In vielen industriellen Verfahren kommen Stoffe und Gemische zur Anwendung, bei deren Umgang Gesundheitsgefährdungen bis hin zu Krebserkrankungen der Beschäftigten nicht sicher ausgeschlossen werden können. Im Rahmen der Gefahrstoffverordnung werden Bedingungen definiert, unter denen Tätigkeiten mit bestimmten Gefahrstoffen ausgeübt werden dürfen und dabei Beschäftigte vor Gesundheitsgefahren und -risiken geschützt werden. Um dies zu ermöglichen, werden Arbeitsplatzgrenzwerte (AGW) und Exposition-Risiko-Beziehungen (ERB) definiert.
Die Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie (BG RCI), als einer der Träger der Gemeinsamen Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA), verpflichtet sich, durch geeignete Maßnahmen zur Zielerreichung des Arbeitsprogramms „Sicherer Umgang mit krebserzeugenden Gefahrstoffen“ der dritten GDA-Periode beizutragen. Bei dem aktuellen Arbeitsprogramm ist unter anderem das grundlegende Verständnis von Grenzwerten bei Tätigkeiten mit krebserzeugenden Gefahrstoffen notwendig. Allerdings ist dieses Verständnis an der Basis aufgrund der Komplexität des Themas und der rechtlichen Änderungen beziehungsweise Anpassungen der letzten Jahre noch zu wenig ausgeprägt.
Akteurinnen und Akteuren des Arbeits- und Gesundheitsschutzes soll dieses Thema mit Hilfe neuer Lehransätze anschaulich vermittelt werden. Dafür wurde ein Aktionsmedium entwickelt, das durch „Gamification“ auf Messen, Veranstaltungen oder bei betrieblichen Aktionstagen das Thema verdeutlichen soll. Ziel ist es, die Aufmerksamkeit, das Interesse und die Motivation zu erhöhen, sich mit dem Thema Grenzwerte und Schutzmaßnahmen im Umgang mit krebserzeugenden Gefahrstoffen näher auseinanderzusetzen und die Erkenntnisse in den Arbeitsalltag zu integrieren.
Was bedeutet „Gamification“?
Bei „Gamification“ handelt es sich um eine neue Lernform, die spielerische Ansätze (z. B. Computerspiele, Apps etc.) mit wissensrelevanten Inhalten (spielfremd wie „krebserzeugende Gefahrstoffe“) verknüpft. Diese Lernform wird bereits in vielen Institutionen und Unternehmen integriert, unter anderem zur Ideenfindung, Qualifizierung, aber auch, um vorhandene Kenntnisse aufzufrischen oder zu vertiefen.
Spielfremde Themen können durch einen spielerischen Ansatz der Inhalte anders wahrgenommen werden. So kann dadurch die Neugier und Motivation der Teilnehmenden, sich mit einer bestimmten Thematik näher auseinanderzusetzen, geweckt werden. Die Interaktivität eines solchen Angebots führt zur Kurzweiligkeit und ermöglicht eine implizite Wissen- beziehungsweise Informationsvermittlung. Das Lernen erfolgt nebenbei (Stieglitz 2015, S. 817).
Krebserzeugende Gefahrstoffe und ihre Einstufung
Gefahrstoffe, die gesundheitsgefährdende Eigenschaften besitzen, werden unter anderem in krebserzeugende, keimzellmutagene und reproduktionstoxische Effekte (KMR-Stoffe) unterschieden.
Als „krebserzeugend“ oder „karzinogen“ gelten Stoffe und Gemische, die eine Krebserkrankung verursachen oder durch die ein Anstieg der Inzidenz an Krebserkrankungen als Folge einer Exposition gegenüber den Stoffen beziehungsweise Gemischen verursacht wird.
Die Einstufung krebserzeugender Gefahrstoffe erfolgt gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 (CLP) in folgende Kategorien (➥ Tabelle 1).
Krebserzeugenden Gefahrstoffen werden die Gefahrenhinweise (H-Sätze) H350 und H351 zugeordnet. Diese lauten wie folgt:
(Das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union 2008).
Im Exponat werden die Gefahrstoffinformationen der jeweiligen Stoffe durch Piktogramme dargestellt. So können die Unterschiede zwischen den Gesundheitsgefährdungen der Stoffe untereinander erkannt werden. Es wird auch verdeutlicht, dass ein Piktogramm, wie beispielsweise das Piktogramm GHS08 „Gesundheitsgefahr“, für verschiedene Gefahrenklassen verwendet wird und deshalb nicht zwingend ein Zusammenhang zwischen Piktogramm und Aufwand an der Umsetzung von erforderlichen Schutzmaßnahmen besteht. Dies unterstützt vor allem Personen, die sich gerade in das Thema Gefahrstoffe einarbeiten.
Wie werden AGW und ERB unterschieden?
