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Eine kritische Bestandsaufnahme

Die Umsetzung der ArbMedVV – Chancen und Hemmnisse

Einleitung

Mit der Novellierung der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) vom 31. Oktober 2013 hat der Gesetzgeber das Selbstbestimmungsrecht der Beschäftigten für ihren individuellen Arbeitsschutz konsequent weiterentwickelt und präzisiert. Beschäftigte sind nicht mehr Objekte von Gängelungen durch „zwangsverordnete“ Vorsorgeuntersuchungen, sondern sind nunmehr gleichberechtigte Partner, die die Entscheidungshoheit darüber haben, ob und in welchem Umfang sie körperliche und klinische Untersuchungen in Anspruch nehmen.

Im Vordergrund steht heute die präventivmedizinische Beratung der Beschäftigten auf Grundlage einer eingehenden Anamnese und der Kenntnis über die Arbeitsplatzverhältnisse insbesondere auch durch Begehung des Arbeitsplatzes und eine qualifizierte Gefährdungsbeurteilung, an der der Betriebsarzt oder die -ärztin mitgewirkt hat. Die Durchführung körperlicher oder klinischer Untersuchungen ist nur noch bei Erfordernis nach kritischer Prüfung und ärztlichem Ermessen und mit Zustimmung des/der Beschäftigten zulässig und keinesfalls Routine (ArbMedVV, § 6). Dagegen haben Beschäftigte nach dem Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) § 11 seit 1996 grundsätzlich einen Rechtsanspruch auf arbeitsmedizinische Vorsorge, es sei denn, dass jegliche Gefährdung ausgeschlossen und ein Gesundheitsschaden unwahrscheinlich ist.

Gefährdungsbeurteilung statt Untersuchung

So sieht die Theorie aus – und die ist beinahe revolutionär, stellt sie doch das bisherige betriebsärztliche Handeln „Untersuchungen statt Gefährdungsbeurteilung“ auf die Füße. Offenbar hat dieser Systemwechsel aber noch nicht überall Eingang in den arbeitsmedizinischen Alltag gefunden. Es wird von Betriebsärzten und Beschäftigten berichtet, dass nach wie vor Vorsorgeuntersuchungen insbesondere nach den altbekannten berufsgenossenschaftlichen Grundsätzen immer noch routinemäßig wie nach „Kochbuch“ abgearbeitet werden – ohne hinreichende Kenntnisse aus Gefährdungsbeurteilung und Arbeitsplatzbegehung.

Gelegentlich fehlt jegliche Arbeitsplatzkenntnis, was nicht primär den Ärzten und Ärztinnen anzulasten ist. Typisches Beispiel sind Beschäftigte von Leiharbeitsfirmen, die „prophylaktisch“ nach einer Vielzahl von Grundsätzen untersucht werden, ohne dass der konkrete Arbeitsplatz bekannt ist, damit sie universell einsetzbar sind.

Eine derartige Handlungsweise ist eindeutig eine Pflichtverletzung sowohl des Arbeitgebers nach § 3 Absatz 2 als auch des Arztes oder der Ärztin nach § 6 Absatz 1 der ArbMedVV. Dabei handelt es sich sowohl um eine Bring- als auch um eine Hol-Schuld: § 3 (2) verpflichtet den Arbeitgeber, dem Arzt oder der Ärztin alle erforderlichen Auskünfte über die Arbeitsplatzverhältnisse, insbesondere über den Anlass der arbeitsmedizinischen Vorsorge und die Ergebnisse der Gefährdungsbeurteilung zu erteilen. Aber auch der Arzt oder die Ärztin ist nach § 6 (1) verpflichtet, sich vor Durchführung der arbeitsmedizinischen Vorsorge die notwendigen Kenntnisse über die Arbeitsplatzverhältnisse zu verschaffen.

