Springe auf Hauptinhalt Springe auf Hauptmenü Springe auf SiteSearch
Paradigmenwechsel auf dem Weg zu mehr Teilhabe

20 Jahre Sozial­gesetzbuch IX

Mit der Alterung der Bevölkerung nimmt die Zahl von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen zu. Demografiebedingt ist mit einer weiteren Steigerung in den nächsten Jahren zu rechnen. Maßnahmen zur Arbeitsmarktintegration, zur Prävention und Gesundheitsförderung gewinnen vor diesem Hintergrund an Bedeutung.

Das SGB IX vom 19. Juni 2001 regelte die Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderung neu. An die Stelle der früheren „Defizitorientierung“ trat jetzt der Rechtsanspruch auf Förderung
einer „selbstbestimmten Teilhabe“ mit Verpflichtung aller Rehabilitationsträger zu einer einheitlichen Leistungsgewährung. Das SGB IX nahm die Ziele der UN-Menschenrechtskonvention vorweg, die am 13.12.2006 feststellte, dass die Teilhabe behinderter Menschen ein Menschenrecht sei, kein Akt der Fürsorge oder Gnade.

Dabei sollten die Bedarfe koordiniert und die Leistungen zügig gewährt werden. Die Einrichtung der „gemeinsamen Servicestellen“ der Rehabilitationsträger, in denen die Antragstellenden niederschwellig trägerübergreifend beraten werden sollten, konnte die Erwartungen leider nicht erfüllen.

Die Neufassung des SGB IX durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) vom 23.12.2016 sieht für Menschen mit Behinderung Verbesserungen vor. Die Träger von Reha-Maßnahmen werden verpflichtet, frühzeitig drohende Behinderungen zu erkennen und gezielt Prävention noch vor Eintritt der Rehabilitation zu ermöglichen. Die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen wurde aus dem Fürsorgesystem des SGB XII (Sozialhilfe) herausgelöst und mit der Weiterentwicklung zum Teilhaberecht ein Systemwechsel vollzogen.

Im § 11 wurde die Förderung von Modellvorhaben zur Stärkung der Rehabilitation verankert. Die Grundsätze „Prävention vor Rehabilitation“ und „Rehabilitation vor Rente“ sollen gestärkt und die Übergänge in die Eingliederungshilfe, in die Werkstätten für behinderte Menschen und in die Erwerbsminderungsrente reduziert werden. Um dieser Verpflichtung nachzukommen, hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) im Mai 2018 mit dem ersten Förderaufruf das Bundesprogramm „Innovative Wege zur Teilhabe am Arbeitsleben – rehapro“ in den Rechtskreisen der Rentenversicherung (SGB VI) und der Jobcenter (SGB II) gestartet. Janett Termin stellt die Ziele des Projekts aus Sicht des BMAS dar. Insbesondere Personen mit komplexem Unterstützungsbedarf und psychischen Beeinträchtigungen sollen neue Wege zur Teilhabe am Arbeitsleben eröffnet werden.

Die Deutsche Rentenversicherung beteiligt sich in über fünfzig Modellprojekten im ersten Förderlauf zur medizinischen und beruflichen Rehabilitation, Prävention und Nachsorge mit praxisorientierten Lösungsansätzen. Erprobt werden neue Ansätze zur beruflichen (Re-)Integration sowie neue und veränderte Zugangswege, insbesondere zu Betrieben, betrieblichen Akteurinnen und Akteuren sowie Unternehmensnetzwerken. Christina Stecker gibt einen Überblick aus der Sicht der Rentenversicherung BUND.

Aufgabe der begleitenden Forschung ist neben einer allgemeinen Wirkungsanalyse, zielführende Ansätze und Herangehensweisen für die Weiterentwicklung der Rehabilitation und Teilhabe zu identifizieren. Martin Brussig und Lisa Huppertz geben in ihrem Beitrag einen Einblick in die Schwerpunkte der wissenschaftlichen Programmevaluation.

Um die Vielfältigkeit der angelaufenen Projekte darzustellen, werden in dieser ASU-Ausgabe zwei Beispiele ausgewählt:

Vera Kleineke und David Fauser berichten über die Modellvorhaben der DRV Nord. Bei dem Projekt GIBI werden Betriebsärzte und -ärztinnen direkt eingebunden. In den beteiligten Reha-Kliniken findet eine ganzheitliche Diagnostik statt, um die gesundheitliche Problematik der Betroffenen zu verstehen. Ein enger Austausch ist mit den betrieblichen Akteurinnen und Akteuren vorgesehen.

