für die Lebensdosis nach dem MDD (Männer 25 MNh, Frauen 17 MNh) erreichten. Hinzu kommt, dass in der DWS bei diesen höher Belasteten das Erkrankungsrisiko paradoxerweise nicht signifikant erhöht war. Bereits deshalb erlauben die Daten der DWS keine verwertbaren Schlussfolgerungen über das Schadensbild bei Expositionsdosen, die die Orientierungswerte für die Lebensdosis nach dem MDD erreichen.

Die Fallzahl, die den Grenzwert nach dem BSG-Urteil vom 30. 10. 2007 von 12,5 MNh erreichten, war mit 24,9 % (228 von 915) höher. Falls die in der DWS-Richt-wertestudie abgeleiteten Verdoppelungsdosen (Männer 7 MNh, Frauen 3 MNh) tat-sächlich die Verursachung von strukturellen Bandscheibenschäden widerspiegeln würden, wäre ausgehend von der biomechanischen und epidemiologischen Gesamt-evidenz zum belastungskonformen Schadensbild zu erwarten gewesen, dass in den Gruppen mit einer Expositionsdosis von 12,5 MNh oder mehr zumindest eine gewisse Modifikation des Schadensbildes gegenüber den Gruppen erkennbar geworden wäre, die diesen Wert nicht erreichten. Dass dies nicht der Fall war, legt ebenfalls die Vermutung nahe, dass die in der DWS bereits bei niedrigen Lebensdosen gesehene häufigere Inanspruchnahme ärztlicher Behandlung vornehmlich auf eine Beschwerdeauslösung oder -verstärkung bei berufsunabhängig entstandenen Bandscheibenschäden zurückzuführen ist.

Unabhängig von den obigen Ausführun-gen sind noch zwei weitere Anmerkungen zu der Nachauswertung machen: Bezüglich der Zahl der Segmente mit Bandscheibenschaden ist die an der LWS vorgenommene Auswertung „monosegmental gegen bisegmental“ aus gutachtlicher Sicht wenig relevant. Sie beruht auf einer Fehlinterpretation des ersten Zusatzkriteriums der Konstellation B 2 der Konsensempfehlungen im Sinne einer unzutreffenden Gleichsetzung von „bisegmental“ und „mehr-segmental“. Tatsächlich ist unter mehrsegmental aber zu verstehen, das mindestens drei Segmente einen Bandscheibenschaden aufweisen, wie dies auch eindeutig aus dem Anhang 1 der Konsensempfehlungen zu den nicht im Konsens beurteilten Fallkonstellationen (Absatz S. 219 unten/S. 220 oben) hervorgeht.

Bei der DWS lagen lediglich für etwa 15 % der Probanden HWS-Röntgenbilder vor und für etwa 5 % der Probanden MRT-/CT-Aufnahmen der HWS. Zudem waren die vorliegenden HWS-Aufnahmen häufig früher erstellt worden als die aktuellen LWS-Aufnahmen. Anhand der Daten der DWS können daher keine verwertbaren Aussagen zur Häufigkeit und Ausprägung von Bandscheibenschäden an der HWS getroffen werden. Das Vorgehen der Autoren der Nachauswertung, bei den Fällen ohne HWS-Aufnahmen einen fehlenden oder schwächer als an der LWS ausgeprägten HWS-Schaden zu unterstellen, ist methodisch unzulässig. Denn auch an der HWS gilt, dass ein Großteil der Personen mit strukturellen Bandscheibenschäden beschwerdefrei ist, selbst wenn die Bandscheibenschäden erheblich über das Altersmaß hinausgehen.

Resümee

Die im Jahre 2005 veröffentlichten Konsens-empfehlungen legten einheitliche Grundlagen für die medizinische Beurteilung der BK 2108. Sie behielten auch nach dem BSG-Urteil vom 30.10.2007 ihre Gültigkeit. Eine medizinische Prüfung ist unterhalb des vom BSG vorgegebenen Grenzwertes (Männer 12,5 MNh, Frauen in analoger Anwendung des BSG-Urteils vom 30. 10. 2007 8,5 MNh) nicht erforderlich. Die Konsensempfehlungen können unmodifiziert angewendet werden, wenn die geschlechtsspezifischen Orientierungswerte nach dem MDD (Männer 25 MNh, Frauen 17 MNh, modifiziert berechnet nach den Vorgaben des BSG-Urteils vom 30. 10. 2007) zumindest annähernd erreicht werden. Eine erhebliche Unterschreitung der Orientierungswerte führt zu erhöhten Anforderungen an die Begründung des Ursachenzusammenhanges mit Hilfe der übrigen Kriterien. Konstitutionelle Besonderheiten sind zu berücksichtigen.