Untersuchungen nach berufsgenossenschaftlichen Grundsätzen

Es wird leicht übersehen, dass es sich bei den Untersuchungen nach berufsgenossenschaftlichen Grundsätzen vorrangig um Früherkennungs- oder Eignungsuntersuchungen handelt, und nur in Einzelfällen – z. B. Biomonitoring bei Umgang mit definierten Gefahrstoffen – um arbeitsmedizinische Vorsorge.

Im Einzelfall wenden Ärztinnen oder Ärzte immer noch den Großteil ihrer Arbeitszeit für Untersuchungstätigkeiten auf, was teilweise von ihren Arbeitgebern gefördert oder angeordnet wird, da alle Gesetzesunkundigen dies als „ärztliche Tätigkeit“ verstehen. Sie verstehen nicht, dass Arbeitsmediziner von Gesetzes wegen in erster Linie Unternehmensberater sind, wobei sie ihre Aufgaben aus ärztlicher, präventivmedizinischer Sicht wahrnehmen. Es gibt Hinweise darauf, dass es in einigen Diensten und Betrieben Ärzten und Ärztinnen direkt untersagt ist, an Gefährdungsbeurteilungen (ist Aufgabe der Fachkraft für Arbeitssicherheit) oder dem betrieblichen Eingliederungsmanagement (macht die Assistentin oder der Sozialdienst) mitzuwirken. Befürchtet wird, dass dies mit zusätzlichen Kosten für den Arbeitgeber und einer zusätzlichen Nachfrage nach qualifizierten Dienstleistungen für die Anbieter arbeitsmedizinischer Dienste, die seit längerem mit Kapazitätsproblemen kämpfen, verbunden wäre. Offenbar sind diese bereit, Abstriche an der Qualität in Kauf zu nehmen, indem sie Aufgaben, die eine hohe arbeitsmedizinische Qualifikation erfordern, durch weniger verdienende Hilfskräfte, Assistenzpersonal oder Sozialarbeiter erledigen lassen.

Warum Nachwuchsmangel in der Arbeitsmedizin?

Nun stellt sich die Frage, warum die Marktgesetze von Angebot und Nachfrage angesichts eines allgemein beklagten Mangels an Arbeitsmedizinern nicht wirksam werden. Eine Erklärung bietet Georg Arthur Åkerlof mit seinem Beitrag „The Market for Lemons“, für den er 2001 den Nobelpreis für Wirtschaft erhielt. Anhand des amerikanischen Gebrauchtwagenhandels wies er nach, dass bei asymmetrischer Information von Käufer und Verkäufer und opportunistischem Verhalten der über den Zustand der Wagen besser informierten Verkäufer die Marktgesetze außer Kraft gesetzt werden und am Ende der Spirale nur noch Schrottautos zu Billigpreisen verkauft werden.

Dieses Modell lässt sich leicht auf arbeitsmedizinische Dienstleistungen übertragen: Wenn Unternehmer, die über die Inhalte arbeitsmedizinischer Betreuung meist unzureichend informiert sind, merken, dass sie von Anbietern dieser Leistungen über den Tisch gezogen werden, kommt es fast schlagartig zu Empörung und Misstrauen. Die Betriebe haben nun eine geminderte Erwartung an die angebotene Dienstleistung und wollen auch nicht mehr den üblichen Preis zahlen, sondern weniger. Dies führt dazu, dass qualitativ bessere Anbieter hohe Verluste einfahren, hohe Qualität nicht mehr anbieten können und den Markt verlassen. In der Folge gibt es keine sehr guten Dienstleistungen mehr, was die Käufer mittelfristig merken und ihre Erwartungen an die Qualität weiter absenken. Sie kaufen die Dienstleistung folglich zu noch niedrigeren Preisen ein. Dann machen auch die „zweitbesten“ Anbieter Verluste und verlassen den Markt. Und so weiter und so weiter. Am Ende der Åkerlof-Spirale bleiben nur noch Dienstleister übrig, die – überspitzt gesagt – bei totalem gegenseitigen Misstrauen aller Akteure Dienstleistungen zu Billigpreisen verkaufen, die bestenfalls noch formal als Nachweis gegenüber den Aufsichtsorganen dienen können.

