Durchschnittlich 7 Jahre vergehen, bevor am Arbeitsplatz interveniert wird (Kolitzus 2002). 7 Jahre wegschauen von Führungskräften, Kollegen und betrieblichen Präventionsakteuren: Offenbar ist der Realitätsverlust, unter dem Suchtmittelabhängige leiden, hoch infektiös.
„König Alkohol“ hat auch im Betrieb das Heft in der Hand
Die Statistik modelliert einen Überblick über die Problemausprägung – und bestätigt die ungebrochene Regentschaft „König Alkohols“: 23 % der Mitarbeiter konsumieren regelmäßig Alkohol, 5 % sind behandlungsbedürftig alkoholkrank, weitere 10 % gefährdet und 8 % konsumieren regelmäßig Alkohol am Arbeitsplatz. Bei 15 – 30 % der Unfälle in Betrieben ist Alkohol im Spiel (Croissant u. Winter 2010). Der Mikrokosmos Betrieb reflektiert die gesellschaftlichen Verhältnisse: Alkoholkonsum ist in Deutschland weit verbreitet und akzeptiert; der Rechtfertigungsdruck liegt, etwa bei Feierlichkeiten, stets beim Nichtkonsumenten. In Zahlen ausgedrückt: Neben den etwa 1,3 Mio. alkoholabhängigen und den 2 Mio. alkoholmissbrauchenden Menschen in Deutschland, sind es vor allem die 9,5 Mio. riskant Konsumierenden, die es sich lohnt, vom betrieblichen Standpunkt aus näher zu untersuchen (Gassmann u. Raiser 2013).
„Riskant Konsumierende“ verursachen die meisten Kosten
Kaum greifbar, mit verschwommenen Umrissen irgendwo in der Grauzone zwischen Alkoholmissbrauch und einer Alkoholsucht schlingernd, sind es meist sie, die mit ihrem signifikant erhöhten Gesundheitsrisiko in den Betrieben Keimzellen für Probleme sind und einen jährlichen volkswirtschaftlichen Schaden von etwa 27,7 Milliarden Euro durch Alkohol verursachen – Löwenanteil der gesamten, durch Alkohol in der Gesellschaft verursachten sozialen Kosten (Gassmann u. Raiser 2013).
Betriebliche Suchtprävention ist effektiv
„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“: Eine gut verankerte betriebliche Suchtprävention entfaltet hohe Wirkungsgrade bezüglich Abstinenzerreichung und Harm Reduction; die Erfolgsquote liegt bei 50 %, in Einzelfällen sogar bis zu 80 % (Croissant et al. 2008). Hier zeigt sich eine der wenigen positiven Auswirkungen davon, dass sich die meisten Menschen hierzulande stärker über die Arbeit als über ihre Familie definieren: Der Verlust des Arbeitsplatzes erscheint bedrohlicher, als der des Führerscheins oder gar des Partners. Führt man sich weiterhin die begrenzte, übersichtliche Zielgruppe sowie die bereits vorhandenen Kommunikationswege vor Auge, erscheint die betriebliche Suchtprävention vergleichsweise einfach – und hält auch einer schonungslosen Kostenrechnung stand: Die krankheitsbedingten Ausfallkosten eines Mitarbeiters werden in der Wirtschaft mit 700,– bis 1000,– Euro pro Krankheitstag gerechnet (Gassmann u. Raiser 2013). Hiermit kann in größeren Betrieben bereits eine suchtqualifizierte Sozialarbeiterstelle finanziert werden.
Vorgesetzte sind in der Verantwortung
Vor diesem Hintergrund ist es umso trauriger, dass viele Vorgesetzte bereits den ersten, bescheidenen Schritt Richtung betriebliche Suchthilfe und -prävention scheuen: das Gespräch mit auffälligen Mitarbeitern. Dabei geht es weder um die Erörterung eines medizinischen Suchtbegriffs, noch um therapeutische Hilfe (beides ist nicht Aufgabe der betrieblichen Akteure), sondern ausschließlich darum, ob ein Mitarbeiter in der Lage ist, seine vertraglich vereinbarte Arbeitsleistung zu bringen – ohne Gefährdung für sich und andere.
Stattdessen ergeben sich etliche Führungskräfte einem fatalen, altbekannten Automatismus: Zunächst reihen sie sich, unter Verkennung der Tatsache, dass sie längst Teil des Problems geworden sind, ins Kollektiv der „Blinden“ und „Gehörlosen“ ein, nehmen der betroffenen Person durch falsche Unterstützung ihre Eigenverantwortung und versuchen sie schließlich durch inkonsequente, bereits tot geborene „Kontrollmaßnahmen“ zur Einsicht zu bewegen.
