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Jetzt soll alles richtig gemacht werden

Im Moment ist noch gar nicht bekannt, woran der Copilot Andreas L. tatsächlich krankte. Es darf aber als sicher gelten, dass die behandelnden Ärzte für den Unglückstag eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausgestellt hatten. Spätestens an dieser Stelle muss unter anderem gefragt werden: „Für welche arbeitsvertraglich geschuldete, zuletzt ausgeübte, Tätigkeit war denn Arbeitsunfähigkeit bescheinigt worden?“. Beim Ruf nach „Meldung wegen Gefährdung (an wen auch immer)“ ist dann zu fragen: „Haben die behandelnden Kollegen die Gefährdungs-situation von Dritten und Sachwerten überhaupt erkennen können?“ Sofern allein aus dem Krankheitsbild bereits eine potenzielle (abstrakte oder konkrete) Gefährdung her-zuleiten gewesen wäre, müsste geklärt wer-den, welche Möglichkeiten bestehen, dieses Risiko rechtsicher zu präzisieren, so dass un-gefährdet eines strafrechtlichen und/oder wirtschaftlichen Rückgriffs auf den Arzt eine Information an z. B. den Arbeitgeber oder eine Institution der Exekutive zu rechtfer-tigen wäre. Spätestens an dieser Stelle ist nach der Arbeitsanamnese zu fragen. Wer weiß schon ganz genau, was seine Patienten beruflich machen, wo und mit welchen Eigen- oder Fremdgefährdungen? Welche Möglichkeiten hat man, diese Erkenntnisse, die fast immer vom Patienten selbst stammen, zu objektivieren?

Einige Kolleginnen und Kollegen haben an der fachlich sicheren Einschätzung der beruflichen Situation ihrer Patienten keine Zweifel. Trotzdem laufen in unserer Praxis regelmäßig Patienten auf, die uns bestürzt, verunsichert oder verärgert verlassen, weil z. B. die gesundheitliche Eignung zum Füh-ren von Kraftfahrzeugen, Schiffen, Eisenbahnen und Flugzeugen bezweifelt werden musste.

Woher erfährt nun aber der psychiatrisch tätige – oder auch jeder andere – Kollege, welche Eigen- und Fremdgefährdungen re-levant sein könnten? Hier sollte unsere fast vergessene Entität der ärztlichen Berufsaus-übung ins Spiel gebracht werden. In Umsetzung der EU-Arbeitsschutzrichtlinie wird Unternehmern mit abhängig Beschäftigten u. a. die Verpflichtung auferlegt, medizinische Vorsorge bei beruflichen, gesundheitsschädlichen Einflüssen zu betreiben. Im Weiteren ist geregelt, dass auch die gesundheitliche Eignung (manchmal auch nach speziellen Rechtsvorschriften) für die arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeit nachzuweisen ist. Beide Sachverhalte, Vorsorge und Eignung, sind, sofern es sich um medizinische Zusammenhänge handelt, durch die Betriebsärzte, oder seltener andere spezialisierte Fachärzte, sicherzustellen. Es ist keinesfalls die Aufgabe der Betriebsärzte, dem Arbeit-geber die medizinischen Sachverhalte seiner Beschäftigten offenzulegen oder Krankenscheine zu prüfen. Das ist sogar ausdrücklich verboten. Betriebsärzte sind Vermittler zwischen den Interessen des Arbeitnehmers und seinen gesundheitlichen Gegebenheiten und den durch das Anforderungsprofil der Arbeitsaufgabe und den zumeist auch rechtlich definierten betrieblichen Notwen-digkeiten. Dies impliziert, dass die Betriebs-ärzte nicht nur Kliniker sein müssen, sondern sie müssen auch die Verhältnisse am Arbeitsplatz des Patienten in einer Detailliertheit kennen, die für die primärtherapeutische Medizin oft zumindest teilweise entbehrlich ist.

Für Rückfragen wird man die Kollegen in Festanstellung bei großen Unternehmen und die niedergelassenen Arbeitsmediziner relativ schnell ausmachen können, meist sind die Namen den Beschäftigten geläufig. Das ist bei den Systemdienstleistern deutlich komplizierter. Eine konstante Betriebsarzt-Betriebsbindung oder gar Arzt-Patienten-Beziehung ist kaum möglich und häufig auch nicht gewollt. Diese Zustände haben in der restlichen Ärzteschaft intendiert, dass Arbeitsmediziner teilweise auch gar nicht mehr als ärztliche Kollegen wahrgenommen werden.

