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Digital support for risk assessment – pilot study at schools in Rhineland-Palatinate
Objective: Risk assessments are an important tool for ensuring health and safety at the workplace. Despite the legal requirement to do so, few organizations carry out risk assessments. Frequently mentioned obstacles are a negatively assessed cost-benefit ratio and a supposed lack of significant hazards. To counteract these obstacles and to enable organizations to carry out risk assessments, a digital tool to support risk assessment (“Cockpit IfL”) was developed and evaluated.
Method: The tool was evaluated in a pilot study with 20 schools with regard to acceptance and practicability. Data was collected through the use of an online questionnaire as well as interview surveys.
Result: The results of the pilot study provide initial indications that digital support in risk assessment can overcome central obstacles to its implementation. The participating schools were generally very satisfied with the tool, rated the cost-benefit ratio positively and can imagine conducting regular risk assessments with it.
Conclusion: If the results are confirmed in a larger, representative sample, digital support is a very promising approach to increasing the rate of risk assessments.
Keywords: risk assessment – school – teachers health – occupational safety – digital
doi:10.17147/asu-1-328875
ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2023; 59: 47 – 55
Digitale Unterstützung der Gefährdungsbeurteilung – Pilotstudie an Schulen in Rheinland-Pfalz
Zielstellung: Die Gefährdungsbeurteilung stellt ein wichtiges Instrument zur Sicherstellung von Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz dar. Trotz der gesetzlichen Vorgabe zur Durchführung, führen nur wenige Organisationen die Gefährdungsbeurteilung durch. Häufig genannte Hinderungsgründe sind ein negativ eingeschätztes Verhältnis von Aufwand zu Nutzen sowie vermutete fehlende nennenswerte Gefährdungen. Um diesen Hinderungsgründen entgegenzuwirken und Organisationen zu befähigen, eine Gefährdungsbeurteilung durchzuführen, wurde ein digitales Tool zur Unterstützung der Gefährdungsbeurteilung („Cockpit IfL“) entwickelt und evaluiert.
Methode: Das Tool wurde in einer Pilotstudie mit 20 Schulen hinsichtlich Akzeptanz und Praktikabilität evaluiert. Die Datenerhebung erfolgte durch Einsatz eines Online-Fragebogens sowie Interviewbefragungen.
Ergebnis: Die Ergebnisse der Pilotstudie geben erste Hinweise darauf, dass eine digitale Unterstützung bei der Gefährdungsbeurteilung zentrale Hinderungsgründe für die Durchführung überwinden kann. Die teilnehmenden Schulen waren insgesamt sehr zufrieden mit dem Tool, bewerteten das Verhältnis von Aufwand zu Nutzen sehr positiv und können sich vorstellen, regelmäßig die Gefährdungsbeurteilung damit durchzuführen.
Schlussfolgerung: Bestätigen sich die Ergebnisse in einer größeren, repräsentativen Stichprobe, stellt eine digitale Unterstützung einen vielversprechenden Ansatz zur Steigerung der Rate an durchgeführten Gefährdungsbeurteilungen dar.
Schlüsselwörter: Gefährdungsbeurteilung – Schule – Lehrergesundheit – Arbeitssicherheit – digital
Einleitung
Ziel der Gefährdungsbeurteilung (GFB) ist es, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten sicherzustellen, indem Risiken eingeschätzt, vermieden und beseitigt werden. Eine gesetzliche Pflicht zur Durchführung der Gefährdungsbeurteilung durch den Arbeitgeber besteht seit 1996. Diese ist im § 5 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) festgelegt (Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz 1996). Konkrete Umsetzungsempfehlungen können u. a. der Technischen Regeln für Arbeitsstätten ASR V3 „Gefährdungsbeurteilung“ entnommen werden. Der Prozess der Gefährdungsbeurteilung teilt sich in sieben Teilschritte auf (Becker u. Dassow 2020 nach Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin; siehe ➥ Abb. 1):
Zur Beurteilung der Arbeitsbedingungen gehört zunächst die systematische Ermittlung von Gefährdungen. Auf welche Gefährdungen dabei zu achten ist, wird ebenfalls in § 5 ArbSchG definiert. Zu berücksichtigen sind unter anderem die Gestaltung und die Einrichtung der Arbeitsstätte, die Arbeitsorganisation, physikalische, chemische und biologische Einwirkungen sowie psychische Belastungen bei der Arbeit. Wichtig dabei ist auch, mögliche Wechselwirkungen einzelner Gefährdungsfaktoren mitzubedenken. Zusätzlich zur gesetzlichen Vorgabe gibt es von offiziellen Stellen verschiedene Übersichten über die zu berücksichtigenden Gefährdungsfaktoren (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2019; Gemeinsame Deutsche
Arbeitsschutzstrategie 2009).
Wie wichtig es ist, vorhandene Gefährdungen zu beseitigen oder zumindest zu reduzieren, um die Gesundheit der Beschäftigten zu bewahren, lässt sich anhand von Modellen ableiten, die den Zusammenhang zwischen Arbeit und Gesundheit abbilden. Den Zusammenhang zwischen einer von außen wirkenden Belastung und der Reaktion im Menschen stellt das in der Arbeitswissenschaft verbreitete Belastungs-Beanspruchungs-Modell dar (Rohmert u. Rutenfranz 1975. Das Modell zeigt, dass arbeitsbezogene Belastungen – in Abhängigkeit von der individuellen Disposition – zu Beanspruchungen führen, die Beanspruchungsfolgen und Beeinträchtigungen der Gesundheit von Beschäftigten nach sich ziehen können. In einer empirischen Überprüfung des Anforderungs-Kontroll-Modells (Karasek u. Theorell 1999) zeigte sich, dass Beschäftigte in sogenannten High-Strain Jobs (hohe Arbeitsanforderungen und geringe Einflussnahme auf die Gestaltung der eigenen Arbeit) ein 2,2-fach erhöhtes kardiovaskuläres Mortalitätsrisiko aufwiesen (prospektive Längsschnittstudie über 25 Jahre). Diese Risikoerhöhung blieb auch nach Berücksichtigung der Berufsgruppe sowie biologischer und behavioraler Risikofaktoren signifikant (Kivimäki et al. 2002). Auch gibt es zahlreiche Beispiele zum Zusammenhang zwischen physikalischen Belastungsfaktoren und somatischen Risiken. So fanden Powazka et al. (2002) in einer Studie zur Belastung durch Lärm am Arbeitsplatz eine statistisch signifikante Assoziation zwischen einer gesteigerten Lärmexposition und erhöhtem systolischen Blutdruck.
