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Im Gegensatz dazu stehen aber Forderungen danach, dass Beschäftigte „gesund bis zum Ruhestand arbeiten“ sollten. Die Menschen, die dies formulieren, scheinen die Realität unserer Arbeitswelt nicht gut zu kennen. Das ist nicht gut – nicht gut für die vielen betroffenen Beschäftigten und nicht gut für die Betriebe. Es ist deshalb nicht gut, weil hier so viel Positives erreicht werden könnte.
Eine Berufsgruppe, die dies weiß, sind Betriebsärztinnen und -ärzte. Sie sehen in ihrem Arbeitsalltag, dass Arbeiten mit Krankheit zumindest unter älteren Beschäftigten eher die Regel als die Ausnahme ist. Sie wissen, dass viele Beschäftigte diese Herausforderung gut meistern, dass anderen dies mit leichten Anpassungen gelingt und dass wieder andere Unterstützung benötigen, um das Arbeiten mit Krankheit zu ermöglichen. Und sie kennen auch das Scheitern, wenn es eben nicht gelingt, Beschäftigten mit gesundheitlichen Einschränkungen ein weiteres Arbeitsleben zu ermöglichen.
In den sechs Praxisbeiträgen dieses Schwerpunkthefts teilen Kolleginnen und Kollegen und auch Wissenschaftlerinnen ihre Erfahrungen aus ihrer Arbeit in diesem Themenfeld mit uns. Ihre Beiträge zeigen, ob und gegebenenfalls wie schwierige Situationen gelöst werden können, welche Rollen Betriebsärztinnen und Betriebsärzte einnehmen und welche Werkzeuge hierbei hilfreich sein können.
Der Beitrag von Ute Mohr betont, wie entscheidend regelmäßige Eignungsuntersuchungen und eine enge betriebsärztliche Begleitung in sicherheitskritischen Berufen wie dem Güterverkehr sein können, um gesundheitliche Risiken wie Alkoholabhängigkeit frühzeitig zu erkennen und in Behandlung zu bringen. Durch präventive Maßnahmen, therapeutische Unterstützung und stufenweise Wiedereingliederung konnte im Fall von Herrn M. die Sicherheit im Arbeitsumfeld gewährleistet und seine berufliche Tätigkeit wieder ermöglicht werden.
Das betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) hat im vergangenen Jahr seinen 20. Geburtstag gefeiert – und wird hierzulande immer noch längst nicht flächendeckend angeboten. Ein individuell abgestimmtes BEM ist wichtig, um Beschäftigte mit gesundheitlichen Einschränkungen bestmöglich unterstützen zu können und eine angepasste Rückkehr in den Arbeitsalltag zu ermöglichen. Drei Beiträge widmen sich diesem Instrument, das sich als sehr wirkungsvoll erweisen kann.
Désirée Hoyer berichtet vom Fall eines Hilfsarbeiters mit massiven Seheinschränkungen durch Diabetes, bei dem die Arbeitsmedizinerin eine zentrale Rolle beim BEM übernahm, indem sie Beratungen koordinierte, Anträge unterstützte und alternative Einsatzmöglichkeiten im Betrieb evaluierte. Der Fall zeigt, dass eine frühzeitige, umfassende und interdisziplinäre Betreuung entscheidend ist, um sowohl die berufliche Perspektive als auch die soziale Absicherung des Mitarbeiters zu gewährleisten.
Dass man beim BEM einen langen Atem haben muss, zeigt auch der Beitrag von Friederike Kafsack, in dem sie den Fall eines Schienenfahrzeugmechanikers mit Multipler Sklerose schildert. Durch individuell angepasste Maßnahmen, darunter Arbeitsplatzanpassungen, technische Hilfsmittel und die Einbindung des Integrationsamtes, konnte der Mitarbeiter weiterhin wertvolle Arbeit leisten und sicher in den Betrieb integriert bleiben. Das Beispiel verdeutlicht, dass ein langfristig angelegtes und gut koordiniertes BEM sowohl dem betroffenen Mitarbeitenden als auch dem Unternehmen zugutekommt.
