Gibt es nach dem Arbeitsschutzgesetz auch nur eine Gefährdungsbeurteilung (GB), so erfolgte bisher dennoch eine intensive Diskussion speziell zur GB bei psychischer Belastung, da hier große Unsicherheiten darüber bestehen, welche Belastungsfaktoren in welcher Ausprägung vorliegen müssen, um von einer Gefährdung der Beschäftigten sprechen zu können. Damit geht einher, dass eine vollständige, das heißt die psychische Belastung mit umfassende Gefährdungsbeurteilung immer noch unzureichend, nämlich nur von 21 % der Betriebe, durchgeführt wird (Beck u. Lenhardt 2019). Dementsprechend startete das Bundesministerium für Arbeit und Soziales unter anderem die Kampagne „Offensive psychische Gesundheit“ und in der Folge die Aktion „Arbeit: sicher und gesund“, um die Unternehmen für die Thematik stärker zu sensibilisieren. In diesem Rahmen war weiterhin das von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) durchgeführte Projekt zur „Psychischen Gesundheit in der Arbeitswelt“ förderlich (BAuA 2017; ASU-Sonderheft 2018), da hier eine wissenschaftliche Standortbestimmung zu den Zusammenhängen zwischen Arbeitsbedingungen und psychischer Gesundheit vorgenommen wurde. Als Ergebnis konnten dabei unter anderem sogenannte „Schlüsselfaktoren“ identifiziert werden, die dadurch charakterisiert sind, dass sie eine starke Wirkung auf andere Faktoren haben, selbst aber nur in geringem Maße einer Beeinflussung unterliegen und somit prioritär bei der GB Berücksichtigung finden sollten (BAuA 2017). Damit ließ sich die Vielzahl der für die psychische Belastung als relevant geltenden Arbeitsbedingungsfaktoren zunächst auf ein Maß begrenzen, das nicht nur die Gestaltung, sondern auch die GB handhabbarer macht. Dementsprechend fanden in der Folge diese Faktoren (Arbeitsintensität, Tätigkeitsspielraum, Arbeitszeit, Erholung und Führung) auch Eingang zum Beispiel in das für Praktikerinnen und Praktiker, das heißt Fachleute des Arbeitsschutzes, konzipierte „Handbuch Gefährdungsbeurteilung“ (Kittelmann et al. 2021) oder auch in die sich insbesondere an Betriebe und betriebliche Arbeitsschutzakteure richtenden Empfehlungen zur Umsetzung der GB bei psychischer Belastung der „Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie“ (GDA-Arbeitsprogramm Psyche 2022). Damit wurden wichtige Schritte unternommen, den vorhandenen Ungewissheiten bei der GB zu begegnen.
Allerdings darf die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung nicht als ein unveränderbares Werkzeug des Arbeits- und Gesundheitsschutzes missverstanden werden. So sind Anpassungen an den jeweiligen wissenschaftlichen Erkenntnisstand immer wieder notwendig, wie der Beitrag von David Beck und Esin Tașkan zeigt, der die Überarbeitung der GDA-Empfehlungen zur Berücksichtigung psychischer Belastung in der Gefährdungsbeurteilung zum Gegenstand hat. Dabei erfolgte eine wichtige Erweiterung, da nicht mehr ausschließlich zu vermeidende Belastungsausprägungen, sondern nun zusätzlich auch anzustrebende Gestaltungsziele benannt werden.
Der Artikel von Katja Schuller und David Beck geht den Problemen der Gefährdungsbeurteilung bei psychischer Belastung am Beispiel des Schlüsselfaktors „Arbeitsintensität“ detailliert nach und zeigt, dass vor allem die Komplexität psychosozialer Risiken die Entwicklung von gefährdungsvermeidenden Gestaltungsmaßnahmen erschwert, da zum Beispiel verschiedene Sichtweisen und Interessenlagen dem Finden einer eindeutigen Problemlösung entgegenstehen. Darüber hinaus ergibt sich aus den berichteten Befunden, dass Unternehmen Maßnahmen zur Reduktion von Gefährdungen einführen, die nicht aus den Ergebnissen einer GB abgeleitet wurden: Gefährdungsvermeidendes Verhalten tritt in den Betrieben somit vermutlich häufiger auf, als Statistiken nahelegen, so dass sich Änderungen der bisherigen Erhebungspraxis empfehlen.
