Teilhabe, Inklusion, Betriebliches Eingliederungsmanagement, Disabilitymanagement – die Versicherten, die zum Fachdienst kommen, können mit diesen Worten nicht viel anfangen. Ihnen brennt ein unmittelbares Anliegen auf den Nägeln: „Wie komme ich zu einer Erwerbsarbeit, die ich auch mit meinen gesundheitlichen Einschränkungen gut ausüben und von der ich leben kann?“ Hier beginnt die Arbeit des Fachdienstes. Der Auftrag dazu kommt von vielen Disabilitymanagern, Schadensregulierern, Berufshelfern und Reha-Managern. Wobei die Berufsgenossenschaften nach dem Grundsatz „mit allen geeigneten Mitteln“ handeln, der von der früheren Reichs-versicherungsordnung in das Sozialgesetzbuch VII übernommen wurde und damit das so lobenswerte Sozialgesetzbuch IX noch übertrifft.
Schritt für Schritt
Das Ziel ist klar und wird von den Versicherten und den Vertretern der Leistungsträger geteilt: Es geht darum, eine gesundheits- und leistungsgerechte Erwerbstätigkeit für die einzelne Person zu finden. Gegenüber den Versicherten formulieren Manuela Malt und Christiane Harms das ganz lebensnah: „Ihre Arbeit soll zu Ihnen passen.“ In diesem Sinne zielt die erste Phase der Einzelberatung darauf ab, das berufliche Profil der Verletzten zu klären: Welches sind ihre sozialen und fachlichen Kompetenzen? Wo sehen sie Chancen, wo haben sie Talente – auch die, die längere Zeit brach lagen? Die Gespräche über diese Themen enthalten immer den Appell an die Versicherten, sich mit ihren eigenen Ideen und Initiativen einzubringen – auch das gehört zur Entwicklung des Profils für den Arbeitsmarkt, der erschlossen werden soll. Die BeraterInnen in Bremen und Hamburg investieren viel in den Dialog und haben das erste Etappenziel erreicht, wenn sich die Versicherten der Zusammenarbeit öffnen können. Idealerweise gibt es zu diesem Zeitpunkt ein umfassendes medizinisches Resümee über die veränderte Leistungsfähigkeit. Es ist eine wichtige Aufgabe am Anfang des Eingliederungsprozesses, die realistische Einsatzfähigkeit und die Tragweite von Vor- und Begleiterkrankungen ganzheitlich betrachtet zu erfas-sen. Hier sind die BeraterInnen gefragt, ggf. Fehlendes nachzu-tragen.
Nachdem der Handlungsrahmen geklärt wurde, geht die Beratung über in die Phase der Bewerbung. Den meisten Versicherten wird dabei bewusst, wie anders es heute ist (z. B. über Websites, SocialMedia und E-Mail), sich gut zu bewerben und Arbeitgeber auf sich aufmerksam zu machen. Diese Fragen sind Teil des individuellen Bewerbungstrainings, das die Versicherten in Zusammenarbeit mit ihren BeraterInnen durchlaufen.
Die dritte Phase der Begleitung zur beruflichen Eingliederung ist die Vermittlung. Es werden UnternehmerInnen und Unternehmen gesucht, die das Potenzial zu integrativem Handeln haben, sowohl von ihrem Bedarf an Arbeitskräften als auch in ihrer Führungskultur. Die Erkundungsquellen sind weit gefasst, von der klassischen Zeitungsanzeige über Internetportale bis hin zur Kaltakquise. Die Kontakte herzustellen und die Bereitschaft der Arbeitgeber zur Mitwirkung zu wecken, ist in dieser Phase die zentrale und zugleich ausgesprochen diffizile Aufgabe. Spätestens hier wird dann deutlich, wo die Fähigkeiten der BeraterInnen liegen müssen und dass die Schwerpunkte unterschiedlich sind, liegt auf der Hand. So kommt es, dass Versicherte in verschiedenen Phasen der Begleitung mit mehr als einer Ansprechperson zu tun haben kön-nen.
Für die Arbeitssuchenden treten die BeraterInnen des Fachdienstes als „Agenten“ auf und trennen damit das Sich-Präsentieren der Einzelperson von den vertraglichen Verhandlungen mit den künftigen Arbeitgebern. Ein großer Vorteil liegt in der Unterstützung bei der Sichtung von Bewerbungen. Denn wer einmal positive Erfahrungen mit der Integration gehandicapter ArbeitnehmerInnen gemacht hat, wird die Leistung des Fachdienstes als sinnvolle Alternative zu der üblichen Flut von Bewerbungen nach einer Ausschreibung ansehen.
