Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch
Zum Beitrag von Priv.-Doz. Dr. med. Wobbeke Weistenhöfer et al.

Das beruflich bedingte Harnblasenkarzinom. Die BK 1301-Matrix als Algorithmus und ­Entscheidungshilfe für eine Zusammenhangs­begutachtung

doi:10.17147/asu-1-217704

Mit großem Interesse haben wir den Artikel zur BK 1301-Matrix gelesen. Wir begrüßen die Erarbeitung einer Konvention für die Zusammenhangsbegutachtung bei Verdacht auf Vorliegen einer BK 1301, die zu einer einheitlicheren und damit gerechteren Begutachtung aller betroffenen Versicherten führen soll.

Die Veröffentlichung wurde „zur Diskussion gestellt“, an der wir uns auch aus Sicht der arbeitstechnischen Ermittlungen beteiligen möchten, um die Anwendung objektivierbarer Kriterien für die Bewertung von Expositionsbedingungen am Arbeitsplatz in der Praxis voranzubringen.

Für die praktische Umsetzung des Matrixmodells ergeben sich aus unserer Sicht einige Fragen, die offen geblieben sind und vor der Verabschiedung einer Begutachtungsempfehlung zur BK 1301 geklärt werden sollten.

Anwendungsbereich der Matrix

Als Voraussetzung für die Anwendung der Beurteilungsmatrix wird eine gesicherte „arbeitstechnisch relevante Exposition“ gegenüber krebserzeugenden aromatischen Aminen im Sinne der BK 1301 genannt. Dazu gehören neben o-Toluidin, 2-Naphthylamin und 4-Aminodiphenyl auch Benzidin und 4-Chlor-o-toluidin. Kann die Matrix auch für die Beurteilung von Expositionen gegenüber Benzidin und 4-Chlor-o-toluidin (ohne Quantifizierung) angewendet werden, obwohl diese beiden Amine nicht erwähnt werden?

Unklar bleibt auch, was unter einer „arbeitstechnisch relevanten Exposition“ zu verstehen ist und wer diese Relevanz festzustellen hat. Stellt beispielsweise eine kumulative o-Toluidin-Dosis im ein- oder zweistelligen mg-Bereich eine „arbeitstechnisch relevante Exposition“ dar und ist das Matrixmodell bei diesen Werten noch anwendbar? Üblicherweise werden im Rahmen der arbeitstechnischen Ermittlungen die beruflichen Einwirkungen beschrieben. Ob diese als arbeitsmedizinisch relevante Expositionen im Sinne des Kausalzusammenhangs für die BK 1301 zu bewerten sind, ist im Rahmen einer Zusammenhangsbegutachtung zu beurteilen.

Das Vorliegen der „arbeitstechnisch relevanten Exposition“ wird gleichzeitig auch für die Anerkennung der BK 1301 postuliert
(S. 178, Abschnitt Exposition). Gilt für die Anwendung der Matrix und die Anerkennung der gleiche Maßstab?

Wertigkeit

In der Matrix wird den verschiedenen beruflichen Indikatoren eine unterschiedliche Wertigkeit zugeordnet, die höchste Wertigkeit der kumulativen Exposition. Letzteres ergibt sich daraus, dass bei der Ermittlung einer kumulativen Exposition bereits alle weiteren Faktoren wie Dauer, Häufigkeit, Höhe und Art der Einwirkungen eingeflossen sind. Werden diese Indikatoren bei der Anwendung der Matrix bei quantifizierbaren Expositionen nochmals zusätzlich für die Beurteilung herangezogen, werden sie doppelt berücksichtigt.

Sinnvoll erscheint vor diesem Hintergrund die Verwendung von getrennten Matrices für quantifizierbare und nicht quantifizierbare Expositionen.

Darüber hinaus erschließt sich uns nicht ganz, warum bei den nicht quantifizierbaren Einwirkungen der Expositionszeit eine höhere Wertigkeit zugeordnet wird als der Expositionsintensität.
Wir verstehen die Intention, dass bei vergleichbarer kumulativer Exposition seltene hohe Einwirkungen einen geringeren Einfluss
auf das Erkrankungsrisiko haben als langjährige, sich ständig wiederholende Einwirkungen. Bei der Anwendung in der Praxis impliziert das aber, dass eine langjährige Tätigkeit höher zu bewerten sei als eine sehr geringe Expositionsintensität.

