SL: Durch die Einführung der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) im Jahr 2009 hat sich die arbeitsmedizinische Vorsorge wesentlich verändert. Welche Entwicklung für die arbeitsmedizinische Vorsorge erwarten Sie für die Zukunft?
Univ.-Prof. Dr. med. Volker Harth, MPH: Die arbeitsmedizinische Vorsorge erreicht einen großen Teil der etwa 45 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland. Als Teil der betrieblichen Präventionsmaßnahmen steht sie dabei in einer direkten Wechselbeziehung zu der Gefährdungsbeurteilung und den Veränderungen in den physikalischen, chemischen und biologischen Einwirkungen sowie den psychische Belastungen in der Arbeitswelt von morgen.
Die ArbMedVV ermöglicht es, die arbeitsmedizinische Vorsorge dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik in der Gestaltung der Arbeitsbedingungen anzupassen. Sie legt dabei einen besonderen Schwerpunkt auf die informationelle Selbstbestimmung der Beschäftigten. Die Erstellung von Vorschlägen für eine ständige Anpassung der Vorsorgeinhalte, Regeln und Empfehlungen ist Aufgabe des Ausschusses für Arbeitsmedizin (AfAMed), der seit 2009 das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) berät.
Zentrales Thema vieler ärztlicher Beratungen werden aktuell neben der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel auf noch nicht absehbare Zeit die gesundheitlichen Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie und des daraus resultierenden „Long COVID-“ oder auch „Post-COVID-19-Syndroms“ sein.
Die digitale Transformation der Arbeitswelt führt zu veränderten Anforderungen. Mittel- und langfristig werden die gerade durch das mobile Arbeiten bedingten Belastungen und Beanspruchungen im Vordergrund stehen. Dies zeigt sich aktuell an den psychischen wie auch physischen Auswirkungen des weit verbreiteten Homeoffices. Darüber hinaus gilt es aber auch, die gesundheitlichen Auswirkungen neuer Technologien und neu zugelassener Arbeits- und Gefahrstoffe im Auge zu behalten.
Durch den demografischen Wandel und die Verlängerung der Lebensarbeitszeit bedingt wird sich die arbeitsmedizinische Vorsorge noch stärker auf chronisch erkrankte beziehungsweise leistungsgewandelte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerausrichten. Die Weiterentwicklung und Professionalisierung der arbeitsmedizinischen Vorsorge spiegelt sich auch im viel diskutierten Konzept der ganzheitlichen Vorsorge wider. Durch ihren wesentlichen Beitrag zu einer adäquaten Verhältnis- wie auch Verhaltensprävention kann so die Gesundheit der Beschäftigten gefördert, erhalten oder wiederhergestellt werden.
Das Interview wurden von Herrn Professor Stephan Letzel anlässlich des 60jährigen Jubiläums der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (DGAUM) geführt und in der ASU-Ausgabe 04/2022 erstmals veröffentlicht.