Im Jahr 2013 wurde § 5 des Arbeitsschutzgesetzes dahingehend expliziert, dass in der Gefährdungsbeurteilung auch speziell psychische Belastungen am Arbeitsplatz betrachtet werden sollen. Dies erscheint vor dem Hintergrund stetig zunehmender Arbeitsunfähigkeits-(AU-)Tage aufgrund von psychischen Erkrankungen dringend notwendig (Techniker Krankenkasse 2020). Es wird angenommen, dass die entsprechende Zunahme im Zusammenhang mit Veränderungen in der Arbeitswelt steht. Hierzu zählen beispielsweise eine zunehmende Arbeitsverdichtung und häufige Unterbrechungen, Beschleunigung der Veränderungen, Entgrenzung sowie raumzeitliche Flexibilisierung und emotionale Anforderungen (Treier 2015). Nerdinger et al. (2019) machen deutlich, dass die Folgen hoher Stressbelastung von Beschäftigten nicht nur für die Beschäftigten selbst negative Folgen haben kann, sondern auch für das beschäftigende Unternehmen (z. B. erhöhte Arbeitsunfähigkeit, mangelnde Leistung). Daher ist es relevant, Belastungen am Arbeitsplatz inklusive potenzieller Gefährdungen systematisch zu erfassen und entsprechende Maßnahmen zielgerichtet abzuleiten und umzusetzen.
Fehlende Durchführung und Hinderungsgründe
Trotz der gesetzlichen Pflicht zur Durchführung der GFB und dem präventiven Nutzen, zeigen Befragungen von Unternehmen, dass nur etwa die Hälfte beziehungsweise etwas mehr als die Hälfte dieser Pflicht nachkommt. Laut der Betriebs- und Beschäftigtenbefragung der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) im Jahr 2015 führten unter 6500 befragten deutschen Organisationen nur 52 % die GFB durch. Dazu gehörten vor allem Klein- und Kleinstbetriebe mit weniger als 50 Beschäftigten (Schmitt-Howe u. Hammer 2019; Sommer et al. 2018). In der ESENER-3-Erhebung von 2019 gaben 67 % der deutschen Unternehmen an, eine GFB durchzuführen (European Agency for Safety and Health at Work, Howard et al. 2022).
Die Hauptgründe für die fehlende Durchführung der GFB sind, dass der benötigte Aufwand im Vergleich zu dem erwarteten Nutzen als unzureichend eingeschätzt wird, dass – subjektiv eingeschätzt – keine nennenswerten Gefährdungen vorlägen und Mitarbeitende Sicherheitsdefizite auch ohne GFB selbst erkennen würden. Darüber hinaus bemängelt mehr als die Hälfte der Organisationen, die den Nutzen der GFB als gering einschätzen, dass die Instrumente nicht zu ihren betrieblichen Abläufen passen würden. Organisationen, die bisher keine GFB durchgeführt haben, berichten, dass ihnen Hilfestellungen fehlen würden (15 %), ihnen die gesetzlichen Anforderungen unklar seien (15 %) oder ihnen die gesetzlichen Vorschriften gänzlich unbekannt wären (27 %). Insgesamt werden die GFB in der betrieblichen Praxis vielfach nicht routinemäßig durchgeführt, sondern besondere Ereignisse werden als Anlass zur Durchführung der GFB verwendet (z. B. vorausgegangene Arbeitsunfälle oder auf Bitten oder Beschwerden von Beschäftigten; Sommer et al. 2018). Ähnliche Hinderungsgründe zeigten sich auch in der ESENER-3-Studie. 88 % der deutschen Unternehmen gaben an, dass es keine größeren Probleme gebe und 83 % sagten, dass ihnen die Risiken schon bekannt seien. Weitere 48 % nannten die Komplexität der gesetzlichen Vorgaben als Barriere, die einer Durchführung der GFB entgegensteht (European Agency for Safety and Health at Work et al. 2022).
In der Arbeitswelt Schule fallen die Defizite bei der Durchführung der GFB noch etwas größer aus. In einer landesweiten Befragung an deutschen Schulen berichteten 76,2 % der befragten Lehrkräfte, dass keine Gefährdungsbeurteilung an ihrer Schule durchgeführt wurde (Koestner et al. 2023). Für Rheinland-Pfalz berichten Schöne et al. (2017), dass die Gefährdungsbeurteilung noch nicht ausreichend häufig in Schulen umgesetzt werden. Aus welchen Gründen speziell in Schulen keine flächendeckende Gefährdungsbeurteilung durchgeführt wird, ist in der Literatur nur wenig beschrieben. In der arbeitsmedizinischen Betreuung von Schulen in Rheinland-Pfalz zeigt sich jedoch immer wieder, dass Schulen vielfach unbekannt ist, dass die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung gesetzlich vorgeschrieben ist. Ist die gesetzliche Pflicht bekannt, fehlt oft Wissen darüber, wie die Gefährdungsbeurteilung durchzuführen ist und welche Hilfestellungen es gibt. Hier zeigen sich deutlich Parallelen zu den Hinderungsgründen anderer Organisationen.