Nach einiger Zeit erlaubt das sich zuspitzende Krankheitsbild des süchtigen Mitarbeiters schließlich kein Totschweigen mehr, die Führungskraft wechselt auf die Anklagebank und man versucht, das Problem – in Gestalt des süchtigen Mitarbeiters – möglichst rasch loszuwerden: Alle wissen Bescheid, aber keiner will etwas bemerkt haben. An dieser Stelle hat sich die Führungskraft längst selbst schuldig gemacht: Ihre Verantwortung zur Intervention summiert sich aus einer Vielzahl von Vorschriften, zentral ist ihre Garantenstellung bezüglich Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten, was insbesondere bei gefahrgeneigten Tätigkeiten Bedeutung gewinnt (Rehwald et al. 2008).
„Warum habt ihr weggesehen?“
Spätestens wenn es zum Unfall kommt, müssen sich Führungskräfte dieser Frage stellen. Antworten darauf zu finden beschäftigte bereits die Wissenschaft (Croissant et al. 2004), entsprechende Untersuchungen ergaben Hinderungsgründe wie „Unsicherheit in der Einschätzung“, „Angst vor der Reaktion des Mitarbeiters“ oder „Mangelnde Information über Sucht“, mit einem Wort: Handlungsunsicherheit.
Erste Schritte zur betrieblichen Suchtprävention
Wissen schafft Handlungssicherheit: Der erste Ansatz – und Fundament betrieblicher Suchtprävention – ist daher die gezielte Informationsbeschaffung, z. B. bei den Unfallversicherungsträgern, die ihre Mitgliedsunternehmen gemäß ihres gesetzlichen Auftrags auch zu diesem Themenkomplex beraten. Die Berufsgenossenschaft Handel und Warendistribution (BGHW) bietet z. B. ein zweistufiges Seminarkonzept für Führungskräfte an, dessen Grundmodul Rechtsaspekte aufgreift und in Kooperation mit Arbeitsrichtern durchgeführt wird. Die zweite Qualifizierungsstufe beinhaltet unter anderem Gesprächsführungstechniken und Hilfen zur Erstellung einer Betriebsvereinbarung.
Bereits an dieser Stelle sollte auch der Betriebsarzt seine Expertise einbringen, und die Führungskraft gezielt informieren. Intention dieser ersten Stufe ist die Etablierung einer praxistauglichen, transparent kommunizierten betrieblichen Suchthilfe. Die Erfahrung lehrt, dass bereits damit vielfach eine Eigendynamik in Gang gesetzt wird, die hilft, den Fokus betrieblicher Suchthilfe in Richtung Prävention zu auszuweiten und schließlich in den Gedanken der betrieblichen Gesundheitsförderung einzubetten (Schreiber-Costa 2008).
Den Präventionsgedanken auf Suchthilfe ausdehnen
Erster Wegpunkt zu diesem Ziel ist zunächst ein wirkungsvolles Suchtpräventionsprogramm, das Suchthilfe und Suchtprävention beinhaltet (Rehwald et al. 2008; Mühlbauer u. Göß 2006). So kann einerseits bei konkreten Problemen die notwendige Hilfe angeboten und eingeleitet und andererseits daran gearbeitet werden, erst gar keine entstehen zu lassen. Darüber hinaus wird mit betrieblicher Suchtprävention die wichtige Gruppe der riskant Konsumierenden erreicht. Anschließend kann der Präventionsgedanke, über das Suchtmittel hinaus, auf die betriebliche Gesundheitsförderung ausgeweitet werden. Wie im „klassischen“ Arbeitsschutz, können auch die Elemente suchtpräventiver Arbeit verhältnis- oder verhaltensorientierte Schwerpunkte besitzen, die sich ergänzen sollten: Einschränkung der Verfügbarkeit von Suchtmitteln in Verbindung mit Information und Aufklärung sowie Angeboten zur individuellen Konsumreduzierung (z. B. Nichtraucherkurse), Abbau suchtfördernder Arbeitsbedingungen in Verbindung mit entsprechender Qualifizierung der Vorgesetzten, Bereitstellung alkoholfreier Getränke in Verbindung mit Interventionsprogrammen bei Auffälligkeiten (Gassmann u. Raiser 2013).
