Zwei Neuerungen in den regulatorischen Grundlagen haben im Gesundheitsschutz und Arbeitsschutz zu Veränderungen der Rahmenbedingungen geführt, welche nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Auswirkungen auf die praktische Arbeitsmedizin haben.
Die erste Neuerung ist die DGUV-Vorschrift 2, die am 01.01.2011 in Kraft ge-treten ist. Diese regelt die Einsatzzeiten der Arbeitsmediziner und Fachkräfte für Arbeitssicherheit im Betrieb neu. Der Wirtschaftszweigschlüssel determiniert eine von drei Gefährdungsgruppen (Gruppe I: 2,5 Std./Jahr/Beschäftigten; Gruppe II: 1,5; Gruppe III: 0,5). Daraus errechnet sich die Jahreseinsatzzeit, welche sich der Arbeitsmediziner mit der Sifa teilt. Die Aufteilung der Zeitanteile für diese zwei Disziplinen wird auf betrieblicher Ebene problemorien-tiert vereinbart. Dabei darf ein Minimum von 20 % der Gesamteinsatzzeit (in jedem Fall jedoch von mindestens 0,2 Einsatzstunden pro Beschäftigten und Jahr) für die jeweiligen Akteure nicht unterschritten werden.
Was folgt nun hieraus für den einzelnen Betrieb? Der eine oder andere Unternehmer wird bestrebt sein, den teuren Arbeitsmediziner durch die preiswertere Sifa zu substituieren, zumal man als Sicherheits-fachkraft (Sifa) auch entsprechend weiter gebildete eigene Mitarbeiter rekrutieren kann.
Die zweite Neuerung ist die am 31.10.2013 in Kraft getretene Erste Verordnung zur Änderung der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV). In der Präambel zur Verordnung wird darauf hingewiesen, dass dadurch die arbeitsmedizinische Vorsorge weiter gestärkt würde. Über eine neue Terminologie und durch Klarstellungen würde noch besser als bisher verdeutlicht, dass es bei der arbeitsmedizinischen Vorsorge nicht um den Nachweis einer gesundheitlichen Eignung für berufliche Anforderungen geht und dass es keinen Untersuchungszwang gibt. Auch würde klargestellt werden, dass körperliche und klinische Untersuchungen nicht gegen den Willen der Beschäftigten durchgeführt werden dürfen. Das gelte nicht nur für die Angebots- und Wunschvorsorge, sondern auch für die Pflichtvorsorge, die der Arbeitgeber bei bestimmten besonders gefährdenden Tätigkeiten zu veranlassen hat. Die geänderte ArbMedVV würde die sprechende und hörende Medizin stärken. Die Grundsätze für arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung seien keine verbindliche Rechtsgrundlage.
Das bedeutet, dass sich je nach Fall die arbeitsmedizinische Vorsorge resp. Beratung des Beschäftigten inhaltlich unterschiedlich gestalten kann, eben ganz individuell auf die spezifische Situation bezogen. Das ist uneingeschränkt zu begrüßen. Der präventive Outcome der alljährlich millionenfach durchgeführten so genannten G-Untersuchungen ist nämlich kritisch zu hinterfragen. Ihr Nutzen wurde bislang weder von den Trägern der gesetzlichen Unfall-versicherung, noch von der forschenden Arbeitsmedizin wissenschaftlich evaluiert. So verwundert es auch nicht, wenn die globale G-Untersuchungs-Statistik, die von der DGUV-Vorgängerorganisation, dem Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften, früher jedes Jahr als Erfolgsmeldung veröffentlicht worden ist, schon seit über 15 Jahren nicht mehr erscheint. Und niemand hat sich um die Qualitätssicherung der erbrachten Dienstleistungen gekümmert. Sind da tatsächlich alle empfohlenen Diagnosemaßnahmen gemäß der DGUV-Grundsätze abgearbeitet worden? Oder hat da nur eine kurze Unterhaltung zwischen Betriebsarzt und Mitarbeiter stattgefunden, um die Statistik zu füttern?
Durch die Flexibilisierung der Beratung sollen die Persönlichkeitsrechte der Be-schäftigten gestärkt werden. Gleichzeitig ändern sich nun aber auch die Geschäftsgrundlagen hinsichtlich der Dienstleistungs-erbringung. Viele Betreuungsverträge sehen zusätzlich zum Honorar für die Grund- und die betriebsspezifische Betreuung eine gesonderte Berechnung der G-Untersuchungen mit festgelegtem Untersuchungspro-gramm vor. Hierfür wurden u. a. vom Verband der Deutschen Betriebs- und Werksärzte Preistabellen entwickelt. Deren Anwendung dürfte nun hinfällig werden, da das Leistungsspektrum je Vorsorgeuntersuchung individuell ganz unterschiedlich ausfallen kann.
Die alten Betreuungsverträge müssen also auf der Basis der DGUV 2 und der novellierten ArbMedVV neu formuliert werden. Das bedeutet für die praktische Arbeitsmedizin sowohl Risiko als auch Chance. Risiko insofern, als dass Einsatzzeiten reduziert werden und pauschalierte Honorare den erbrachten Aufwand nicht abdecken. Chance dadurch, dass der „gesunde Betrieb“ mehr in den Fokus der arbeitsmedizinischen Aktivitäten rückt.
Unstrittig haben wir einen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften und eine demnächst noch rasanter zunehmende Überalterung der Belegschaften mit wachsender Morbidität. Hinzu kommt ein bislang in diesem Zusammenhang wenig beachtetes Phänomen: Die Ausdehnung der Multimorbidität in immer jüngere Bevölkerungsschichten. Hauptursache hierfür sind das metabolische Syndrom (abdominelle Fettleibigkeit, Bluthochdruck, Dyslipidämie und Insulinresistenz) sowie diverse Psychopathologien, egal ob es sich dabei um vorgeblich neue Erkrankungsentitäten oder um die gestiegene Inzidenz psychiatrischer Krankheiten handelt.
Mit diesem kurzen Abriss der wichtigs-ten soziodemographischen und mor-biditätsgebundenen Parameter erschließen sich auch die künftigen Handlungsschwerpunkte für die Arbeitsmedizin: Gesunde Mitarbeiter für einen gesunden Betrieb. Die Pflege der Humanressourcen bedeutet Verbesserung der Produktivität und der Wettbewerbsfähigkeit. Daran ist jedes Unternehmen interessiert. Und hier kann die Arbeitsmedizin interessante Angebote unterbreiten. Der entsprechende Methodenpool firmiert unter Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM). Integraler Bestandteil des BGM muss neben positiver Beeinflussung der Firmenkultur und gutem Führungsverhalten die medizinische Prävention sein.
Man mag die Neuregelungen für die praktische Arbeitsmedizin als eine Schwächung des Fachgebietes begreifen. Man kann sie aber auch als neue Chance ansehen, zielgerichtete Prävention anzubieten. Hierbei kommt es in Zukunft mehr noch als früher darauf an, attraktive Angebote zu unterbreiten. Die vorgeschlagenen Maßnahmen müssen nachweisbar zur Gesunderhaltung der Mitarbeiter und zum Erfolg des Unternehmens mit beitragen. Selbstverständlich gehört dazu auch ein gutes Marketing. Schließlich muss die Dienstleistung auch angepriesen werden, damit sie gekauft wird. Wer Dumpingangebote unterbreitet, sägt den Ast ab, auf dem er sitzt.
Michael Kentner, Karlsruhe