Fragestellung und Zielstellung
Unabhängig vom Setting stellt sich die Frage, wie in Anbetracht der beschriebenen Hinderungsgründe eine vermehrte und möglichst flächendeckende Durchführung der Gefährdungsbeurteilung erreicht werden kann. Um den Aufwand zu reduzieren, können Prozesse stärker automatisiert, die Abläufe vereinfacht und klarer strukturiert werden. Damit die Bedürfnisse von Organisationen stärker in den Prozessen berücksichtigt werden, können Prozesse mittels definierter Algorithmen an die Gegebenheiten in der Organisation individuell angepasst werden. Wissen über die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung und dafür nutzbare Hilfestellungen könnten besser vermittelt werden, wenn alle Aspekte des Prozesses an einem Ort zentralisiert ablaufen. Darüber hinaus ist es für die tatsächliche Umsetzung der GFB wichtig, dass das Wissen didaktisch und optisch so aufbereitet wird, dass es für die Nutzenden leicht verständlich und jederzeit verfügbar ist. Eine digitale Lösung, die alle Prozessschritte der Gefährdungsbeurteilung unterstützt, erläutert und die Nutzenden durch den Prozess leitet, könnte dabei helfen, den genannten Hinderungsgründen entgegenzuwirken.
Um dieser Annahme nachzugehen und die Praktikabilität einer digitalen Unterstützung bei der Gefährdungsbeurteilung zu überprüfen, wurde im Institut für Lehrergesundheit (IfL) zwischen 2018 und 2019 ein digitales Tool zur Unterstützung bei der Gefährdungsbeurteilung entwickelt („Cockpit IfL“) sowie eine Pilotstudie geplant und durchgeführt. Im Rahmen dieser Pilotstudie wurde das „Cockpit IfL“ hinsichtlich seiner Akzeptanz und Praktikabilität evaluiert – insbesondere im Hinblick auf die in der Literatur beschriebenen Hinderungsgründe für die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung.
Methode
Digitales Tool „Cockpit IfL“
Das „Cockpit IfL“ ist ein digitales Tool, das bei allen Schritten der Gefährdungsbeurteilung unterstützt (➥ Abb. 2). Es werden alle notwendigen Prozessschritte vorgegeben, es wird aktiv durch den Prozess geleitet und alle notwendigen Hilfsmittel werden zur Verfügung gestellt. Dazu gehört die umfassende Erhebung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes aus Sicht der Schule, die Erfassung der Arbeitsbedingungen durch die Bediensteten (angelehnt an die Empfehlungen der GDA), automatisierte grafische Auswertungen der Ergebnisse, Empfehlungen für Maßnahmen zur Beseitigung vorhandener Gefährdungen sowie Formulare zur Dokumentation der ergriffenen Maßnahmen. Die Schulleitung erhält im ersten Schritt einen Online-Fragebogen, um den Ist-Zustand an ihrer Schule zur Organisation von Sicherheit und Gesundheit zu erfassen. Im zweiten Schritt kann die Schulleitung einen Online-Fragebogen für alle Bediensteten der Schule freischalten. Der Fragebogen erfasst die Arbeitssituation, die Organisation von Sicherheit und Gesundheit aus Sicht des Kollegiums und Folgen der Arbeitssituation (z. B. Arbeitszufriedenheit oder Gesundheitszustand). Er umfasst abhängig von den Filterfragen zwischen 152 und 220 Fragen. Zur individuellen Einschätzung der Arbeitssituation erhält jede Lehrkraft nach Abschluss des Fragebogens eine Rückmeldung zur eigenen Belastungssituation und Empfehlungen für mögliche Maßnahmen zur Belastungsreduktion. Im nächsten Schritt werden die Gefährdungen basierend auf den beiden Fragebögen beurteilt. Dafür werden die Ergebnisse der Befragungen automatisiert grafisch und tabellarisch aufbereitet (➥ Abb. 3). Die Schulleitung kann anhand der Ergebnisse der Befragungen Prioritäten setzen und Maßnahmen festlegen. Zur Festlegung von Maßnahmen kann die Schulleitung zu den unterschiedlichen Aspekten Maßnahmenvorschläge einsehen und erhält Hinweise zur weiteren Analyse etwaiger Probleme. Diese wurden durch das Institut für Lehrergesundheit erarbeitet. Der gesamte Prozess wird durch verschiedene „Pop-up-Tutorials“ unterstützt, um die Nutzung zu erleichtern und weiterführende Information zur Verfügung zu stellen. Die Durchführung der Maßnahmen sowie die anschließende Wirksamkeitskontrolle kann im „Cockpit IfL“ dokumentiert werden und bildet damit den letzten Schritt in diesem Durchlauf der Gefährdungsbeurteilung ab. Die Befragung zur Analyse des Ist-Zustands kann jederzeit wieder durchgeführt werden. Eine detaillierte Beschreibung der technischen Umsetzung und der Realisierung der einzelnen Prozessschritte wurde an anderer Stelle publiziert (Becker et al. 2022).