Idealerweise wird ein entsprechendes Programm von einem Gremium erarbeitet, das aus Betriebsarzt, Sicherheitsfachkraft, Mitgliedern der Geschäftsführung, des Personalrats sowie des Betriebsrats besteht. In mittleren und großen Unternehmen könnte für den Aufbau eines solchen Steuerkreises vom gesetzlich vorgeschriebene Arbeitsschutzausschuss ausgegangen werden, der zusätzlich durch externe Berater, z. B. von Unfallversicherungsträgern oder Krankenkassen, ergänzt wird. Empfehlenswert ist außerdem, die Philosophie des „Sicherheitsbeauftragten“ aus dem klassischen Arbeitsschutz auf die Suchtprävention auszuweiten: Ansprechpartner auf Augenhöhe sind immer ein Gewinn. Nicht wertvoll genug einzuschätzen sind zudem trockene Alkoholiker als weitere externe Berater. Die eingebrannten, gesammelten Erfahrungen auf dem Weg in die Suchthölle und zurück wiegen schwerer als alle Theorie und helfen allen Beteiligten, das Denken und Fühlen suchtkranker Mitarbeiter zu verstehen: Grundvoraussetzung für adäquates Handeln.
Der Betriebsarzt: Schlüsselfigur des Suchtpräventionsprogramms
Auch im Suchtpräventionsprogramm kommt dem Betriebsarzt, entsprechend seiner gesetzlichen Aufgabe, den Arbeitgeber in allen Fragen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes zu unterstützen, eine essenzielle Rolle zu: Er unterstützt beispielsweise die Umsetzung durch Einbringen seiner betriebsärztlichen Expertise, hilft Vorgesetzten bei der Unterweisung der Arbeitnehmer und berät in Fragen des Arbeitsplatzwechsels (Rehwald et al. 2008). Die regelmäßigen arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen in Verbindung mit der Schweigepflicht bieten zudem die einzigartige Chance, einen auf gegenseitigem Vertrauen basierenden Zugang zu den Mitarbeitern zu erhalten: Mancher öffnet sich eher dem Betriebsarzt als dem Vorgesetzten. Zudem kann der Betriebsarzt die Gelegenheit nutzen, und die Mitarbeiter bezüglich der fatalen Wechselwirkung von Suchtmitteln und Arbeitssicherheit beraten. Schwebt bei einer Untersuchung der Verdacht auf einen riskanten Suchtmittelkonsum oder eine Suchterkrankung im Raum, kann der Betriebsarzt den Weg zu einer Frühintervention ebnen, z. B. zur Aufnahme einer Therapie motivieren oder Kontakt zu einer Suchtberatungsstelle herstellen.
Die Intervention bleibt Aufgabe des Vorgesetzten
Wichtig ist dabei eine sorgfältige Rollenabgrenzung: Der Betriebsarzt ist kein Vorgesetzter – die Pflicht zu Intervention verbleibt bei der Führungskraft. Fragwürdig – und das Vertrauensverhältnis zwischen Betriebsarzt und Mitarbeiter gefährdend – ist die Beauftragung des Betriebsarztes mit ärztlichen Untersuchungen zur Selektion von Beschäftigten – ohne gesetzliche Grundlage und präventiven Charakter. Werden vor diesem Hintergrund Alkohol- bzw. Drogenscreenings durchgeführt, geschieht das selten mit dem Ziel, entsprechende Mitarbeiter in das betriebliche Suchthilfeprogramm aufzunehmen. Erklärt sich der Betriebsarzt hierzu bereit, muss ihm klar sein, dass er sich damit vom Präventionsgedanken löst und nicht mehr auf Basis des Arbeitssicherheitsgesetzes arbeitet.
Suchtprävention als Teil betrieblicher Gesundheitsförderung
Befasst sich ein Unternehmen erstmals – meist durch konkrete Vorfälle ausgelöst – mit dem Thema Sucht und arbeitet an der Etablierung eines Suchtpräventionsprogramms, so gleicht das einer Reise in ein unbekanntes Land, die immer auch den Horizont erweitert. Von diesem erhöhten Standpunkt aus wird sich beinahe zwangsläufig das einzig sinnvolle Ziel der Reise zeigen: Die Interpretation der Suchtprävention als Teil der betrieblichen Gesundheitsförderung. In vielen Unternehmen waren Initiativen zur Suchtprävention die Keimzelle entsprechender Gesundheitsförderungsprogramme (Schreiber-Costa 2008). Hierzu gehören sowohl verhältnisorientierte Ansätze, wie zum Beispiel die Schaffung gesunderhaltender und motivierender Arbeitsbedingungen, das Aufdecken suchtfördernder, dysfunktionaler Verhaltensweisen von Führungskräften (Rehwald et al. 2008), die Verbesserung des Betriebsklimas oder die Ausweitung der Gefährdungsbeurteilung auf psychische Gefährdungsfaktoren sowie verhaltensorientierte Strategien, wie Ausbau der Stressbewältigungskompetenz, optimieren des innerbetrieblichen Konfliktmanagements oder Gesundheitscoaching.
