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Versorgungssektoren übergreifende Kooperation

Die Psychosomatische Sprechstunde im Betrieb

Einleitung

Die Prävalenz psychischer Erkrankungen in der Gesamtbevölkerung bewegt sich deutschlandweit mit ca. 25 % bis 30 % seit langem auf hohem Niveau (Jacobi et al. 2014). Als einem wirtschaftlich prosperierenden Land dürfte der Anteil der psychisch bzw. psychosomatisch Erkrankten an den Erwerbstätigen in Deutschland bei mindestens ca. 15 % liegen (OECD 2012). Folgerichtig werden psychische Erkrankungen zunehmend auch für Arbeitsunfähigkeit (Absentismus), Einbußen bei der beruflichen Leistungsfähigkeit (Präsentismus) sowie für Frühberentungen verantwortlich gemacht. Die betriebs- und volkswirtschaftlichen Kosten diesbezüglich sind enorm, ganz abgesehen von den beträchtlichen Leiden, die für die Betroffenen und deren Angehörige damit verbunden sind. Auch wenn Deutschland bei der Versorgung der Bevölkerung mit Psychotherapie weltweit einen Spitzenplatz einnehmen dürfte, gelangen auch hierzulande nur etwa 15 % bis maximal 20 % der Betroffenen rechtzeitig in den Genuss eines adäquaten Behandlungsangebotes (Thornicroft et al. 2017). Bestimmte Patientengruppen bleiben auch heute noch leider nur allzu häufig auf der Strecke. Hierzu zählen z.B. Erkrankte mit Migrationshintergrund aufgrund fehlender sprachlicher Voraussetzungen, Schichtarbeiter, deren Arbeitszeiten keinen geregelten Therapiebesuch zulassen, oder aber Personen, deren Motivation einem niedergelassenen Vertragspsychotherapeuten zu unsicher erscheint, um vor der Therapie ein aufwändiges Antragsverfahren zu initiieren. Andere Hindernisse, die Betroffene von einer Inanspruchnahme von Psychotherapie abhalten, sind die manchmal eingeschränkte Erreichbarkeit passender Behandlungsangebote oder liegen im persönlichen Erleben und Verhalten der Betroffenen. Hier spielen Ängste vor Beschämung und Stigmatisierung bzw. vor Autonomieverlust oder vor Verunsicherungen im Selbstgefühl eine wesentliche Rolle.

Auch wenn am Arbeitsplatz so genannte Frühindikatoren psychischer Belastungen bzw. (stressassoziierter) Erkrankungen keineswegs immer früh in Erscheinung treten (gemeint sind z.B. das Nachlassen der Arbeitsleistung, das Aufschieben auch einfacher Tätigkeiten, ein gereizt-ungehaltenes Auftreten oder vermehrte zwischenmenschliche Konflikte etc.), dürfte doch dem Arbeitsplatz eine besondere Bedeutung für die Früherkennung einschlägig belasteter Mitarbeiter zukommen, denn nirgendwo sonst unterliegt der Einzelne im Hinblick auf psychische Auffälligkeiten bzw. dadurch bedingte Beeinträchtigungen einem höheren Ausmaß an sozialer Kontrolle. Andererseits sind psychische Belastungen und Erkrankungen gerade in der Arbeitswelt auch heute noch ein vielfach tabuisiertes Thema. Unsicherheiten, wie Betroffene diesbezüglich angesprochen werden bzw. wie die sich daraus ergebenden Konflikte thematisiert werden können, sind in der Regel weit verbreitet. Dies führt zu übervorsichtigem Verhalten und zum Vermeiden schambesetzter Themen, wodurch nicht selten chronifizierenden Prozessen Vorschub geleistet wird.