Rekrutierung und Studiendesign
Zur Überprüfung der Akzeptanz sowie der Funktionalität und Praktikabilität des „Cockpit IfL“ wurde von April 2019 bis September 2019 eine Pilotstudie mit einer nicht-repräsentativen Stichprobe von n = 20 Schulen aus unterschiedlichen Schulformen (Grundschule, Gymnasium, Realschule Plus, berufsbildende Schule) durchgeführt. Die Rekrutierung erfolgte vor allem per E-Mail und zusätzlich im Rahmen einer Präsenzveranstaltung für Schulleitungen zum Thema Gefährdungsbeurteilung. Von 247 per E-Mail kontaktierten Schulen signalisierten zehn ihre Bereitschaft zur Teilnahme an der Pilotstudie. Bei der Präsenzveranstaltung wurden zehn weitere Schulen rekrutiert. Die teilnehmenden Schulen testeten das „Cockpit IfL“ vom 01.04.2019 bis zum 01.07.2019. Die Evaluation fand im Juli und August 2019 statt. Dabei wurden Schulleitungen eingeladen, an leitfadengestützten Interviews sowie an einer Online-Befragung teilzunehmen. Die Instrumente werden im Folgenden beschrieben.
Instrumente der Online-Befragung
Nachfolgend werden die in der Untersuchung verwendeten Messinstrumente beschrieben.
System Usability Scale (SUS)
Die Benutzerfreundlichkeit des „Cockpit IfL“ wurde mit der System Usability Scale (SUS; Brooke 1996) gemessen. Werte von weniger als 50 zeigen deutliche Mängel in der Usability an. Ab einem Wert von 70 kann von guter Usability gesprochen werden. Ein Wert von 100 entspricht einer perfekten Usability. Mittels einer fünfstufigen Likert-Skala („stimme überhaupt nicht zu“ bis „stimme völlig zu“) werden insgesamt zehn Items bewertet (Beispielitem: „Ich fand das System einfach zu benutzen.“). Die SUS unterscheidet zuverlässig zwischen mangelhafter und guter Usability und weist eine hohe Korrelation mit Ergebnissen anderer fragebogenbasierter Messinstrumente der Usability auf. Außerdem weist sie auch bei geringem Stichprobenumfang eine hohe Reliabilität auf.
Fragebogen zur interaktionsbezogenen Technikaffinität (ATI)
Die Technikaffinität der Stichprobe wurde mit dem Fragebogen zur interaktionsbezogenen Technikaffinität (ATI, Franke et al. 2019) untersucht. Der Fragebogen basiert auf dem „Need for Cognition“-Konzept. Es beschreibt, wie gerne Menschen sich auf kognitiv anstrengende Dinge einlassen und diese genießen (Bless et al. 1994). Insgesamt neun Items werden auf einer sechsstufigen Likert-Skala („stimmt gar nicht“ bis „stimmt völlig“) bewertet (Beispielitem: „Ich verbringe sehr gern Zeit mit dem Kennenlernen eines neuen technischen Systems.“). Der Fragebogen weist eine hohe Reliabilität und eine hohe Konstruktvalidität auf. Mit Hilfe des Fragebogens wurde überprüft, ob die Technikaffinität der Teilnehmenden von der Normalbevölkerung abweicht und somit die Verallgemeinerung der Ergebnisse der Pilotstudie einschränkt.
Eigenentwickelte Fragen
Neben den beiden validierten Instrumenten wurden weitere Fragen eigens für das Projekt entwickelt (➥ Tabelle 1). Dabei wurde erfasst, ob bereits die Gefährdungsbeurteilung durchgeführt wurde (dichotom), die Einstellung zum und Kenntnisse im Arbeits- und Gesundheitsschutz, die Zufriedenheit mit dem „Cockpit IfL“ und dem darin eingesetzten Tutorial-Video sowie der Aufwand mit und der Nutzen des „Cockpit IfL“ (siebenstufige Likertskala).
Weiterhin wurden Hinderungsgründe erfasst, falls eine Durchführung noch nicht stattgefunden hatte. Hierfür wurden die Antwortmöglichkeiten aus der GDA-Betriebsbefragung von Sommer et al. (2018) genutzt, um eine Vergleichbarkeit der Antworten zu ermöglichen (z. B. gesetzliche Pflicht nicht bekannt; Mehrfachauswahl möglich).
Interviews
Die strukturierten Interviews wurden mit Hilfe eines Interviewleitfadens durchgeführt und digital aufgezeichnet. Nachdem die Interviews transkribiert wurden, wurden die Inhalte von einer Person kodiert und dabei ein Kategoriensystem erstellt (induktives Vorgehen). Im Anschluss wurden die Interviews von einer zweiten Person erneut kodiert, wobei jedoch das beim ersten Kodieren erstellte Kategoriensystem vorgegeben war (deduktives Vorgehen). Die Ergebnisse der beiden Kodierungen wurden letztlich verglichen, diskutiert und eine finale Zuordnung der Aussagen zu den Kategorien vorgenommen. Dabei wurden teilweise weitere Kategorien hinzugefügt, um die Inhalte besser klassifizieren zu können.
Neben offenen Fragen wurden im Leitfaden bestimmte Themen konkret angesprochen, beispielsweise die Auswertungen der Daten und deren Übersichtlichkeit oder die Nutzung der Tutorial-Videos im „Cockpit IfL“. Welche Themen konkret angesprochen wurden, kann ➥ Tabelle 2 entnommen werden.
Auswertungsmethoden
Die Auswertung des Online-Fragebogens erfolgte mittels deskriptiver Statistik in SPSS 23. Die Auswertung der halbstandardisierten Interviews erfolgte mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring (2010).
Ergebnisse
Die 20 teilnehmenden Schulen teilten sich auf in 16 Grundschulen, 2 Realschulen Plus, 1 Gymnasium und 1 berufsbildende Schule. Von diesen 20 Schulen haben n = 15 (75 %) das „Cockpit IfL“ im Zeitraum der Pilotstudie aktiv genutzt. Fragebögen lagen von n = 14 Schulen vor und wurden in die Analysen einbezogen.