Die Wege in die Erwerbsarbeit führen in vielen Fällen über Betriebspraktika und Arbeitserprobungen. Dabei zeigt sich bisweilen der Bedarf an Weiterbildungen, die vom Fachdienst zusammen mit den Auftraggebern ermöglicht werden. In Unternehmen wird die Beteiligung der für den Prozess wichtigen Instanzen wie BetriebsärztInnen, Schwerbehindertenvertretungen und Integrationsämter genutzt und sehr geschätzt. Ihre Leistungen sind insbesondere bei Anpassung von Arbeitsplätzen durch technische und organisatorische Hilfen sehr hoch zu werten. Ein weiteres Instrument ist die Förderung der Einarbeitung durch finan-zielle Eingliederungshilfen der Kostenträ-ger an die Arbeitgeber.
Nicht in allen Vermittlungsfällen gibt es eine ausgeprägte vierte Phase der Eingliederung. Den Erfolg über die Probezeit hinweg zu sichern oder die Entfristung des Arbeitsvertrages zu erreichen, sind obligatorische Ziele der Begleitung. Was darüber hinausgeht, bezieht sich auf das soziale Umfeld. Hat z. B. eine rollstuhlfahrende Versicherte ihren neuen Job in einer anderen Stadt gefunden, wird sie nach der Probezeit dort sesshaft werden wollen und mit ihrer Familie eine geeignete Wohnung suchen. Sind professionelles Coaching, Wohnungs- oder Kraftfahrzeughilfe angezeigt? Bei solchen und vielen anderen Anliegen werden die Versicherten vom Fachdienst ebenfalls gezielt unterstützt.
Fallbeispiel
Die folgende Fallvignette illustriert, wie die Arbeit des Fachdienstes in der Praxis verläuft.
Medizinische Anamnese
Ein 38-jähriger Steinsetzer zog sich am 14. 12. 2007 bei einem Arbeitsunfall eine Weber-B-Sprunggelenksverletzung links zu. Die medizinische Behandlung versetzte ihn im Oktober 2008 in die Lage, im Unfallbetrieb eine Belastungserprobung zu beginnen. Nach vier Monaten konnte er jedoch nur eine Belastung von 25 Wochenstunden erreichen – zu erheblich waren die Beschwerden und Einschränkungen. Nachdem die Berufsgenossenschaft die Möglichkeiten der innerbetrieblichen Umsetzung und Umgestaltung der Arbeitsabläufe geprüft und verworfen hatte, beauftragte sie im Februar 2009 den Fachdienst für die berufliche Integration.
Berufliche und soziale Anamnese
Der 38-jährige Familienvater und Alleinverdiener war auch wegen laufender Kreditverpflichtungen an einer baldigen vollschichtigen Erwerbstätigkeit interessiert. In seinem Herkunftsland hatte er den Beruf des Malers und Lackierers erlernt. Die zum Zeitpunkt des Unfalls ausgeübte Tätigkeit als Steinsetzer verrichtete der Versicherte schon seit mehreren Jahre im selben Betrieb und war bei seinem Chef, den Kollegen und Kunden wegen seiner fachlichen Leistungen und seiner freundlichen Art sehr beliebt. Umso schwerer fiel es ihm zu akzeptieren, dass er wegen der verbliebenen Unfallfolgen weder seinen erlernten Beruf noch seine letzte Tätigkeit wettbewerbsfähig und auf Dauer würde ausüben können.
Verlauf der Vermittlungsarbeit
Das Profiling konzentrierte sich auf Wunsch des Verletzten zunächst auf handwerksnahe Tätigkeiten, z. B. Bauleiter, Maschinenfüh-rer, Lagerarbeiter, Berater im Baustoffhandel. Ein Gartenbaubetrieb, Geschäftspartner des Unfallbetriebs, ermöglichte dem Verletzten ab Mitte März 2009 ein zweimonatiges Praktikum, das aber schon nach gut drei Wochen wegen zu starker Beschwerden am verletzten Bein enden musste.
Erst nach dieser schmerzhaften, für ihn aber offensichtlich wichtigen eigenen Erfahrung konnte sich der 38-Jährige auch andere Arbeiten außerhalb seines bisherigen Berufsfeldes vorstellen. Zudem erhöhte sich der ökonomische Druck auf den Familienvater, als deutlich wurde, dass die Berufsgenossenschaft über die 78. Woche nach dem Unfall hinaus kein Verletzten- oder Übergangsgeld zahlen würde. Der Beraterin gelang es, einen tragfähigen Kontakt zu einem Unternehmen des öffentlichen Personennahverkehrs aufzubauen. Für die angestrebte Qualifizierung zum Zugführer erhielt sie zwar keine Zusage, wohl aber für die Einstellung als Busfahrer, eine erfolgreiche Ausbildung vorausgesetzt. In der Zeit von Juli bis November 2009 bildete sich der Verletzte mit Unterstützung der Berufsgenossenschaft und dem Arbeitgeber zum Busfahrer fort und bestand alle Prüfungen mit großem Erfolg.