In Zusammenhang mit dem Flugzeugunglück bleibt zusammenzufassen, dass es erheblichen Kommunikationsbedarf an der Schnittstelle zwischen „therapeutischer Me-dizin“ und Arbeitsmedizin gibt. Übertretungen der Schweigepflicht gegenüber dem Arbeitgeber sind meistens entbehrlich, da mit den Betriebsärzten eine Berufsgruppe die gesetzeskonforme Kommunikation mit den Arbeitgebern professionalisiert hat. In der Praxis würde es schon genügen, die Patien-ten zu fragen: „Darf ich mit Ihrem Betriebsarzt abklären, wie Ihre genauen beruflichen Gefährdungen aussehen? Denn, vielleicht würde es Ihrem Heilungsprozess gut tun, möglichst nicht aus dem Arbeitsprozess herausgelöst oder frühzeitig wieder eingegliedert zu werden.“. Oder: „Sehr geehrter Herr Kollege, ich betreue einen Patienten mit einer XY-Störung; wäre das an den von Ihnen betreuten Arbeitsplätzen von Bedeutung?“ Mit Einverständnis wäre sogar die Namensnennung möglich. Sofern hierfür kein Einverständnis gegeben würde, darf man schlussfolgern, dass ein psychisch kran-ker Patient aus gutem Grund seine Profession verschleiert oder ein somatisch Kranker, oder beide, aus Angst vor Repressionen am Arbeitsplatz die Zusammenarbeit mit dem Betriebsarzt verweigern. Hier wäre dann eine gut begründbare Information z. B. des öffentlichen Gesundheitsdienstes möglich geworden, der dann von Amtswegen weitere Gefährdungen und Zuständigkeiten präzisieren könnte. Doch zu dieser Überlegung sollte der Weiterbildungsassistent erst einmal angehalten werden, was schwer zu vermitteln ist, wenn an vielen Hochschulen nicht einmal ein Lehrstuhl für Arbeitsmedizin existiert.

Dafür müsste ein Betriebsarzt als ärztlicher Kollege auch erreichbar sein, der den Mitarbeiter im besten Fall auch persönlich kennt. In Großbetrieben ist das relativ einfach. Auch der niedergelassene Arbeitsmediziner kann, wie jeder klinisch tätige Arzt, grundsätzlich mit wenig Aufwand wichtige Angaben machen. Besondere Betreuungsmodelle ermöglichen es, dass oft gar kein fest gebundener Betriebsarzt zur Verfügung steht. Nun ist z. B. ein Busunternehmen mit 49 Fahrern aber alles andere als klein. In einer zunehmend überalterten Belegschaft laufen hier schnell fremdgefährdungsrele-vante Eignungsmängel auf. Daher muss darauf gedrungen werden, dass jeder Beschäftigte nicht nur pro forma einen Betriebsarzt hat, sondern er oder sie diesen auch kennt und als Arzt wahrnimmt.

In der deutschen Arbeitsmedizin gibt es diesbezüglich eine Krise im Selbstbildnis, die im Rest der Welt nicht verstanden wird. Kein britischer Hausarzt („general practice“, GP) käme auf die Idee, seinen betriebsärztlichen Kollegen („occupational consultant“, OC) nicht wahrnehmen zu können. Bei längerfristigen Arbeitsunfähigkeiten oder Erkrankungen mit potenziell erheblichen beruflichen Konsequenzen arbeiten GP und OC schon zeitlich sehr früh (in der Regel nach spätestens 5 Tagen AU) eng zusammen, da dies nicht nur Gefährdungen präzisiert und minimiert, sondern auch der Verkürzung der Arbeitsunfähigkeitszeit und der Wiedereingliederung und damit den Patienten direkt und nachweisbar nützt. Ich bin dankbar für die Kollegialität, die ich erfahre, wenn ich in Zusammenhang mit Tauglichkeit für Anlagen der britischen Offshore-Industrie (OGUK) mit den Kollegen vor Ort kommuniziere und nicht erklären muss, wofür ein OC eigent-lich da ist, sondern ganz selbstverständlich meine Rücksprache erwartet wird – zum Nutzen meiner Patienten und deren Schutz-befohlenen.

 

Literatur zum Thema "Flugmedizin" >>

    Autor

    Christian Wolf

    Facharzt für Arbeitsmedizin

    Frankendamm 47

    18439 Stralsund

    christian.wolf@arbeitsmedizin-stralsund.de