Um solche Fehlinterpretationen zu vermeiden, weisen die Autorinnen und Autoren bereits darauf hin, dass durch „arbeitsmedizinisch erfahrene Sachverständige“ „die relevanten Pro- und Kontra-Argumente für die Beurteilung des Ursachenzusammenhangs im Einzelfall eingehend arbeitsmedizinisch gewürdigt werden“ sollen.

Trotzdem sollte nochmal explizit klargestellt werden, dass es nicht im Sinne der Autorinnen und Autoren ist, bei der Anwendung
der Matrix die Pro- und Kontra-Argumente einfach aufzusummieren (Zahl der Plus gegen Minus). Wir sehen die Gefahr, dass es ansonsten zu Fehleinschätzungen kommen könnte, weil auf dieser Basis zum Beispiel selbst bei starken Raucherinnen und Rauchern mit geringfügigen beruflichen Einwirkungen zumindest theoretisch die Forderung nach einer Anerkennung als BK denkbar wäre.

Intervallgrenzen

Der für quantifizierbare Expositionen vorgeschlagene Dosiswert für die untere Intervallgrenze von 3000 mg o-Toluidin wurde aus epidemiologischen Daten abgeleitet, auch wenn dabei die dermale Aufnahme nicht berücksichtigt werden konnte (Schilling 2021).

Für 2-Naphthylamin und 4-Aminodiphenyl war eine solche Ableitung nicht möglich, so dass sich die Arbeitsgruppe bei der Festlegung der Intervallgrenzen auf die Veröffentlichung von Weiß et al. (2010) bezieht. Auch wenn das Dosismodell kontrovers diskutiert wurde, konnten wir in der Vergangenheit zahlreichen arbeitsmedizinischen Gutachten entnehmen, dass bei den meisten Arbeitsmedizinerinnen und -medizinern zumindest dahingehend Konsens herrschte, dass bei kumulativen Expositionen unterhalb von 1 mg 2-Naphthylamin die berufliche Verursachung eines Harnblasen­karzinoms nicht wahrscheinlich ist. Worauf begründet sich der nun als untere Intervallgrenze festgelegte Wert von 0,5 mg?

Kanzerogenes Potenzial, Expositionsintensität

Die von Weiß et al. (2010) vorgeschlagenen Orientierungswerte für 2-Naphthylamin und 4-Aminodiphenyl unterscheiden sich deutlich. Im Matrixmodell geht man im Gegensatz dazu offenbar davon aus, dass 2-Naphthylamin und 4-Aminodiphenyl ein vergleichbares kanzerogenes Potenzial haben. Auf welchen wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht diese Annahme?

In der Regel liegen keine validen Expositionsdaten von aromatischen Aminen oder Azofarbstoffen vor, so dass eine Quantifizierung der kumulativen Exposition nicht möglich ist. In solchen Fällen findet das unterschiedliche kanzerogene Potenzial der Amine bei der Anwendung der Matrix keinerlei Berücksichtigung, was beispielsweise bei Einwirkungen von o-Toluidin und 2-Naphthylamin unter vergleichbaren Expositionsbedingungen zu einer Gleichbewertung führen könnte.

Für eine semiquantitative Einschätzung wird hier neben den zeitlichen Komponenten die Expositionsintensität herangezogen, für deren Anwendung in der Praxis jedoch objektivierbare Kriterien fehlen. Hilfreich wäre eine Aufschlüsselung, bei welchen Aminen beziehungsweise Azofarbstoffen bei welchen Konzentrationen (ggf. bei welchen Expositionsbedingungen) die Intensität als sehr gering, gering, mittel oder hoch einzustufen wäre.

Offen ist auch die Frage, wie die Einordnung in der Matrix erfolgen soll, wenn es in einem Fall Beschäftigungsabschnitte oder
Tätigkeiten gibt, die ganz unterschiedlichen Expositionsszenarien und Expositionsintensitäten zuzuordnen sind. Gegebenenfalls ist auch für einen Teil der Einwirkungen die Exposition quantifizierbar, für einen anderen nicht.