Lösungsangebot durch die DGUV Vorschrift 2

Eine Lösung bietet die DGUV Vorschrift 2 an, die regelt, dass Unternehmer und Betriebsärzte für betriebsspezifische Leistungen, die über die Grundbetreuung hinaus gehen, bedarfsabhängig zusätzliche Zeitkontingente vertraglich vereinbaren können, was natürlich auch Auswirkungen auf die Kosten des Betriebes für die Betreuung hat. Die Umsetzung ist sicher nicht einfach, erfordert sie doch einen intensiven Austausch mit Betriebsleitung und Personalvertretung auf Grundlage einer qualifizierten Gefährdungsbeurteilung, für die scheinbar „mangels zeitlicher Ressourcen des Arztes oder der Ärztin wegen der intensiven Untersuchungstätigkeit“ keine Zeit vorhanden ist. Eine gelegentliche Abfrage und Beratung des Betriebes durch Aufsichtspersonen des Unfallversicherungsträgers oder der Gewerbeaufsicht wäre für die Umsetzung durchaus hilfreich.

Hilfreiche Gesundheitsberater

Solange Betriebsärztinnen und Betriebsärzte ihr Untersuchungszimmer nicht verlassen und die zugedachte Rolle als Unternehmensberater in allen Fragen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes und der betrieblichen Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention nicht annehmen, werden sie im Betrieb auch kaum als hilfreiche Berater wahrgenommen, die die Produktivität des Unternehmens fördern. Eine weitere Hürde für den Vollzug des Systemwechsels ist der Umstand, dass sich durch eine standardisierte Untersuchungstätigkeit pro Zeiteinheit am meisten Geld verdienen lässt.

Rollenbild des Betriebsarztes

Bei der Betrachtung dieser Situation stellt sich die Frage, warum Ärzte oder Ärztinnen sich derart instrumentalisieren lassen, obwohl schon das ASiG seit 1973 in §8 eindeutig festlegt, dass Betriebsärzte bei der Anwendung ihrer arbeitsmedizinischen Fachkunde weisungsfrei und nur ihrem ärztlichen Gewissen unterworfen sind. Handelt es sich um Defizite bei der Ausbildung, ist es ein durch die Sozialisation als Arzt geprägte Rollenverständnis, der seine Patienten vorrangig im Sprechzimmer empfängt und untersucht?

Verstehen die Betriebsärzte nicht, dass die Wahrnehmung ihrer Kernaufgaben – die (präventiv-)medizinische Beratung – für die sie als Arbeitsmediziner – als Vertreter eines Heilberufes – beste Voraussetzungen mitbringen, dass ihnen Vertrauen und Anerkennung entgegengebracht wird, wenn sie ihre Aufgabe im Konsens mit Geschäftsleitung und Mitarbeitervertretung durchführen?

Demotivation durch Missmanagement

Oder gibt es eine andere Erklärung? Günter Dueck, Mathematikprofessor und langjähriger Cheftechnologe bei IBM beschreibt in seinem Werk: „Schwarmdumm: So blöd sind wir nur gemeinsam“ (2015), wie durch weit verbreitetes Missmanagement engagierte und kompetente Beschäftigte demotiviert und durch illusionäre Vorgaben und Ziele letztlich gezwungen werden, Dienst nach Vorschrift zu machen, um im Unternehmen zu überleben. Kreativität wird nur noch eingesetzt, um das System auszutricksen. Aus motivierten und kompetenten Beschäftigten werden so mittelmäßige Mitarbeiter – mit allen Konsequenzen für die Ergebnisqualität. Dueck führt dazu aus: „… mittelmäßige Mitarbeiter verstehen nicht, was richtig gute Arbeit ist. … Sie wenden Formeln und Rezepte an, anstatt zu verstehen. Sie behandeln Kunden, wie man sie nach Rezept behandeln soll – sie verstehen aber den Kunden nicht. Sie arbeiten immer nach Instruktion, aber nicht selbstständig. Da sie nicht verstanden haben, was gute Arbeit ist, wollen sie immer Schritt-für-Schritt-Anweisungen haben. … Sie nehmen einzelne Teile des Ganzen wahr und können sie nicht zusammenfügen. Sie können nicht nachhaltig für eine längerfristige Zukunft arbeiten, weil es nur für diese Woche konkrete Instruktionen gibt.“