Online-Befragung
Vor den inhaltlichen Analysen wurden zwei Voranalysen durchgeführt, die eine mögliche Verzerrung der Stichprobe überprüfen sollten. Mit Hilfe der ATI-Skala (Franke et al. 2019) wurde überprüft, ob eine Verzerrung der Stichprobe durch die Teilnahme besonders technikaffiner Personen vorlag. Mit einem Mittelwert von M = 3,53 (SD = 1,08) liegt die Technikaffinität der Stichprobe sehr nah an der der Allgemeinbevölkerung (M = 3,58, SD = 1,09; Franke et al. 2019). Eine Verzerrung im Hinblick auf die Technikaffinität war somit nicht gegeben. Neben der Technikaffinität wurde überprüft, ob die Studienteilnehmenden bereits Erfahrungen in der Durchführung der Gefährdungsbeurteilung hatten, was ebenfalls eine Verzerrung der Aussagekraft der Studienergebnisse hätte bedeuten können. Dies war nicht der Fall, da zum Zeitpunkt der Datenerhebung keine der teilnehmenden Personen die Gefährdungsbeurteilung durchgeführt hatte.
Im nächsten Schritt wurde analysiert, ob in den teilnehmenden Schulen ähnliche Hinderungsgründe für die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung vorlagen, wie dies bei Unternehmen der Fall war. Bei der Beantwortung dieser Frage waren Mehrfachantworten möglich. 57,1 % der Studienteilnehmenden gaben an, dass ihnen die gesetzliche Pflicht zur Durchführung der Gefährdungsbeurteilung nicht bekannt war. Die Hälfte der Studienteilnehmenden wusste nicht, wo es Hilfestellung gibt, beziehungsweise gab an, dass keine nennenswerten Gefährdungen an der Schule bestünden. Eine ungünstige Einschätzung des Verhältnisses von (Durchführungs-)Aufwand zu Nutzen gaben 14,3 % der Studienteilnehmenden an. Etwas mehr als ein Drittel (35,7 %) der Studienteilnehmenden gab an, dass Sicherheitsdefizite auch ohne die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung durch das Kollegium erkannt, gemeldet und beseitigt würden (➥ Tabelle 3).
Obwohl bisher keiner der Studienteilnehmenden die Gefährdungsbeurteilung durchgeführt hatte, stimmten 85,7 % der Aussage zu, dass Arbeits- und Gesundheitsschutz ein wichtiger Bestandteil ihrer Aufgaben als Schulleitungen sei. Den eigenen Kenntnisstand im Arbeits- und Gesundheitsschutz schätzten die Befragten gering ein: 28,6 % stimmten eher nicht zu, 64,3 % stimmten teils zu/teils nicht zu und nur eine Person (7,1 %) stimmte eher zu, dass sie sich mit Arbeits- und Gesundheitsschutz gut auskenne.
Neben diesen Analysen, die die Voraussetzungen, Vorkenntnisse und Vorerfahrungen erfassen, beschreiben die weiteren Analysen die Aussagen zur Praktikabilität des „Cockpit IfL“. Zentrale Zielgröße für die Beurteilung der Praktikabilität und Nutzerfreundlichkeit des „Cockpit IfL“ war die Usability. Die Messung der Usability über die SUS-Skala (Brooke 1996) ergab im Mittel einen Usability-Score von 91 Punkten (SD = 7,2; Min = 75; Max = 100). Ab einem Wert von 70 kann von einer guten Usability gesprochen werden, womit die Usability von jedem der Teilnehmenden mindestens als gut beschrieben wird, im Mittel wurde diese sogar als sehr gut bis perfekt eingestuft. Der Aussage, dass die Beschäftigung mit dem „Cockpit IfL“ interessant war, stimmten 92,9 % (voll und ganz) zu, eine Person (7,1 %) stimmte eher zu. In Bezug auf die Zufriedenheit gaben 92,9 % an, dass sie sehr beziehungsweise voll und ganz zufrieden waren, eine Person (7,1 %) war ziemlich zufrieden. Auf die Frage, wie der Aufwand in Relation zum Nutzen erlebt wurde, gaben 85,7 % an, dass sie die Relation als sehr beziehungsweise voll und ganz angemessen erlebten. Weitere 14,3 % stuften die Relation als ziemlich angemessen ein (➥ Abb. 4)
Die Studienteilnehmenden sollten in einem weiteren Teil des Fragebogens beurteilen, inwieweit das „Cockpit IfL“ aus ihrer Sicht dazu beitragen kann, den Arbeits- und Gesundheitsschutz zu verbessern. Nach Einschätzung der Befragten stellt das „Cockpit IfL“ eine effektive Möglichkeit zur Unterstützung der Gefährdungsbeurteilung dar. Dieser Aussage stimmten 85,7 % (voll und ganz) zu, weitere 14,3 % stimmten eher zu. Die Aussage, dass sich der Arbeits- und Gesundheitsschutz an der Schule durch das „Cockpit IfL“ verbessern würde, fand ebenfalls breite Zustimmung. 57,1 % stimmten dieser Aussage (voll und ganz) zu, 35,7 % stimmten eher zu und eine Person gab zu dieser Frage keine Rückmeldung. Mit Blick auf die Zukunft sollten die Befragten angeben, ob diese sich vorstellen könnten, mit Hilfe des „Cockpit IfL“ regelmäßig die Gefährdungsbeurteilung durchzuführen. Dieser Aussage stimmten 85,7 % (voll und ganz) zu, weitere 14,3 % stimmten eher zu.