An weiterführenden Gesprächen zu dieser Thematik sind wir von Seiten der Unfallversicherungsträger sehr interessiert.

Dr. Daniela Pucknat (Berufsgenossenschaft Holz und Metall, BGHM),

Dr. Bernd Rose (BGHM),

Dr. Jens Seibel (Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse, BG ETEM),

Elfi Teich (Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft, BG BAU),

Gerald Wanka (Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie, BG RCI)

Kontakt

Dr. rer. nat. Daniela Pucknat
Sachgebiet Gefahrstoffe und Biostoffe
Berufsgenossenschaft Holz und Metall
Prager Straße 34
04317 Leipzig
Daniela.Pucknat@bghm.de

Replik der Autorinnen und Autoren

Die BK 1301-Matrix (Weistenhöfer et al. 2022) wurde für arbeitsmedizinisch auf dem Gebiet der BK 1301 erfahrene Sachverständige erarbeitet und soll diese bei der Zusammenhangsbegutachtung unterstützen. Für arbeitstechnische Ermittlungen und die Festlegung arbeitstechnisch relevanter Expositionen im Rahmen der BK 1301 sind eigene Abstimmungen und gegebenenfalls Workshops der Präventionsdienste der Unfallversicherungsträger erforderlich.

Hinsichtlich des Anwendungsbereichs der Matrix liegen bisher nur für die aromatischen Amine o-Toluidin, 2-Naphthylamin und 4-Aminobiphenyl kumulative Expositionsabschätzungen für die Erhöhung des Harnblasenkarzinomerkrankungsrisikos vor. Für Benzidin und 4-Chlor-o-toluidin gibt es derzeit keine entsprechenden quantifizierenden Angaben. Aber auch ohne eine solche Quantifizierung können erfahrene Gutachterinnen und Gutachter die BK 1301-Matrix durch die Wertung der Angaben zur Expositionsintensität und Expositionshäufigkeit anwenden.

Eine Gutachterin/ein Gutachter kann nur dann eine Anerkennung als BK 1301 empfehlen, wenn der Präventionsdienst der Berufsgenossenschaft die Expositionsbedingungen für geeignet hält (s. auch DGUV 2021). Das Vorliegen der „arbeitstechnisch relevanten Exposition“ ist die Voraussetzung für den Einsatz der Matrix bei der arbeitsmedizinischen Zusammenhangsbegutachtung. Für die Anerkennung einer BK 1301 muss jedoch neben der durch den Präventionsdienst ermittelten „arbeitstechnisch relevanten Exposition“ auch die „arbeitsmedizinisch relevante Exposition“ vorliegen, in die neben der arbeitstechnischen Exposition (Intensität, Dauer und Häufigkeit) unter anderem auch weitere Einflussfaktoren (z. B. Rauchverhalten, Hautzustand, Latenzzeit, konkurrierende Faktoren wie Medikamente, Enzympolymorphismen, weitere Erkrankungen) einfließen.

Die BK 1301-Matrix gibt einen Überblick über relevante Aspekte des beruflich bedingten Harnblasenkarzinoms und zeigt ihre jeweilige Wertung an. Dabei sind die einzelnen Zeilen der Matrix in ihrer Wertigkeit nicht gleichrangig. Die BK 1301-Matrix ist kein Addi­tionsscore, bei dem die Pro- und Kontra-Argumente einfach aufsummiert werden (Zahl der Plus gegen Minus) und ersetzt auch keine arbeitsmedizinische Expertise auf dem Gebiet der BK 1301. In der Praxis kann dies bedeuten, dass auch bei mehreren Pro-Argumenten das Vorliegen nur eines, aber dafür gewichtigen Kontra-Arguments eine Empfehlung zur Anerkennung der Erkrankung als BK 1301 unmöglich macht.

Bei Ermittlung einer quantifizierbaren kumulativen Exposition gegenüber krebserzeugenden aromatischen Aminen durch den Präventionsdienst sind darin bereits weitere Faktoren wie Dauer, Häufigkeit, Höhe und Art der Einwirkungen enthalten. Diese müssen daher zur Expositionswertung nicht erneut berücksichtigt werden. Getrennte Matrices (mit/ohne quantifizierbarer kumulativer Exposition) erscheinen aber nicht notwendig.