Felix Behling et al. stellen die beiden Modellvorhaben der DRV Braunschweig-Hannover „BEM-intensiv“ und „Reha-Integrativ“ für Versicherte mit eingeschränkter Erwerbsfähigkeit oder akuten psychischen Auffälligkeiten vor. Bei BEM-intensiv werden Beschäftigte noch im Betätigungsumfeld aufgesucht.

Das Hamburger Projekt „Haus der Gesundheit und Arbeit“ (HGuA) beruht auf dem Konzept einer Sozialleistungsträger-übergreifenden Beratung unter einem Dach durch „multidisziplinäre Teams“. Es wird von Björn Brenscheidt und Anton Hütz in einem der nächsten Hefte vorgestellt und eröffnet eine fortlaufende Serie in 2022 mit Berichten über verschiedene rehapro-Projekte.

Die Berufsbildungs- und Berufsförderungswerke in Deutschland haben in den letzten 20 Jahren den Teilhabegedanken aufgegriffen und mit zahlreichen individualisierten Förderangeboten begleitet. Neben der Wiedereingliederung als erweiterte Zieldefinition sollen sie den Erhalt der Erwerbsfähigkeit und eine möglichst dauerhafte Teilhabe am Arbeitsleben – auch über die Schaffung neuer beruflicher Perspektiven – ermöglichen. Katharina Weigel aus dem BFW München zeigt Beispiele der direkten Zusammenarbeit mit Unternehmen, die zur Beschleunigung des Unterstützungsprozesses führen.

Es ist damit zu rechnen, dass ca. 10 % der rund 3,8 Millionen an
COVID-19 erkrankten Personen unter den Spätfolgen der Infektion leiden. Harald Berger gibt einen Einblick in die Herausforderungen der Rehabilitation von Long/Post-Covid-Patientinnen und -Patienten.

Nathalie Glaser-Möller hat als Leiterin der Stabsstelle Reha-Strategie, -Grundsatz und -Steuerung der Deutschen Rentenversicherung Nord mit Sitz in Lübeck innovative Projekte immer engagiert begleitet und vorangetrieben. Sie wurde am 1. September 2021 in den Ruhestand verabschiedet und blickt im Interview auf ihre Tätigkeit zurück.

Die Entwicklung des Teilhabe- und Inklusionsgedankens hat auch für die Betriebsärztinnen und -ärzte in der Beratung zur beruflichen Rehabilitation neue Chancen und Gestaltungsspielräume geschaffen, indem sie Barrieren zur Teilhabe frühzeitig erkennen und geeignete Angebote schon in der Primärprävention vermitteln können. Für Betriebsärztinnen und -ärzte sind die Rahmenbedingungen von SGB IX und BTHG wertvolle Mosaiksteine einer erfolgreichen Beratung im betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM; § 167 Abs. 2
SGB IX). Mit dem SGB-IX-Bundesprogramm „rehapro“ sind zudem die Voraussetzungen gegeben für Innovationen mit Raum zur Erprobung von Neuem im Zusammenwirken der Leistungsträger im System der beruflichen Rehabilitation. Die Ansätze in der Theorie sind vielversprechend, doch braucht das komplexe, in der Praxis nur schwer überschaubare System mit vielen Schnittstellenherausforderungen einen erfahrenen Lotsen, der Rehabilitanden informiert, motiviert und geeignete Angebote arrangiert und
begleitet.

Betriebsärztinnen und -ärzte können aus ihrem Blick die geeigneten Leistungsträger am „runden Tisch“ vernetzen und maßgeschneiderte individualisierte Fördermöglichkeiten für einen nachhaltigen Rehabilitationserfolg vorschlagen. Die Rahmenbedingungen sind gut – jetzt müssen wir sie nur noch ausgestalten und die Chancen aufzeigen!

Happy Birthday, SGB IX!

Hanns Wildgans Jutta Kindel

München Hamburg

Das PDF dient ausschließlich dem persönlichen Gebrauch! - Weitergehende Rechte bitte anfragen unter: nutzungsrechte@asu-arbeitsmedizin.com.