Es ist aber darauf hinzuweisen, dass diese Analyse nicht als Kritik an den Einzelnen zu verstehen ist, sondern die Folgen von Management- und Systemfehlern, insbesondere unrealistische Fremdutopien und wirtschaftliche Zielvorgaben beschreibt.

Weiterbildung zur Betriebsmedizinerin/zum Betriebsmediziner

Und letztlich muss auch hinterfragt werden, ob die praktizierte Weiterbildung immer geeignet ist, aus „Ärztinnen und Ärzten“ Präventionsmediziner und Unternehmensberater zu machen, die ihre Arbeit ganzheitlich verstehen und proaktiv handeln. Als langjähriger Fachprüfer würde ich das eher verneinen. Ich habe eher den Eindruck gewonnen, dass etliche Kolleginnen und Kollegen in der Weiterbildung dazu missbraucht werden, am laufenden Band Untersuchungen abzuarbeiten, selten die Gelegenheit bekommen, im Betrieb Arbeitsplätze kennenzulernen und zu bewerten und schon gar nicht an Themen wie Gefährdungsbeurteilung, Gefahrstoffbewertung, psychische Gesundheit oder betriebliches Eingliederungsmanagement herangeführt werden.

Was deutlich in der Weiterbildung zum Betriebsarzt fehlt, ist, Gesprächsführung, Präsentation und Überzeugungskunst im Umgang mit verschiedenen betrieblichen Akteuren und Interessenvertretern theoretisch und praktisch zu erlernen. Das ist aber das Handwerkszeug, das bei der Implementation von „Vorsorge im Betrieb“ erworben und gekonnt angewendet werden muss. Möglicherweise wird dieser Umstand durch die anstehende Novelle der Musterweiterbildungsordnung beseitigt.

Auswertung der Erkenntnisse aus der arbeitsmedizinischen Vorsorge ist eine Chance

Ein ausgesprochen nützliches, aber bisher wenig genutztes Instrument zur Verbesserung des Arbeitsschutzes versteckt sich im § 6 (4) der ArbMedVV, der dem Arzt oder der Ärztin auferlegt, die Erkenntnisse arbeitsmedizinischer Vorsorge auszuwerten. Falls sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Maßnahmen des Arbeitsschutzes für den oder die Beschäftigten oder andere Beschäftige nicht ausreichen, so hat der Betriebsarzt oder die -ärztin dies dem Arbeitgeber mitzuteilen und Schutzmaßnahmen vorzuschlagen. Gründe für nicht ausreichende Maßnahmen des Arbeitsschutzes können sich einerseits aus individuellen Gesundheitsproblemen, insbesondere aber aus kritischen Belastungen oder Einwirkungen ergeben, die im Rahmen der Vorsorge identifiziert werden. Der AfAMed hat dazu die Arbeitsmedizinische Regel (AMR) 6.4 „Mitteilungen an den Arbeitgeber nach § 6 Absatz 4 ArbMedVV“ erarbeitet, die auch Formblätter für diese Mitteilung enthält. In Verbindung mit ASiG § 8 (3) und § 9 (2) ergeben sich daraus erhebliche Potenziale für eine Verbesserung des Arbeitsschutzes, denn nun haben der Arbeitsmediziner eine Vorschlagsverpflichtung und der Unternehmer quasi eine Umsetzungsverpflichtung:

Wenn der Leiter des Betriebs die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Verbesserung des Arbeitsschutzes ablehnt, kann sich der Betriebsarzt oder die -ärztin mit seinem/ihrem Vorschlag unmittelbar an den Arbeitgeber wenden. Dem Betriebsrat ist der Inhalt dieses Vorschlags mitzuteilen. Lehnt der Arbeitgeber den Vorschlag ab, so ist dies dem Vorschlagenden, d.h. dem Arzt oder der Ärztin schriftlich mitzuteilen und zu begründen und dem Betriebsrat eine Abschrift zu übergeben. Das Ziel ist dabei immer die Erarbeitung von Lösungskonzepten im Konsens. Es lohnt sich, die Erkenntnisse arbeitsmedizinischer Vorsorge systematisch und sorgsam auszuwerten. In Verbindung mit § 8 und § 9 ASiG ist § 6, Absatz 4 ArbMedVV durchaus hilfreich, um dem vorsorgendem Gesundheitsschutz im Betrieb arbeitsmedizinisch fundierte Durchsetzungskraft zu geben, die auch betrieblich umgesetzt wird.

AMR 2.1 „Fristen für die Veranlassung/das Angebot arbeitsmedizinischer Vorsorge

Auch die AMR 2.1 „Fristen für die Veranlassung/das Angebot arbeitsmedizinischer Vorsorge“ stößt vielfach auf Widerspruch, weil sie „Einheitsfristen“ für die zweite und alle weiteren Vorsorgen einschließlich nachgehender Vorsorge vorsieht. Die zweite Vorsorge muss spätestens 12 Monate – bei Umgang mit allergisierenden Arbeitsstoffen spätestens 6 Monate nach Aufnahme der Tätigkeit, alle weiteren Vorsorgen spätestens nach 36 Monaten veranlasst bzw. angeboten werden. In der Vergangenheit hatten wir es je nach Anlass mit einer Vielzahl von Fristen zwischen 3 Monaten und 5 Jahren zu tun, was die Organisation und Koordination der Vorsorge erheblich erschwert hat.

Auch existierten für die Mehrzahl der Fristen in der AMR 2.1 vom 30.10.2012 sowie den berufsgenossenschaftlichen Grundsätzen für arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen keine oder keine hinreichenden wissenschaftlichen Begründungen, sondern sie stützten sich meist auf ein „Expertenrating“. Darüber hinaus wurden diese Fristen durch untersuchungstechnische (z. B. mögliche Schädigung durch häufige Anwendung von Röntgenstrahlen) organisatorische (Durchführbarkeit, Kapazität), wirtschaftliche (Kosten) und politische Aspekte beeinflusst.

Nachgehenden Untersuchungen nach Astbestexposition

Die ernüchternde Bilanz der nachgehenden Untersuchungen nach Astbestexposition alle 36 Monate hinsichtlich Früherkennung von Lungenkarzinomen und Pleuramesotheliomen ist ebenso ein Indiz für die Problematik von Fristen, wie der Umstand, dass viele Erkrankungen sehr akut auftreten können. So ist bei einem Mitarbeiter, der benzolexponiert war, im Zusammenhang mit einer Blutspende eine akute myeloische Leukämie aufgefallen, während die drei Monate zuvor durchgeführte arbeitsmedizinische Vorsorge keine Auffälligkeiten gezeigt hatte.

Auch die nochmalige Auswertung der archivierten Blutausstriche ergab keinerlei Hinweise auf eine Leukämie. Auch derartige Erkenntnisse sprechen dafür, den Schwerpunkt der Vorsorge auf die Beratung zu legen. Dazu gehören nicht nur eine eingehende Beratung der Beschäftigten über die Minimierung von Gesundheitsrisiken beim Umgang mit Gefahrstoffen oder anderen Belastungen, sondern auch die Information über Symptome, die auf eine beginnende Erkrankung hinweisen könnten und das Angebot, sich bei derartigen Auffälligkeiten kurzfristig beim Betriebsarzt oder der Betriebsärztin vorzustellen.