Laut der Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) gibt der AGW (Arbeitsplatzgrenzwert) die Höhe der Konzentration eines Gefahrstoffes in der Luft am Arbeitsplatz über einem bestimmten Zeitraum an. Im Allgemeinen wird nicht damit gerechnet, dass in diesem Zeitraum gesundheitsschädliche Auswirkungen (akut oder chronisch) für Beschäftigte auftreten.
Da für viele krebserzeugende Gefahrstoffe kein AGW abgeleitet werden kann, wurde ein Risikokonzept „Exposition-Risiko-Beziehung“ für Tätigkeiten mit krebserzeugenden Gefahrstoffen entwickelt. Gemäß dem Konzept wurden stoffübergreifende Risikogrenzen sowie die stoffspezifischen Grenzwerte festgelegt. Bei Letzteren handelt es sich um:
Die Grenzwerte des ERB-Konzepts enthalten Aussagen über die Wahrscheinlichkeit, aufgrund der inhalativen Aufnahme eines krebserzeugenden Stoffes, berufsbedingt an Krebs zu erkranken.
Die stoffübergreifenden Risikogrenzen des Risikokonzepts sind in folgende Risikobereiche gegliedert:
Dabei werden Akzeptanz- und Toleranzwerte wie in Tabelle 2 gezeigt festgelegt.
Ein niedriges Risiko liegt unterhalb der Akzeptanzkonzentration, dies wird als akzeptables Risiko bezeichnet. Oberhalb der Akzeptanzkonzentration liegt ein mittleres Risiko vor, das so lange toleriert wird, wie Schutzmaßnahmen ergriffen werden. Ein hohes Risiko, das oberhalb der Toleranzkonzentration liegt, wird nicht toleriert (➥ Abb. 1). Das Risikokonzept hat als Ziel, das Risiko bei Tätigkeiten mit krebserzeugenden Gefahrstoffen mithilfe von Schutzmaßnahmen auf eine Konzentration unterhalb der Akzeptanzkonzentrationen zu senken (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2019).
Im Exponat sind die AGW und die Werte des ERB-Konzepts für jeden Stoff grafisch dargestellt.
Für KMR-Stoffe beziehungsweise für Tätigkeiten mit KMR-Stoffen sind besondere Schutzmaßnahmen zu treffen. Darunter fallen Maßnahmen wie das Beschränken des Zugangs eines Arbeitsbereichs nur für Beschäftigte, die eine Tätigkeit ausüben dürfen. Dies kann mithilfe von Schlüsseln oder einem Radio-Frequency Identification Chip (RFID-Chip) umgesetzt werden.
Weitere Maßnahmen werden zum Beispiel in der TRGS 500 (Schutzmaßnahmen) aufgeführt.
Je nach Gefährdung und Grenzwert werden im Exponat passende Maßnahmen angezeigt, die bei Tätigkeiten mit krebserzeugenden Gefahrstoffen durchgeführt werden können, um einen sicheren Umgang zu ermöglichen.
Was ist das Grenzwert-Radeln?
Dabei handelt es sich um ein Exponat, dass aus einem Handpedal inklusive Display sowie einem Bedienfeld besteht. Integriert ist ein Lernspiel, dass die angesprochene Thematik vermittelt (➥ Abb. 2). Die Bedienung ist intuitiv gestaltet und ohne Betreuung möglich.
Programmiert wurden Journeys, bei denen durch Kurbeln Maßnahmen zur Risikominimierung bewältigt werden müssen, wodurch auch die Einhaltung der Grenzwerte erzielt wird. Der Aufwand, den die Beschäftigten durch das Kurbeln aufbringen müssen, soll mit dem Aufwand für Arbeitsschutzmaßnahmen bei Tätigkeiten mit krebserzeugenden Gefahrstoffen – und damit auch der Höhe dieser Grenzwerte – korrelieren. Durch das kontinuierliche notwendige Kurbeln soll Nutzenden bewusst werden, dass Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit ein fortlaufender Prozess ist und eine dauerhafte Einhaltung der Grenzwerte kontinuierliches Handeln erfordert.
Das Lernspiel beinhaltet 16 Stoffe, darunter sind:
Durch die Auswahl der unterschiedlichen Stoffe soll verdeutlicht werden, dass je nach Gefährdung beziehungsweise Grenzwert ein unterschiedlich hoher Aufwand gefordert wird, um Tätigkeiten sicher ausüben zu können.
Prinzip des Lernspiels
Der Aufwand wird wie folgt grafisch dargestellt:
Dies soll den Ehrgeiz der Nutzenden wecken, dass sie den Anspruch erheben, weiter und schneller zu kurbeln. Zwei Parameter sind besonders wichtig: der Widerstand und die Drehzahl des Handpedals. Der Widerstand wird in Abhängigkeit vom ausgewählten Stoff (Höhe der Grenzwerte symbolisiert) gesteuert. Das heißt, je nachdem wie schwierig es ist, einen Grenzwert einzuhalten, desto größer ist der Widerstand beim Kurbeln. Die Drehzahl bestimmt das Arbeitsschutzniveau und damit die Rückkopplung auf das Ampelsystem (Farben rot/gelb/grün bzw. rot/grün) sowie die angezeigten und umgesetzten Maßnahmen.