Die quantitativen Expositionsangaben und Intervallgrenzen in der BK 1301-Matrix wurden in Kenntnis der Publikation von Weiß et al. (2010) und anhand des Vortrags von Schilling (2021) im Plenum diskutiert und nach weiteren Diskussionen in der Arbeitsgruppe zur Erstellung von BK 1301-Matrices als Konsens festgelegt.

Da die BK 1301-Matrix auf dem Gebiet der BK 1301 arbeitsmedizinisch erfahrene Sachverständige bei der Zusammenhangsbegutachtung unterstützen soll, halten wir die Gefahr einer Gleichbewertung des kanzerogenen Potenzials von 2-Naphthylamin und o‑Toluidin durch erfahrene Gutachter, auch aufgrund der in der Matrix für diese Stoffe angegebenen, sehr unterschiedlich hohen kumulativen Expositionsbereiche (Milligramm- vs. Grammbereich), für nicht gegeben.

Eine Definition der Expositionsintensitäten gehört in den Bereich der arbeitstechnischen Expositionsermittlungen und wäre in einem weiteren Workshop und gegebenenfalls einer entsprechenden Arbeitsgruppe zu diskutieren und, wenn möglich im Konsens, zu beschließen.

Unterschiedliche Expositionsverhältnisse während verschiedener Beschäftigungsverhältnisse sind in der Begutachtungspraxis nicht selten. Auch hier ermöglicht eine Anwendung der BK 1301-Matrix für die einzelnen Expositionszeiträume letztendlich in der Zusammenschau eine Bewertung der Exposition über die Lebensarbeitszeit.

Auf der Basis der zur Diskussion gestellten BK 1301-Matrix können unter Berücksichtigung erster Erfahrungen in der Anwendung der BK 1301-Matrix bei der Zusammenhangsbegutachtung und, wenn möglich, nach Festlegung arbeitstechnisch relevanter Expositionen durch die Präventionsdienste gemeinsam gutachterliche Empfehlungen für die BK 1301 in Form eines „Merkblatts“ erarbeitet werden.

Wobbeke Weistenhöfer, Hans Drexler (Erlangen) und Klaus Golka ­(Dortmund) für das Autorenteam.

Literatur

DGUV: Ermittlung und Bewertung der Einwirkung im Berufskrankheitenverfahren. DGUV Handlungsempfehlung. Mai 2021 https://publikationen.dguv.de/versicherungleistungen/berufskrankheiten/…

Schilling T: Ergebnisse der Literaturrecherche zur Dosisabschätzung – Vorschlag einer Dosisableitung für o-Toluidin. Vortrag beim DGAUM-Online-Workshop „Expositionsabschätzung für das Harnblasenkrebsrisiko durch aromatische Amine“ im Rahmen des FB 286 der DGUV. Erlangen, 2021 https://www.ipasum.med.fau.de/files/2021/03/3_workshop_bk1301_schilling… (zuletzt abgerufen am 14.07.2022).

Weiß T, Henry J, Brüning T: Berufskrankheit 1301 Bewertung der beruflichen (Mit-)Verursachung von Harnblasenkrebserkrankungen unter Berücksichtigung der quantitativen Abschätzung der Einwirkung der aromatischen Amine 2-Naphthylamin, 4-Aminobiphenyl und o-Toluidin. Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2010; 45: 222–235.

Weistenhöfer W, Golka K, Bolm-Audorff U, Bolt HM, Brüning T, Hallier E, Palla-pies D, Prager H-M, Schilling T, Schmitz-Spanke S, Uter W, Weiß T, Drexler H: Das beruflich bedingte Harnblasenkarzinom. Die BK 1301-Matrix als Algorithmus und Entscheidungshilfe für eine Zusammenhangsbegutachtung. ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2022; 57: 179–191 (Parallelpublikation in MedSach 118 2/2022: 79–93).

Kontakt

Priv.-Doz. Dr. med. Wobbeke Weistenhöfer
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin
Henkestr. 9–11
91054 Erlangen
wobbeke.weistenhoefer@fau.de

Das PDF dient ausschließlich dem persönlichen Gebrauch! - Weitergehende Rechte bitte anfragen unter: nutzungsrechte@asu-arbeitsmedizin.com.