So konnte durch eine Intensivierung der Beratung mit Vermittlung von Hintergrundinformationen zum Handschuhkonzept (Einsatz der für die jeweilige Tätigkeit ausgewählten Schutzhandschuhe, täglicher Wechsel nach Kontamination etc.) die Aufnahme von hautresorptiven Gefahrstoffen wie Benzol um durchschnittlich eine Zehnerpotenz gesenkt werden und blieb im Biomonitoring überwiegend im Bereich der Nachweisgrenze.

Einheitsfristen sind Maximalfristen

Bei der Kritik wird auch übersehen, dass es sich bei den neuen „Einheitsfristen“ von einem bzw. drei Jahren um Maximalfristen handelt. In Abhängigkeit von individuellen Wechselwirkungen von Arbeit und physischer oder psychischer Gesundheit, Hinweisen auf eine arbeitsbedingte Erkrankung, den Ergebnissen des Biomonitorings oder kritischen Risikokonstellationen und Arbeitsplatzverhältnissen kann der Betriebsarzt oder die -ärztin die Fristen entsprechend individuell oder für eine Gruppe von Beschäftigten verkürzen und verbindlich festlegen.

Dies erweitert den Handlungsspielraum von Betriebsärzten und Betriebsärztinnen erheblich, setzt aber nicht nur eine eingehende Anamnese und Beratung auf Augenhöhe, sondern auch eingehende Kenntnisse über die Arbeitsplatzverhältnisse voraus. Befürchtungen, dass Arbeitgeber vereinzelt versuchen werden, die Maximalfristen als Regelfrist zu interpretieren und kürzere Fristen nicht nur kritisch hinterfragen sondern auch anzweifeln, sind nicht grundsätzlich auszuschließen. Wenn die kürzere Frist bei nicht ausreichenden Maßnahmen des Arbeitsschutzes durch einem Vorschlag von Schutzmaßnahmen ergänzt wird, ist die Notwendigkeit offensichtlich und der Widerstand eher gering. Letztlich obliegt es dem Arbeitgeber, durch Umsetzung der Vorschläge die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass die Maximalfristen ausreichen oder weitere (Pflicht-)Vorsorgen sogar entbehrlich sind. Die Anzahl durchgeführter Pflichtvorsorgen ist häufig sicher eher ein Maß für Defizite als Indiz für Qualität im Arbeitsschutz.

Die Chancen durch die ArbMedVV nutzen

Die novellierte Verordnung zur Arbeitsmedizinischen Vorsorge stellt nicht nur das Selbstbestimmungsrecht der Beschäftigten in den Vordergrund, sondern gibt auch dem Betriebsarzt oder der Betriebsärztin ein Regelwerk an die Hand, das ihm oder ihr ermöglicht, fachlich kompetente Arbeit zu leisten und Arbeitgeber, Beschäftigte und ihre Vertretung wirksam in Bezug auf die Gesundheit eines Beschäftigten zu beraten und damit den Arbeitsschutz zu verbessern. Wenn wir diese Möglichkeiten nutzen, leisten wir einen wesentlichen Beitrag zur Akzeptanz und zum Fortbestehen unseres Fachgebiets.

Literatur

Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) 2013. Bonn, November 2013.

Dueck G: Schwarmdumm: So blöd sind wir nur gemeinsam; Frankfurt/Main: Campus, 2015.

Sprenger RK: Das anständige Unternehmen. München: Deutsche Verlagsanstalt, 2015.

    Autor

    Arzt für Arbeitsmedizin

    An der Waschau 9

    25704 Meldorf

    detlefglomm@t-online.de

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