Die Ergebnisse der DWS und ihrer Nachauswertung stehen nicht im Einklang mit der bisherigen epidemiologischen Gesamtevidenz und sind biologisch auch wenig plausibel. Unter Berücksichtigung der methodischen Limitationen der DWS erscheint es nicht gerechtfertigt, aus der DWS eine neue „Verdoppelungsdosis“ oder neue medizinische Kriterien für die Zusammenhangsbeurteilung bei der BK 2108 abzuleiten. Die medizinische Diskussion zur Aussagekraft und den Konsequenzen der DWS und ihrer Nachauswertung wird jedoch kontrovers geführt. Die Hauptauto-ren der DWS streben auf der Basis Ihrer Studie eine Ausweitung der Legaldefinition der BK 2108 an. Voraussichtlich werden die Ergebnisse der Nachauswertung der DWS im Frühjahr 2014 dem Ärztlichen Sachverständigenbeirat „Sektion Berufskrankheiten“ vorgestellt. Das Ergebnis der dortigen Beratungen und die Reaktion des Verordnungsgebers bleiben abzuwarten. 

Literatur

Aufgrund des erheblichen Umfangs der zitierten Literaturstellen wird an dieser Stelle auf deren Wiedergabe verzichtet. Die Literatur kann beim ASU-Redaktionsbüro angefordert werden (asu@hvs-heidelberg.de).

    Info

    • Typ I: mechanische Rückenschmerzen und Funktionsstörungen aufgrund von Bandscheibenverschleiß.
      • Radiologie: altersuntypische Höhen-minderung einer oder mehrerer Bandscheiben,
      • Symptom: Schmerz durch Bewegung,
      • Klinik: Segmentbefund mit provo-zierbarem Schmerz,
      • Funktionell: Entfaltungsstörung der LWS,
      • Muskulatur: erhöhter Tonus,
      • ggf. pseudoradikuläre Schmerz-ausstrahlung.
    • Typ II: lumbale Wurzelreiz- oder -ausfall-symptomatik.
      • Bildgebung: Vorfall oder Chondrose mit Bandscheibenverschmälerung, ggf. in Verbindung mit Retrospondylose, Foramenstenose, Recessus-stenose, Spondylarthrose und/oder Spinalkanalstenose (falls mittelbare Folge des Bandscheibenschadens), im Ausnahmefall bei engem Spinal-kanal auch Protrusion,
      • Neurologie: Zeichen der Reizung bzw. Schädigung der entsprechen-den Nervenwurzel(n).

    Typ I und Typ II kommen häufig auch als Mischform vor. Das Kaudasyndrom ist eine Sonderform des Typ II.

    Weitere Infos

    Bolm-Audorff U et al. Forschungs-vorhaben „Epidemiologische Fall-Kontroll-Studie zur Untersuchung von Dosis-Wirkungs-Beziehungen bei der Berufskrankheit 2108“ (Deutsche Wirbelsäulenstudie). Abschlussbericht, Wiesbaden. 2007a

    http://www.dguv.de/medien/inhalt/versicherung/arbeits_wegeunfall/documents/abschlussbericht.pdf

    Bolm-Audorff U et al. Forschungs-vorhaben „Machbarkeitsstudie für die Untersuchung begutachtungsrelevanter Fragen zur Beurteilung der Berufskrankheit 2108 mit Hilfe der Daten der Deutschen Wirbelsäulenstudie“ (DWS-Machbarkeitsstudie), Abschlussbericht an die DGUV. Wiesbaden, 2013

    http://www.dguv.de/ifa/Forschung/Projektverzeichnis/FF-FB_0154.jsp

    Seidler A et al. Abschlussbericht zum Forschungsvorhaben „Erwei-terte Auswertung der Deutschen Wirbelsäulenstudie mit dem Ziel der Ableitung geeigneter Richtwerte“, 2013

    http://www.dguv.de/Projektdatenbank/0155A/Abschlussbericht.pdf

    Autor

    Dr. med. Volker Grosser

    Berufsgenossenschaftliches Unfallkrankenhaus Hamburg

    Bergedorfer Straße 10

    21033 Hamburg

    v.grosser@buk-hamburg.de

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