D ie Diskussionen im und um den Arbeits- und Gesundheitsschutz werden in den letzten Jahren zunehmend durch die Problematik psychische Belastungen und Beanspruchungen und arbeitsbezogene psychische Erkrankungen bestimmt. Die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie 2013–2018 formuliert als eine von drei Aufgabenstellungen: Schutz und Stärkung der Gesundheit bei arbeitsbedingter psychischer Belastung.
P olitische Erklärungen, in Verabschiedung befindliche Verordnungen und Gesetze zum Arbeits- und Gesundheitsschutz und zur Prävention, wissenschaftliche Gutachten zur Prävention und zum Arbeits- und Gesundheitsschutz, Erklärungen der Ärzteschaft betonen ausnahmslos die besondere Rolle der Betriebsärzte zur Bewältigung dieser Aufgabenstellung.
Betriebsärzte sind in diesem Prozess besonders gefordert, weil
- die psychische Belastung und Beanspruchung nicht isoliert von der Komplexität der Arbeitsanforderungen und ihrer Bewältigung getrennt werden kann und darf,
- das Individuum in dem Prozess Gesundheitsförderung und Krankheitsentstehung bei psychischer Belastung eine entscheidende Rolle spielt,
- das ärztliche Handeln einschließlich der akzeptierten ärztlichen Schweigepflicht bei diesen Prozessen eine wesentliche Bedeutung hat,
- die Vielfalt unabgestimmter Aktivitäten im betrieblichen Rahmen nicht nur zu mangelnder Wirksamkeit, sondern auch zur Überforderung des Systems des Arbeits- und Gesundheitsschutzes im Betrieb führen kann.
Der Bundestag hat in seiner Sitzung am 27. 06. 2013 nicht nur ein Gesetz zur Förderung der Prävention mit Betonung der betrieblichen Gesundheitsförderung und der Betriebsärzte beschlossen, sondern auch einen Beschluss „Für eine humane Arbeitswelt – psychische Gesundheit auch am Arbeitsplatz stärken“ gefasst, in dem die Bundesregierung unter anderem aufgefordert wird, eine zielgerichtete Kompetenzentwicklung der Betriebs- und Werksärzte zur psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz anzustoßen.
D eshalb ist die Frage zu beantworten, welche Voraussetzungen Betriebsärzte in diesem Feld psychische Belastung und Beanspruchung in ihre Tätigkeit einbringen können. Nach dem 6-jährigen Medizinstudium folgt eine 5-jährige Weiterbildung zum Facharzt, u. a. Facharzt für Arbeitsmedizin. Betriebsärzte haben in nicht wenigen Fällen eine Zusatzbezeichnung Betriebsmedizin mit einer Weiterbildung von nochmals mindestens drei Jahren, die auf einen bereits vorhandenen Facharzt aufbaut. Weiterbildung zum Facharzt bzw. zur Zusatzbezeichnung Betriebsmedizin erfolgt in der praktischen Tätigkeit durch ernannte Weiterbildungsleiter der Ärztekammern. Zusätzlich wird in dieser Weiterbildung ein 360-stündiger theoretischer Pflichtkurs gefordert. Dafür wurde von der Bundesärztekammer, den entsprechenden Fachgesellschaften und den arbeitsmedizinischen Weiterbildungsinstitutionen ein einheitliches Curriculum beschlossen. Dieses Curriculum wird in den sieben arbeitsmedizinischen Akademien umgesetzt. Die letzte Novellierung dieses Programms war 2008. Hinsichtlich des Umfangs der jeweiligen vorgegebenen Themen besteht insgesamt ein Spielraum von etwa 20 %. Gegenwärtig wird ein neues Curriculum erarbeitet.
U nter den Akademieleitern wurde eine aktuelle Befragung zur Umsetzung von Inhalten der arbeitsbezogenen psychischen Belastung und Beanspruchung in den Kursen durchgeführt. Der Stundenumfang zum speziellen Thema psychische Belastung und Beanspruchung lag in den Akademien zwischen 5 und 15 % der Gesamtstundenzahl. Die Einbindung psychischer Belastungs- und Beanspruchungsproblematik in übergreifende Themen, z. B. zur Gefährdungsbeurteilung, zu Grundlagen der Prävention und Gesundheitsförderung, Beschäftigungsfähigkeit, arbeitsbedingte Erkrankungen lag bei 12–28 % des Gesamtstundenumfangs. Es ist davon auszugehen, dass im Durchschnitt etwa 80–100 Stunden im Gesamtkurs sich mit dieser Problematik direkt oder in andere Themen eingebunden befassen. Dabei werden in allen arbeitsmedizinischen Akademien auch Dozenten anderer Fachgebiete umfassend eingesetzt. Etwa 3–11 % des Gesamtumfangs der Weiterbildung wird in den Akademien von Psychologen wahrgenommen. Darüber hinaus werden Betriebsbegehungen, Praktika, Praxisdiskussionen durchgeführt, die dieses Thema ebenfalls beinhalten.