Interviews
Eine Übersicht über alle Kategorien und beispielhafte Aussagen findet sich in Tabelle 1 (s. oben). Die meisten Aussagen (n = 29) ließen sich der Kategorie „Struktur/Usability“ zuordnen. Dabei wurde vor allem die Struktur positiv hervorgehoben. Einige Rückmeldungen machten deutlich, dass sich die Nutzenden gut „an die Hand genommen gefühlt haben“ und die Leitung durch den Prozess als positiv wahrgenommen wurde. Darüber hinaus wurde die einfache und komfortable Nutzung betont. Achtzehn Aussagen wurden der Kategorie „Arbeitserleichterung“ zugeordnet. Dabei wurden vor allem der überschaubare Zeitaufwand und die deutliche Arbeitserleichterung positiv hervorgehoben. Weitere 14 Aussagen hatten etwas mit dem „Überblick über das Thema“ zu tun. Die Schulleitungen haben es als sehr positiv erlebt, dass sie einen fundierten und breiten Einblick in ihre Schule erhalten haben, der ihnen klar aufzeigte, wo wichtige Handlungsfelder waren. Neben diesen Teilaspekten wurde in 17 Aussagen berichtet, dass es sich um ein „gutes Gesamtsystem“ handle. Es wurde vor allem betont, dass das System als Ganzes stimmig und vollständig sei und dass es damit eine gute Basis für die Arbeit biete. Im Interview wurde auch konkret nach den Auswertungen der erhobenen Daten und deren Übersichtlichkeit gefragt. Zum Bereich „Auswertungen“ wurden 35 Angaben gemacht. Die Übersichtlichkeit der Auswertungen wurde, sofern eine Aussage dazu gemacht werden konnte, fast ausschließlich positiv beurteilt. Die Gestaltung der Auswertungen wurde ebenfalls insgesamt positiv beurteilt. Einzelne Personen hatten Schwierigkeiten damit, wie mit der Auswertung nun umzugehen sei – insbesondere wo sie anfangen sollten. Nach den Empfehlungen für umzusetzende Maßnahmen und deren Übersichtlichkeit wurde ebenfalls aktiv gefragt. Die „Empfehlungen“ wurden in 31 Angaben erwähnt und gemischt bewertet. Wurde die Übersichtlichkeit noch nahezu einheitlich als positiv bewertet, störten sich einige der Befragten an den wenig konkreten Empfehlungen im Bereich der Arbeitsmerkmale. Im Bereich Arbeitssicherheit wurden die Empfehlungen hingegen in Bezug auf Konkretheit und Umsetzbarkeit nicht negativ erwähnt. Der Umfang der Empfehlungen, ihre direkte Verfügbarkeit und die Tatsache, dass sie sich in der Praxis als hilfreich dargestellt haben, wurde ebenfalls positiv erwähnt. Auf die Frage, ob es den Befragten wichtig sei, „Inhalte ausdrucken“ zu können, wurden 14 Angaben gemacht. Bis auf zwei Ausnahmen sprachen sich die Befragten aus unterschiedlichen Gründen dafür aus, dass die Unterlagen druck- und speicherbar sein sollten (z. B. per E-Mail verschicken, in Besprechungen vorlegen). Zum besseren Verständnis des digitalen Tools und deren Funktion enthält „Cockpit IfL“ ein Tutorial-Video. Die Nutzung des Videos wurde im Interview ebenfalls erfasst. Zum „Tutorial-Video“ haben 13 Befragte eine Angabe gemacht. Einigen Befragten war das Video gar nicht aufgefallen, andere wiederum haben keine Erklärungen benötigt, da die Seite als selbsterklärend empfunden wurde. Die Personen, die das Video jedoch angesehen hatten, fanden dieses (sehr) positiv. Die Interviewten wurden darüber hinaus auch nach „Wünschen“ zu weiteren Funktionen gefragt. Hierzu wurden 16 Angaben gemacht. Angefangen bei Erinnerungen für die Fortschreibung der Gefährdungsbeurteilung über die Möglichkeit einer zweiten Befragung des Kollegiums hin zu einer Speichermöglichkeit für alle Auswertungen in einer Datei. Neben Wünschen nach konkreten Funktionen wurde in sechs Aussagen eine stärkere „Priorisierung“ von den Befragten gewünscht. Aufgrund des Umfangs der zu beachtenden Aspekte im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung wurde eine Vorstrukturierung, beispielsweise nach Relevanz, als hilfreich angesehen. Letztlich bezogen sich vier Nennungen auf die „Unterstützung durch das IfL“ im Laufe des Projekts und weitere fünf Aussagen konnten keiner anderen Kategorie zugeordnet werden. Diese wurden als „Sonstiges“ kategorisiert.
Diskussion
Die durchgeführten Analysen und die Auswertung der Interviews geben wichtige Hinweise darauf, dass das „Cockpit IfL“ eine praktikable Unterstützung bei der Durchführung der Gefährdungsbeurteilung in Schulen darstellt. Die Studienteilnehmenden zeigten sich sehr zufrieden mit der Usability und dem „Cockpit IfL“ insgesamt. Außerdem wird das „Cockpit IfL“ als effektive Möglichkeit zur Unterstützung der Gefährdungsbeurteilung eingestuft, die den Arbeits- und Gesundheitsschutz verbessert. Dies wird durch die positiven Aussagen in den Interviews, unter anderem zum Aufwand, der Struktur und dem Gesamtsystem, gestützt.