Auswahl einer Journey
Bei der Journey handelt es sich um eine virtuelle Reise durch einen Raum, in dem das Lernspiel stattfindet.
Es besteht die Möglichkeit, zwischen zwei Varianten zu wählen: eine „Zufalls-Journey“ und eine „eigene erstellte Journey“.
Jede Journey beinhaltet drei Stoffe. Die vorgefertigten Journeys werden durch ein Zufallsprinzip ausgewählt. Bei den eigenen
Journeys haben die Teilnehmenden die Möglichkeit, drei der 16 verfügbaren Stoffe auszuwählen.
Beschreibung des Lernspiels
Nach der Auswahl der Journey beginnt das Spiel. Die Dauer beträgt 90 Sekunden. Das Handpedal wird durch Kurbeln bedient.
Die Teilnehmenden befinden sich in einen „Tunnel“ und müssen zum ersten Stoff gelangen. Dann kommen sie in eine virtuelle Landschaft hinein, in der Informationen zu dem jeweiligen Stoff angezeigt werden. Zuerst werden Informationen über die Gefährdungen, Piktogramme sowie Grenzwerte übermittelt (➥ Abb. 3).
Die Teilnehmenden kurbeln weiter und kommen auf eine weitere Ansicht. Dort werden ihnen entsprechend der Drehzahl durch das Kurbeln nacheinander Maßnahmen angezeigt (➥ Abb. 4). Lässt ihre Leistung nach, werden Motivationstexte eingeblendet, um sie zum Weiterkurbeln zu ermutigen. Zugleich ändern sich der Farbcode des Ampelsystems sowie die Anzeige des Grenzwerts entsprechend der Drehzahl des Handpedals.
Nach 30 Sekunden wiederholt sich die Anzeige der Informationen für den nächsten Stoff.
Jeder Stoff ist ein Ziel, für das Punkte gesammelt werden können. Einen inzentiven Aspekt stellen die Badges dar, die die Teilnehmenden zusätzlich gewinnen können.
Diese werden als Aufzählung am Ende des Spiels angezeigt. Nachdem alle Maßnahmen im Spiel für einen sicheren Umgang mit Gefahrstoffen erreicht wurden, erfolgt ein Quiz.
Quiz-Mode
Abschließend werden den Teilnehmenden Fragen gestellt, um die Spannung zu erhöhen. Diese Fragen beziehen sich auf bereits angezeigte Informationen. Dadurch soll ein optimaler Wissenstransfer erreicht und mögliche Wissenslücken aufgedeckt werden.
Die Fragen werden aus einem Fragepool entnommen, bei dem immer auf unterschiedliche Fragen zurückgegriffen werden kann. Die Fragen werden randomisiert angezeigt. So kann verhindert werden, dass die teilnehmenden Personen sich die Fragen beziehungsweise die Anordnung der Antworten merken.
Durch das richtige Beantworten der Fragen können zusätzliche Badges und Punkte erreicht werden. Die Teilnehmenden bekommen sowohl bei richtigen als auch bei falschen Antworten ein Feedback. Bei falschen Antworten wird auf die richtige Antwort hingewiesen.
Pausenfunktion
Eine Pausenfunktion wurde integriert, um auf Informationen näher eingehen zu können, beziehungsweise bei Bedarf weitere Erläuterungen zu geben. Diese Option wird nur in Kombination mit einer Betreuung des Exponats genutzt.
Zusätzliche Informationen
Am Ende des Spiels wird mithilfe eines QR-Codes auf wichtige Informationen für den sicheren Umgang mit krebserzeugenden Gefahrstoffen hingewiesen.
Ausblick
Das Exponat kommt sowohl auf Fachmessen als auch im Bildungszentrum der BG RCI in Laubach zum Einsatz. Zusätzlich kann dies auch für betriebliche Aktionstage verwendet werden.
Ergänzend zum Exponat wird das Lernspiel außerdem als Web-Applikation entwickelt und für PCs, Tablets und Smartphones zur Verfügung stehen.
Interessenkonflikt: Die Erstautorin und ihr Koautor geben an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
Literatur
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA): Das Risikokonzept für krebserzeugende Stoffe des Ausschusses für Gefahrstoffe. Dortmund: BAuA, 2012.
Bundesministerium für Arbeit und Soziales: TRGS 910 – Risikobezogenes Maßnahmenkonzept für Tätigkeiten mit krebserzeugenden Gefahrstoffen. 2019.
Stieglitz S: Gamification – Vorgehen und Anwendungen. HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik 2015, 52: 824.
Weitere Infos
Das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union: EUR-Lex. 2008
https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A32012R0618
Kernaussagen
KOAUTOR
An der erstellung des Beitrags beteiligt war Dr. Stefan Durrer, Berufsgenossenschaft roh- stoffe und chemische Industrie, heidelberg.