Anpassungen der GB werden aber auch durch den Wandel der Arbeit erforderlich. So plädiert Jonas Wehrmann in seinem Beitrag dafür, die Interaktionsarbeit, das heißt die Arbeit mit und am Menschen – aufgrund ihres erheblichen Bedeutungszuwachses – in der Gefährdungsbeurteilung stärker zu berücksichtigen. Dabei wird der weit verbreiteten Auffassung, den mit Interaktionsarbeit verbundenen beeinträchtigenden Gesundheitsfolgen sei nur mit verhaltenspräventiven Maßnahmen wie etwa Trainings zu begegnen durch das Aufzeigen von bedingungsbezogenen Gestaltungsmöglichkeiten widersprochen.
Für eine Erweiterung der GB sprechen sich ebenfalls Anja Wittmers et al. aus. Sie sehen die Notwendigkeit, die Tätigkeit von Führungskräften, deren Arbeitsanforderungen sich – aufgrund ihrer Position zwischen Organisation und Mitarbeitenden – von den anderer Beschäftigtengruppen unterscheiden, dezidierter einzubeziehen. Die Studie fokussiert dabei auf die „Arbeitsintensität und Arbeitsintensivierung“, die „Autonomie und Verantwortung“ sowie „soziale Beziehungen“, die bei Führungskräften nicht nur häufig auftreten, sondern hier auch – so die Annahme – Besonderheiten zeigen.
Durch die intensiven Diskussionen zur psychischen Belastung dürfen jedoch andere arbeitsbedingungsbezogene Faktoren nicht übersehen werden. So untersuchen Martin Schütte und Julia Petersen im Wissenschaftsteil die von Pflegenden unterschiedlicher Pflegeeinrichtungen wahrgenommene physische, psychische und arbeitsumgebungsbezogene Belastung, da durch den weiter zunehmenden Bedarf an Pflegekräften die in diesem Bereich insgesamt gegebene Arbeitsbelastung verstärkte Aufmerksamkeit fand. Die auf Basis der Daten der BIBB/BAuA Erwerbstätigenbefragung durchgeführten Analysen demonstrieren, dass „Störungen und Unterbrechungen“ einen vor allem in Krankenhäusern und Reha-Einrichtungen auftretenden Belastungsschwerpunkt darstellen, an dem arbeitsgestalterische Maßnahmen mit Priorität ansetzen sollten.
Weiterhin thematisiert der Beitrag von Dorothea Koppisch und Wolfgang Zschiesche et al. mit „Schweißrauch“ einen Gefahrstoff, der zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen bis hin zu Lungenkrebs führen kann. Aufgrund der durch die IARC vorgenommene Neubewertung des Lungenkrebsrisikos von Schweißenden werden aktuell Modifikationen der Berufskrankheiten-Verordnung überlegt, wobei zu berücksichtigen ist, dass sich Schweißverfahren und die mit ihnen jeweils verbundene Rauchfreisetzung unterscheiden.
Das vorliegende Themenheft verfolgt einmal das Ziel, die im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung bestehende Veränderungsdynamik verständlich zu machen, daneben auf die hier nicht immer gesehenen Möglichkeiten arbeitsbedingungsbezogener Gestaltungsmaßnahmen hinzuweisen und schließlich auf die Relevanz sowie die gesundheitlichen Folgen der „nicht psychischen“ Faktoren hinzuweisen.
Literatur
ASU Arbeitsmedizin Sozialmedizin Umweltmedizin – Zeitschrift für medizinische Prävention. Sonderheft Psychische Gesundheit 2018; Ausgabe Dezember: S. 6–65.
Beck D, Lenhardt U: Consideration of psychosocial factors in workplace risk assessments: findings from a company survey in Germany. Int Arch Occup Environ Health 2019; 92: 435–451.
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA): Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – Wissenschaftliche Standortbestimmung. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2017.
GDA-Arbeitsprogramm Psyche (Hrsg.): Berücksichtigung psychischer Belastung in der Gefährdungsbeurteilung – Empfehlungen zur Umsetzung in der betrieblichen Praxis, 4. vollständig überarbeitete Auflage. Berlin: Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2022.
Kittelmann M, Adolph L, Michel A, Packroff R, Schütte M, Sommer S (Hrsg.): Handbuch Gefährdungsbeurteilung. Dortmund, Berlin, Dresden: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2021.
Ihr Martin Schütte
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), Berlin
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