In Bezug auf die Hinderungsgründe für die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung, die in der Studie von Sommer et al. (2018) und der ESENER-3-Erhebung (European Agency for Safety and Health at Work et al. 2022) genannt wurden, zeigen die Ergebnisse der Pilotstudie deutlich, dass eine digitale Unterstützung wie das „Cockpit IfL“ diesen Hinderungsgründen effektiv entgegenwirken kann. Ein zentraler Hinderungsgrund für Unternehmen ist, dass der Aufwand in Relation zum Nutzen als gering eingestuft wird. Die Ergebnisse der Pilotstudie zeigen zwar, dass dieser Hinderungsgrund für Schulen weniger im Vordergrund steht, die Relation von Aufwand zu Nutzen von Nutzenden des „Cockpit IfL“ jedoch trotzdem sehr positiv eingeschätzt wird. Außerdem schätzten fast alle Teilnehmenden das „Cockpit IfL“ als eine effektive Möglichkeit zur Unterstützung der Gefährdungsbeurteilung ein. Diese Angaben im Fragebogen decken sich mit den Erkenntnissen aus den Interviews, in denen sich viele Aussagen der Kategorie „Arbeitserleichterung/Aufwand“ zuordnen ließen. Sehr viele Unternehmen gaben an, dass keine nennenswerten Gefährdungen vorliegen würden beziehungsweise Sicherheitsdefizite selbst erkannt werden würden (European Agency for Safety and Health at Work et al. 2022; Sommer et al. 2022). Insbesondere erstere Sichtweise teilte die Hälfte der Schulen. Betrachtet man jedoch die Aussagen in den Interviews, wird deutlich, dass diese Annahme vielfach korrigiert wird, wenn eine Auseinandersetzung mit der Gefährdungsbeurteilung und den dafür relevanten Inhalten stattfindet. Die Interviewten gaben unter anderem an, dass Themen wie die Lagerungsorte von Gefahrstoffen im Kollegium nicht bekannt waren oder dass Fragestellungen in den Fragebögen zur Analyse enthalten waren, bei denen nicht bekannt war, dass diese beachtet werden müssen.
Die Erfahrungsberichte, dass viele Schulen keine Gefährdungsbeurteilung durchführen, da das Wissen über die Art der Durchführung und etwaige Hilfsmittel fehle, konnte durch die Ergebnisse der Studie bestätigt werden. Etwa die Hälfte der Schulen gab dies als Hinderungsgrund an. In Unternehmen spielt dieser Punkt eine eher untergeordnete Rolle (Sommer et al. 2018). Dass eine digitale Unterstützung, die alle Informationen an einem Ort bündelt, diesen Hinderungsgrund minimieren kann, zeigen die Aussagen in den Interviews und die Rückmeldung zur Usability deutlich. Die Interviewten gaben beispielsweise an, dass das „Cockpit IfL“ Hilfestellungen enthielt, auf die sie selbst nie gekommen wären, dass die Empfehlungen des digitalen Tools sehr hilfreich waren, und auch, dass sie durch eine gut verständliche Schritt-für-Schritt-Anleitung durch den Prozess geleitet wurden.
Aufgrund der Erfahrungen in der arbeitsmedizinischen und sicherheitstechnischen Betreuung der Lehrkräfte in Rheinland-Pfalz wurde die Vermutung aufgestellt, dass vielen Schulleitungen unbekannt ist, dass eine gesetzliche Pflicht zur Durchführung der Gefährdungsbeurteilung besteht. Ähnlich wie beim Wissen über die Art der Durchführung und der Hilfsmittel, konnte diese Annahme durch die Pilotstudie bestätigt werden. Etwas mehr als die Hälfte der Schulen war diese Pflicht nicht bekannt. In Unternehmen wiederum spielt dieser Aspekt eine kleinere Rolle. Solange dieses Wissen fehlt, ist davon auszugehen, dass eine Schule oder ein Unternehmen auch keine digitale Unterstützung bei der Gefährdungsbeurteilung wahrnimmt. Auf der anderen Seite ist der geringe Aufwand, der dem „Cockpit IfL“ von den Studienteilnehmenden attestiert wurde, ein wichtiger Aspekt, der Schulen oder Unternehmen veranlassen könnte, die Gefährdungsbeurteilung, trotz fehlendem Wissen über die gesetzliche Pflicht, durchzuführen. Darüber hinaus zeigten mehrere Aussagen in den Interviews, dass das „Cockpit IfL“ dazu beigetragen hat, dass alle relevanten Aspekte der Gefährdungsbeurteilung deutlich wurden, die die Teilnehmenden von selbst nicht beachtet hätten.
Die Auswertungen zeigen nicht nur, dass Hinderungsgründe für die initiale Durchführung der Gefährdungsbeurteilung beseitigt werden können. Auch die regelmäßige Durchführung der Gefährdungsbeurteilung könnte durch die digitale Unterstützung gefördert werden. Fast alle Teilnehmenden gaben an, sich vorstellen zu können, mit der Unterstützung durch das „Cockpit IfL“ regelmäßig die Gefährdungsbeurteilung durchzuführen. Ob dieses Vorhaben tatsächlich in die Tat umgesetzt wird, konnte aufgrund des kurzen Beobachtungszeitraums in der Pilotstudie nicht überprüft werden. Da die Relation von Aufwand zu Nutzen als sehr positiv eingestuft wurde und die Studienteilnehmenden dem „Cockpit IfL“ einen Mehrwert bei der Steigerung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes attestieren, sind zumindest wichtige motivationale Voraussetzung für eine langfristige Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung gegeben.