Ergebnis
Der Versicherte wurde mit seiner neuen Qualifikation zum 23. 12. 2009 für eine voll-schichtige Tätigkeit mit einem auf zwei Jahre befristeten Arbeitsvertrag eingestellt. Die Berufsgenossenschaft förderte das erste halbe Jahr der Tätigkeit mit einem Eingliederungszuschuss an den Arbeitgeber. Lange vor Ablauf der zwei Jahre erhielt der Versicherte einen unbefristeten Arbeitsvertrag.
Hohe Vermittlungsquote
Der Fachdienst weist mit der Vermittlungsquote von über 70 % der gehandicapten Menschen eine beeindruckend hohe Er-folgsquote vor. Sie wird auch dadurch erreicht, weil sämtliche Leistungsmodelle des SGB im Einzelfall flexibel eingesetzt werden. Die Aufgabe ist nicht einfach, denn die an Personen, Orte und Zeit gebundenen jeweiligen Merkmale (Alter, gesundheitliche Einschränkung, Mobilität, Vorbildung, regionaler Arbeitsmarkt) sind zu berücksichtigen. Einen eventuell noch nicht eingetretenen Erfolg an der Persönlichkeit der Versicherten und/oder an den Fähigkeiten der BeraterInnen festzumachen, ist ein verständlicher Impuls, hilft aber nicht weiter. Wichtig ist es darüber zu reflektieren, welche Zwischenziele bereits erreicht wurden. Denn die Versicherten haben ggf. trotz eines eventuell noch fehlenden Arbeitsvertrags wirksame Werkzeuge an die Hand bekommen und können damit ihre Bestrebungen fortsetzen.
Eine Reihe unterschiedlicher Erfolgsgeschichten aus der Zusammenarbeit mit Auftraggebern, Verletzten und Arbeitgebern haben Manuela Malt und Christiane Harms auf ihrer Webseite (s. „Weitere Infos“) zusammengestellt.
Das Geheimnis des Erfolges
Integration bedeutet nicht, wieder so zu sein wie früher. Das wissen die Versicherten, die mit dem Fachdienst ihren Weg in die Erwerbsgesellschaft gehen. Sie erweisen sich im Prozess und in der neuen Erwerbstätigkeit als aufgeschlossen, flexibel und einsatzbereit – alles Attribute, die sich Arbeitgeber und Kostenträger wünschen und hier tatsächlich bekommen.
Eine weitere Erfolgskomponente liegt bei den Arbeitgebern. Gute Führungskultur und ein umfassendes Verständnis für sich, das Business und die Mitarbeiter machen vieles möglich. Dies wurde aktuell im Februar 2014 beim 5. Fachaustausch des Fachdienstes in Bremen mit Wissenschaftlern, Medizinern und Praktikern aus Wirtschaft und Rehabilitation diskutiert (s. „Weitere Infos“).
Das Erfolgsgeheimnis des Fachdienstes ist es, die Partner zusammenzubringen. In der Vermittlungsarbeit werden sehr individuelle Vorstellungen, Erwartungen und Ansprüche aller Beteiligten koordiniert. Es werden Türen geöffnet, Zweifel und Kritik werden ernst genommen und in Verständnis transformiert. Dabei hilft, dass die BeraterInnen in der Begleitung der Versicherten auf Augenhöhe arbeiten und sich damit von einem landläufigen sozialpädagogischen Verständnis unterscheiden. Stattdessen er-fassen sie mit der Haltung des empathischen Egoismus im Sinne von Pauen (2012) die Perspektive der Anderen (Versicherte und Auftraggeber) und fühlen sich mit guter eigener Abgrenzung in ihn ein. Daraus generieren und adaptieren sie ihr Vorgehen und ihre Kommunikation.
Der Fachdienst ist somit das zentrale Element bei der beruflichen Integration. Die Koordination aller Anforderungen des Einzelfalles macht den Erfolg überhaupt erst möglich. Das Ergebnis der Arbeit des Fachdienstes zeigt sich als eine lebensnahe Ausgestaltung von Disability Management und Betrieblichem Eingliederungsmanagement und bewirkt eine bedeutsame individuelle, wirtschaftliche und gesellschaftliche Weiter-entwicklung.
Literatur
Pauen M: Ohne Ich kein Wir: Warum wir Egoisten brauchen. Berlin: Ullstein, 2012.
Fußnoten
1 Aus praktischen Gründen wird im Folgenden der Begriff Versicherte bzw. Verletzte in der weiblichen Form verwendet.
Info
Die Phasen des Verfahrens zur beruflichen Wiedereingliederung
- Phase 1 = Profiling
- Phase 2 = Bewerbung
- Phase 3 = Vermittlung
- Phase 4 = nachgehende Betreuung
Weitere Infos:
malt|harms GmbH – Fachdienst für berufliche Integration: Erfolgs-geschichten
https://www.malt-harms.de/erfolgsgeschichten.php
5. Bremer Fachaustausch 2014 der malt|harms GmbH