Von diesem Blickwinkel betrachtet, verwandeln sich Suchtprobleme am Arbeitsplatz in Chancen für Veränderungsprozesse, an deren Ende eine zukunftsfähige Präventions- und Gesundheitskultur – und damit ein zukunftsfähiges Unternehmen – steht. Die Unfallversicherungsträger unterstützen und begleiten ihre Mitgliedsunternehmen auf diesem Weg; als Beispiel sei hier das Konzept zur Suchtprävention und Suchthilfe der Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie (BG RCI) genannt (Schreiber-Costa 2008), das auf einer systematischen und systemischen Organisations- und Personalentwicklung (SSOPP) basiert.
Einsatzzeiten sind rechtlich vorgesehen
Die Mitarbeit am Aufbau eines Suchtpräventionsprogramms und betrieblicher Gesundheitsförderung fordert Einsatzzeit des Betriebsarztes, die nicht aus der Luft gegriffen, sondern auf fundierter rechtlicher Basis eingeplant werden soll:
Die DGUV-Vorschrift 2 bietet mittleren und größeren Unternehmen im Rahmen der betriebsspezifischen Betreuung die Chance, Ressourcen ihrer Betriebsärzte und Sicherheitsfachkräfte entsprechend den betrieblichen Erfordernissen anzupassen. Für kleinere Unternehmen ist in dieser Unfallverhütungsvorschrift die betriebliche Suchthilfe der anlassbezogenen Betreuung zugeordnet. Gerade in Kleinst- und Kleinunternehmen, das ergab eine Expertise des RKW Kompetenzzentrums im Auftrag der Bundesregierung (Bundesministerium für Gesundheit 2013), ist betriebliche Suchtprävention kaum anzutreffen, obwohl etwa 20 % der befragten Unternehmer und 30 % der befragten Mitarbeiter über Auffälligkeiten im Betrieb berichteten. Um diesem Missstand entgegenzuwirken, empfiehlt das Institut unter anderem, das Thema Sucht in die Gefährdungsbeurteilung und Unterweisungen mit aufzunehmen und eine „offensive betriebliche Beratung“ von betriebsärztlicher Seite.
Echte, nicht lediglich auf dem Papier existierende Veränderungsprozesse kosten Zeit und Geld, keine Frage. Doch diese Zeit wird nicht zurückgefordert, sondern zurückgegeben: in Form geringerer Ausfallzeiten und höherer Produktivität.
Literatur
Croissant B, Klein O, Loeber S, Mann K: Betriebliche Suchtprävention – Durchführbarkeitsstudie in einem Betrieb der Chemischen Industrie. Gesundheitswesen 2004; 66: 505–510.
Croissant B, Hupfer K, Loeber S, Mann K, Zober A: Längsschnittuntersuchung alkoholauffälliger Mitarbeiter in einem Großbetrieb nach werksärztlicher Kurzintervention. Nervenarzt 2008; 79: 80–85.
Croissant B, Winter M: Betriebliche Suchtprävention: Literatur für Beratungsstellen, Führungskräfte, Personalverwaltungen und Betriebsärzte. Sucht 2010; 56: 135–139.
Gaßmann R, Raiser P: Suchtprävention als Aufgabe betrieblicher Gesundheitsförderung. BPUVZ. Zeitschrift für betriebliche Prävention und Unfallversicherung 2013; 125: 170–174.
Kolitzus H: Die Liebe und der Suff … Schicksalsgemeinschaft Suchtfamilie, 6. Aufl. München: dtv, 2002.
Mühlbauer H, Göß R: Kollege Alkohol. Betreuung gefährdeter Mitarbeiter. Wuppertal: Blaukreuz, 2006.
Rehwald R, Reineke G, Wienemann E, Zinke E: Betriebliche Suchtprävention und Suchthilfe. Frankfurt am Main: Bund, 2008.
Schreiber-Costa S: Konzeption zur Suchthilfe und Suchtprävention der BG RCI. Maikammer 2008.
Weitere Infos
Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte e. V. (Hrsg.): Betriebliche Gesundheitsförderung als betriebsärztliche Aufgabe
Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.): Drogen- und Suchtbericht. Berlin 2013, Seite 67
http://drogenbeauftragte.de/fileadmin/dateien-dba/Service/Publikationen/BMG_Drogen-_und_Suchtbericht_2013_WEB_Gesamt.pdf, Stand 15.07.2013
Autor
Dipl.-Ing. Jens Demann
Berufsgenossenschaft Handel und Warendistribution (BGHW)
Regionaldirektion Südwest
Regiobüro Freiburg im Brsg.