E s ist natürlich auch zu erwähnen, dass die Problematik im Medizinstudium einen Stellenwert besitzt. Bereits im 1. und 2. Studienjahr werden Vorlesungen, Kurse und Seminare in medizinischer Psychologie und medizinischer Soziologie mit etwa 8 Semesterwochenstunden realisiert, im klinischen Studium die psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie die Psychiatrie und Psychotherapie mit mindestens 5 Semesterwochenstunden über 2 Semester. Darüber hinaus wird Medizin des Alterns und des alten Menschen, Rehabilitation mit mindestens 5 Semesterwochenstunden gelehrt. Gesundheitsökonomie, Gesundheitssystem, öffentliche Gesundheitspflege, Prävention und Gesundheitsförderung und natürlich Arbeitsmedizin und Sozialmedizin umfassen mindestens 7 Semesterwochenstunden in verschiedenen Studienjahren. Auch in den klinischen Fachgebieten der Medizin werden psychische Einflussfaktoren behandelt.
V on allen Akteuren in diesem Feld hat demnach der Betriebsarzt die quantitativ umfassendste Aus- und Weiterbildung. Zu ergänzen ist natürlich, dass auch der spezialisierten Fortbildung zur psychischen Belastung durch die wissenschaftlichen Fachgesellschaften, den Verband der Betriebs- und Werksärzte mit seinen Landesverbänden, die arbeitsmedizinischen Akademien sowie die Hochschuleinrichtungen in den letzten Jahren bereits breiter Raum eingeräumt wurde und andere Fachkompetenz, insbesondere die psychologischen Disziplinen, einbezogen wurden. Diese Fortbildung baut bei Betriebsärzten auf fundierte Kenntnisse des Arbeits- und Gesundheitsschutzes und der saluto- und pathogenetischen Prozesse auf.
N atürlich gibt es noch Defizite. Die Umsetzung ist kein Selbstlauf. Der Gegenstand ist komplex und kompliziert. Vieles wird geprägt durch politische Diskussionen und weniger durch wissenschaftliche Untersetzung. Dies erschwert eine sachliche Beschäftigung mit und in diesem Feld. Das führt auch zur Unsicherheiten bei Betriebsärzten, wie auch bei den Verantwortlichen im Arbeits- und Gesundheitsschutz, den Arbeitgebern. Die Vielzahl der auf Fragebögen basierten Aktivitäten erschwert die Umsetzung und verunsichert. Die „Arbeitsmedizinische Empfehlung“ zur „Psychischen Gesundheit im Betrieb“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 12/2011) formuliert Aufgaben und Ansatzpunkte, die weit über die Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten des Betriebsarztes hinausgehen (müssen). Deshalb ist der weitere Prozess in enger Kooperation mit den betrieblichen Akteuren und auch mit anderen Fachgebieten zu gestalten, wobei eine klare Verantwortungszuweisung und Abstimmung Grundlage für die Effektivität und Wirksamkeit gerade in diesem Feld ist. Im Vordergrund stehen die Gesundheit und Arbeitsfähigkeit der Arbeitnehmer, die Umsetzung der Verantwortung des Arbeitsgebers bei erhaltener Handlungsfähigkeit und die Wettbewerbsfähigkeit des Betriebs. Je unübersichtlicher das Angebot in diesem Feld wird, die Kompetenzen und Verantwortung nicht mehr durchschaubar sind, desto schwieriger wird eine erfolgreiche dauerhafte Bewältigung dieser Problematik.
D er kompetente Betriebsarzt als Ansprechpartner, Koordinator, Lotse in diesem Feld ist eine Garantie für die Effektivität und Wirksamkeit im Arbeits- und Gesundheitsschutz zur psychischen Belastung und Beanspruchung als Risiko und Ressource.
Prof. em. Dr. med. Klaus Scheuch
Institut und Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin, TU Dresden
Institut für Arbeit und Gesundheit, Sachsen