Die Psychosomatische Sprechstunde

Die seit einigen Jahren in mehreren Betrieben etablierte und bewährte „Psychosomatische Sprechstunde“ (Mayer et al. 2010) stellt eine Form der aufsuchenden Beratung und Behandlung dar, vergleichbar in etwa mit einem psychosomatischen Konsiliardienst in einem Allgemeinkrankenhaus. Bei dieser Psychosomatischen Sprechstunde im Betrieb erhalten Mitarbeiter in unmittelbarer Nähe zu ihrem Arbeitsplatz die Gelegenheit zu einem Erstkontakt mit einem Fachpsychotherapeuten, wodurch aus der Holschuld der Betroffenen auf diese Weise eine Bringschuld des medizinisch-therapeutischen Versorgungssystems gemacht wird, um den oben aufgeführten Versorgungshindernissen entgegenzuwirken. In der Regel liegt dieser Sprechstunde eine Kooperationsvereinbarung zwischen einem Betrieb und einem Leistungserbringer zugrunde. Bei Letzterem kann es sich um eine Institution handeln oder um eine Einzelperson, die als approbierter Psychologe oder Facharzt für Psychosomatische Medizin in der Lage ist, sich in einem begrenzten Zeitraum mit einiger Sicherheit diagnostisch festzulegen, ob die vorgetragenen Probleme krankheitswertig sind, welches Störungsbild bzw. welche Erkrankungen vorliegen, welche Krankheitsursachen ggf. in Frage kommen, welche Probleme oder Konfliktsituation sonst vorliegen könnten und welche Form der Beratung bzw. Psychotherapie möglicherweise in Frage kommt, um dem Betroffenen weiter zu helfen. Die Dauer einer solchen Sprechstunde sollte in der Regel 60 Minuten nicht überschreiten, was vor dem Hintergrund der zu klärenden Fragestellungen auf Seiten der Leistungserbringer erfahrungsgemäß einige Expertise erfordert. Es sollte sich also um eher erfahrene Psychotherapeuten handeln, die flexibel mit einer Vielfalt psychosozialer Problemstellungen wie auch den nicht immer optimalen räumlichen Situationen im Betrieb umgehen können.

Inhalte der Psychosomatischen Sprechstunde

Aus dem Infokasten gehen die wesentlichen Inhalte dieses innerbetrieblichen Erstkontakts hervor (der in einigen Modellen durch 2–8 Folgestunden prozessartig erweitert wurde, siehe in diesem Zusammenhang auch Hölzer 2012). Vorrang hat in jedem Fall das Herstellen einer vertrauensvollen Beziehung und ein empathisches Verständnis der (inneren) Situation des jeweilig betroffenen Mitarbeiters.

Eine präzise diagnostische Einschätzung bzw. eine eindeutige Klärung der Krankheitsursachen – so wichtig sie für das Verständnis der jeweiligen Problemlage auch sein mögen – wird zumeist angesichts der Kürze der Zeit nur ansatzweise möglich sein, zumindest wenn sich die Sprechstunde auf einen einmaligen Erstkontakt beschränkt. Eher geht es um das Vermitteln eines grundsätzlichen Krankheitsverständnisses („Kein Symptom ohne entsprechende Konflikte“) und die Motivation, ggf. weitere Schritte zur Vertiefung des Sprechstundenergebnisses zu unternehmen. Dies kann in der Empfehlung liegen, die Arbeitsplatzsituation zu überprüfen oder ggf. zu verändern, aber auch in der Aufnahme einer Richtlinienpsychotherapie oder eines (teil-)stationären Rehabilitationsverfahrens etc.

Training für die Werksärzte?

Die Zuweisung eines Mitarbeiters bzw. prospektiven Patienten in die Psychosomatische Sprechstunde erfolgt in den meisten Fällen durch einen fachlich qualifizierten Betriebsangehörigen. In den bisher praktizierten Modellen war dies in der Regel entweder ein Werksarzt oder ein Sozialberater, seltener ein diesbezüglich eingearbeiteter Mitarbeiter der Personalverwaltung. Die Überweisung durch einen Werksarzt bzw. Sozialberater stellt gleichzeitig auch einen wesentlichen fachlichen Filter dar, denn letztlich sollten nur Mitarbeiter in eine Sprechstunde zugewiesen werden, bei denen die innerbetriebliche Expertise nicht ausreicht, um die vorliegende Problematik einzuschätzen bzw. Abhilfe zu schaffen. Wird dann der Fachpsychotherapeut zusätzlich von der Schweigepflicht entbunden und darf das Ergebnis der Sprechstunde an den Werksarzt entweder mündlich im Rahmen einer anschließenden Besprechung oder schriftlich in Form eines Kurzberichts übermitteln, hat der regelmäßige Austausch der Beteiligten durchaus einen gewissen Trainingseffekt: Die beteiligten Fachpsychotherapeuten erfahren sehr direkt und intensiv etwas über betriebliche Belange bzw. gesundheitliche Risiken, die ggf. durch pathogene Arbeitsbedingungen in Wechselwirkung mit den jeweils betroffenen Personen gegeben sind. Die beteiligten Arbeitsmediziner bzw. Sozialberater werden mehr oder weniger systematisch in psychosomatischen Sicht- und Denkweisen geschult und sind so immer besser in der Lage, selbst in die Rolle des psychosozialen Experten einzutreten. Nicht wenige der über Jahre an solchen Modellen beteiligten Arbeitsmediziner haben sich, angeregt durch die Sprechstunde, in Psychosomatischer Grundversorgung weitergebildet, einige haben auch den Zusatztitel der fachgebundenen Psychotherapie erworben.