Schließlich stellt Hanns Wildgans das Konzept eines per Betriebsvereinbarung verankerten „initiativen Betrieblichen Eingliederungsmanagements“ (iBEM) zur frühzeitigen und individuell abgestimmten Wiedereingliederung langzeiterkrankter Mitarbeitender vor, das durch eine enge Zusammenarbeit von Betriebsarzt/ärztin, Arbeitgeber und Sozialversicherungsträgern charakterisiert ist. Am Ende zeigt der Autor auf, wie alle Beteiligten von diesem Programm profitieren, nicht zuletzt auch die Betriebsärztin beziehungsweise der Betriebsarzt, deren Stellung im Betrieb gestärkt wird.
Psychische Störungen erhalten immer mehr Aufmerksamkeit im Betrieb – auch von Seiten des Arbeitsschutzes. Ein Manko ist nach wie vor, dass externe Therapiemöglichkeiten zu selten und zu spät zugänglich sind. Hier setzt ein von der BAuA untersuchtes Konzept an. Ute Schröder et al. berichten vom Potenzial der „psychotherapeutische Sprechstunde im Betrieb“ (PSIB), den schleichenden Prozess der Entwicklung psychischer Krisen bei Beschäftigten frühzeitig aufzufangen und aufzuhalten. Ein Vorteil ist, dass im psychotherapeutischen Prozess die Arbeitssituation thematisiert wird, ohne die privaten Belastungen und Beanspruchungen auszuschließen. Die Autorengruppe schlussfolgert aus ihrer Evaluationsstudie, dass die PSIB in das betriebliche Gesundheitsmanagement integriert werden sollte, um individuelle Unterstützung und betriebliche Maßnahmen für eine nachhaltige Krisenbewältigung kombinieren zu können.
Schließlich stellen Alexandra Sikora et al. die Ergebnisse einer Längsschnittstudie der BAuA vor. Darin haben sie 286 Beschäftigte mit einer psychischen Erkrankung bis zu 30 Monate nach ihrem Klinikaufenthalt mittels Fragebogen zu ihrer jeweiligen aktuellen Arbeitsfähigkeit wiederholt befragt. Ein Kern der Befragung war die einfache, an den Work Ability Index angelehnte Frage: „Wie schätzen Sie Ihre aktuelle Arbeitsfähigkeit ein und was hat aus Ihrer Sicht dazu beigetragen?“. Die Ergebnisse legen nahe, dass die regelmäßige Frage nach der eigenen Arbeitsfähigkeit zu einem wichtigen Erkenntnisgewinn bei den Beschäftigten, aber zum Beispiel auch Betriebsärztinnen und -ärzten führt. Die Antworten geben Orientierung für ihre eigene Arbeit und die Begleitung bei der Wiedereingliederung.
Hans Martin Hasselhorn und Max Josef Rohrbacher stellen in ihrem wissenschaftlichen Beitrag die Gruppe älterer Beschäftigter vor, die trotz schlechter Gesundheit „nachhaltig“ erwerbstätig sind, das heißt keine längeren Phasen von Arbeitsunfähigkeit aufweisen. Dieses Phänomen wird als „Stay at Work“ bezeichnet und ist nicht selten: In der lidA-Studie trifft dies auf etwa ein Drittel aller älteren Erwerbstätigen zu. Diese Menschen sind durch beides charakterisiert, durch Ressourcen wie auch Risiken. Und beides verdient die Aufmerksamkeit des Personalmanagements wie auch des Arbeitsschutzes: Von den Ressourcen können wir lernen, die Risiken sollten wir aber frühzeitig erkennen können.
Liebe Leserinnen und Leser, ich schließe mit zwei gute Nachrichten und einer schlechten. Die erste gute Nachricht ist, dass Studien zeigen, wie viel man zur Förderung von Gesundheit und Arbeitsfähigkeit bei älteren Beschäftigten mit schlechter Gesundheit tun kann, die zweite gute Nachricht ist, dass die meisten solcher Maßnahmen von den Beschäftigten als hilfreich bezeichnet werden. Die schlechte ist, dass sie noch viel zu wenig erfolgen. Hier sind Sie als Beraterin und Berater im Betrieb gefragt, aber ebenso die Wissenschaft, denn deren Aufgabe muss nun sein, besser zu verstehen, warum sich diese Knowing-Doing-Gap so hartnäckig hält und wie diese Lücke wirksam geschlossen werden kann.
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Foto: BUW Pressestelle
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Hans Martin Hasselhorn
Bergische Universität Wuppertal, Lehrstuhl für Arbeitswissenschaft