Limitationen
Die Studie weist unterschiedliche Limitationen auf. Allen voran muss hier die Stichprobengröße genannt werden. Insbesondere bei den Auswertungen der Online-Befragung ist die Generalisierbarkeit der Erkenntnisse aufgrund der kleinen Stichprobe eingeschränkt. Gestützt werden die Aussagen jedoch durch die Erkenntnisse aus den Interviews, für die die Stichprobengröße als angemessen einzustufen ist. Eine weitere Limitation stellt die Aussagekraft der selbstentwickelten Fragen dar. Die fehlende Validierung dieser Fragen und die Tatsache, dass einzelne Items statt Skalen genutzt wurden, schränken die Aussagekraft trotz der hohen Augenscheinvalidität ein. Bei der Interpretation der Ergebnisse ist weiterhin zu beachten, dass diese auf Selbstberichten von Schulleitungen basieren und dementsprechend in Bezug auf soziale Erwünschtheit oder andere Antworttendenzen verzerrt sein könnten. Eine weitere Limitation ergibt sich durch einen möglichen Selektionsbias bei der Rekrutierung, da anzunehmen ist, dass eher interessierte und motivierte Schulen am Pilotprojekt teilgenommen haben. Somit ist anzunehmen, dass die Ergebnisse positiver ausgefallen sind als sie es wären, wenn beispielsweise alle Schulen verpflichtet wären, das „Cockpit IfL“ zu nutzen. Die Repräsentativität und damit die Übertragbarkeit der Ergebnisse für die Schulen in Rheinland-Pfalz im Speziellen und Unternehmen im Allgemeinen ist aufgrund der kleinen Anzahl an Schulen (20 von ca. 1600 staatlichen Schulen in Rheinland-Pfalz) und der bei allen Schulformen (abgesehen von Grundschulen) nur geringen Stichprobengröße stark eingeschränkt. Aufgrund der Konzeption der Arbeit als Pilotstudie stand dies in Relation zur Gewinnung von ersten Erkenntnissen auch nicht im Fokus.
Schlussfolgerung
Die vorliegende Studie liefert erste Erkenntnisse über die Praktikabilität, die Akzeptanz und den Nutzen einer digitalen Unterstützung bei der Gefährdungsbeurteilung in Schulen. Um diese ersten Erkenntnisse zu stützen und zu überprüfen, ist vor allem eine breitere Untersuchung mit einer größeren Stichprobe und einem Kontrollgruppendesign wünschenswert und wichtig. Eine größer angelegte Implementierungsstudie ist derzeit durch die Autoren des Artikels in Planung.
Bei den verschiedenen Schularten handelt es sich um vergleichsweise ähnliche Organisationen, insbesondere im Hinblick auf die Arbeitssituation allgemein. Um die Erkenntnisse dieser Pilotstudie auch auf andere Organisationen (z. B. Unternehmen) übertragen zu können, wäre es wichtig, eine digitale Unterstützung bei der Gefährdungsbeurteilung auch dort einzusetzen und auf ihre Praktikabilität zu prüfen. Insbesondere, weil speziell Unternehmen vielfach als Hinderungsgrund angeben, dass die vorhandenen Instrumente nicht zu betrieblichen Abläufen passen (Sommer et al. 2018) und eine hohe Heterogenität bezüglich der Anforderungen an die Arbeitssicherheit und den Gesundheitsschutz in den unterschiedlichen Unternehmen bestehe.
Mit den gewonnenen Hinweisen auf die Praktikabilität einer digitalen Unterstützung bei der Gefährdungsbeurteilung schließt sich die Frage an, ob die Unterstützung auch längerfristig genutzt und als hilfreich angesehen wird. Die Studienteilnehmenden gaben an, dass sie sich eine regelmäßige Durchführung der Gefährdungsbeurteilung mit Hilfe des „Cockpit IfL“ vorstellen können. Ob dieses Vorhaben auch in die Tat umgesetzt wird, konnte im Rahmen der Pilotstudie aufgrund des kurzen Beobachtungszeitraums nicht beantwortet werden. Um dieser Frage nachzugehen, wäre es wichtig, die Nutzenden einer digitalen Unterstützung längerfristig bei der Nutzung zu begleiten.
Auswirkungen auf die (langfristige) Nutzung des „Cockpit IfL“ könnte auch die COVID-19-Pandemie haben. Neben den bekannten Belastungen für Schulen, rückte die Pandemie die Themen Gefährdungsbeurteilung und Digitalisierung stärker in den Fokus der Schulen. Koestner et al. 2023 zeigten beispielsweise, dass viele Lehrkräfte in der Digitalisierung auch eine Chance sehen. Es kann vermutet werden, dass sich diese Umstände zukünftig positiv auf die Bereitschaft zur Nutzung eines digitalen Tools zur Erstellung der GFB wie „Cockpit IfL“ auswirken.
Weiterhin ist es interessant zu untersuchen, inwieweit die Nutzung einer digitalen Unterstützung bei der Gefährdungsbeurteilung zu einer mittel- und langfristigen Verbesserung der Arbeitssituation (z. B. durch eine Reduktion der Unfälle oder eine Verbesserung der wahrgenommenen Arbeitsmerkmale) in der Organisation führt.
Zusammenfassend kann basierend auf den Ergebnissen der Pilotstudie festgehalten werden, dass eine digitale Unterstützung der GFB ein vielversprechender Ansatz ist, um die Hinderungsgründe für die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung zu minimieren und somit die Rate von durchgeführten Gefährdungsbeurteilungen in Organisationen zu erhöhen. Insbesondere würde dies dazu führen, dass Gefährdungen in effizienter Weise und systematisch erfasst würden, um zielgerichtete Maßnahmen ableiten zu können und damit zu einem verbesserten Arbeits- und Gesundheitsschutz beizutragen.
Beiträge der Autoren: JB: Erstellung Manuskript und Endredaktion; KS, PK, SL und TB: kritische Durchsicht und Einbringung wichtigen Inhalts; CK: kritische Durchsicht und Endredaktion.
Interessenkonflikt: Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Literatur
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Kontakt
Dr. phil. Jan Becker
Institut für Lehrergesundheit am
Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin
Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Kupferbergterrasse 17–19
55116 Mainz
jan.becker@unimedizin-mainz.de