Bisherige Erfahrungen mit der Psychosomatischen Sprechstunde

Die bislang vorliegenden Erfahrungen mit der Psychosomatischen Sprechstunde sind auf Seiten der Nutzer ausgesprochen ermutigend. Das beschriebene Modell ist ebenso effektiv wie die Regelversorgung unter Routinebedingungen (Balint et al. 2018). Betroffene werden im Erkrankungsverlauf deutlich früher erreicht (Rothermund et al. 2017), und auch die eingebundenen Werksärzte bzw. Sozialberater bekunden Zufriedenheit, können sie doch mit der Sprechstunde auf eine verbindliche Struktur der Versorgung verweisen.

Insgesamt kann die Psychosomatische Sprechstunde im Betrieb damit als ein vielversprechender Baustein im Netz der Versorgung angesehen werden, durch den Versorgungslücken und -brüche verkleinert und deswegen Chronifizierung vorgebeugt werden kann.

Literatur

Balint EM, von Wietersheim J, Gündel H, Hölzer M, Rothermund E: Die psychosomatische Sprechstunde im Betrieb – ein Zukunftsmodell? Prax Klin Verh Rehabil 2018; 101: 38–47.

Hölzer M: Psychische Gesundheit im Betrieb. Psychother Dialog 2012; 13: 52–55.

Jacobi F, Höfler M, Siegert J et al.: Twelve-month prevalence, comorbidity and correlates of mental disorders in Germany: The Mental Health Module of the German Health Interview and Examination Survey for Adults (DEGS1-MH). Int J Methods Psychiatr Res 2014; 23: 304–319.

Mayer D, Schmidt H, Hölzer M: “Psychosomatsiche Sprechstunde” und “Psychosomatsiche Grundversorgung in der Arbeitsmedizin”. Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2010; 45: 593–597-

OECD: Fit Mind, Fit Job: From Evidence to Practice in Mental Health and Work, Mental Health and Work. Paris: OECD Publishing, 2015.

Rothermund E, Kilian R, Rottler E et al.: Improving access to mental health care by delivering psychotherapeutic care in the workplace: a cross-sectional exploratory trial. PLoS One 2017; 12: e0169559.

Thornicroft G, Chatterji S, Evans-Lacko S et al.: Undertreatment of people with major depressive disorder in 21 countries. Br J Psychiatry 2017; 210: 119–124.

    Info

    Inhalte der „Psychosomatischen Sprechstunde im Betrieb“

    A. Herstellen einer tragfähigen Arbeitsbeziehung zwischen Beschäftigtem und Behandler

    B. Diagnostische Einschätzung des Störungsbildes und der Krankheitsursachen

    C. Information des Patienten und lösungsorientierte Empfehlungen zum Selbstmanagement

    D. Motivation und Unterstützung für weitere Schritte

    Koautoren

    Der Erstautor Michael Hölzer ist am Zentrum für Psychiatrie (ZfP) Südwürttemberg, Sonnenbergklinik, Stuttgart, und am Zentrum für Seelische Gesundheit am Arbeitsplatz, Ulm, beschäftigt. Mitautoren sind Dorothea Mayer (Health and Safety, Daimler AG) sowie Elisabeth M. Balint und Eva Rothermund (beide Zentrum für Seelische Gesundheit am Arbeitsplatz, Ulm, sowie Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm).

    Für die Autoren

    Dr. med. Eva Rothermund

    Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm und Kompetenzzentrum für seelische Gesundheit am Arbeitsplatz, Universität Ulm

    Kornhausgasse 9 89073 Ulm

    eva.rothermund@uni-ulm.de

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