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Arbeit und Psyche – eine Systematik der Selbstverständlichkeit

Erfolgsfaktor mental Well-being?

In den Unternehmen wandelt sich der Umgang mit mental Well-being von einem eher durch Verunsicherung und Vermeidung gekennzeichneten Nischenthema zu einem zentralen strategischen Faktor. Unter dem Begriff „mental Well-being“ sind hier psychosoziale Gesundheit und Wohlbefinden gefasst. Es zeichnet sich ein sukzessiver Verständniswandel ab, dass „Psyche“ nicht ausschließlich ein Individuum-bezogenes (Sonder-)Gesundheitsthema ist. Vielmehr wird die Gestaltung von gesundheitsförderlicher Organisation auch unter psychosozialen Gesundheitsaspekten als ein wesentliches komplementäres betriebliches Handlungsfeld anerkannt.

Auslöser dafür sind unter anderem die epidemiologischen Fakten, denen zufolge jeder dritte bis vierte Erwachsene einmal in seinem Leben von einer behandlungswürdigen psychischen Erkrankung betroffen ist (Jacobi et al. 2014), die Novelle des Arbeitsschutzgesetzes 2013, die Ergebnisse der deutschen Stressreports (s. „Weitere Infos“), die gesellschaftlich breit geführte Burn-out-Diskussion oder Trendthemen wie Achtsamkeit und Resilienz. Weiteren Auftrieb hat das Thema auch durch die verstärkte Offenheit im Umgang mit psychischen Aspekten im Kontext der SARS-CoV-2-Pandemie und deren Folgen gewonnen, sowohl im Arbeitsumfeld als auch im privaten sozialen Gefüge.

Erfolgreiche Unternehmen anerkennen und nutzen die positive Wirkkraft von psychosozialem Wohlbefinden und psychischer Gesundheit intern zum Erhalt und zur Förderung der Leistungsfähigkeit und -bereitschaft sowie als Motor für Innovation und Kreativität der Beschäftigten. Nach außen wird diese Wirkung als maßgeblicher Faktor für Bindung und Attraktivität von Beschäftigten und damit schließlich als kritischer Faktor für den Unternehmenserfolg anerkannt (vgl. Krekel et al. 2019).

Aus Unternehmenssicht liegen für eine auch unter psychologischen Gesichtspunkten salutogene Gestaltung des Arbeitssystems sowohl ein gesetzlicher Auftrag vor als auch weitreichende Handlungskompetenz. Ziel sollte hier die systematische Integration von Aspekten, die nachweislich Relevanz für mental Well-being haben, in das Arbeitsschutzmanagementsystem, alle Geschäftsprozesse, einzelne Tätigkeiten sowie den Wertekanon von Unternehmen sein. Zusammen mit einer aktiven Förderung der Offenheit im Umgang mit psychischen Arbeitsplatzfaktoren und der Stärkung der individuellen psychischen Gesundheit ergibt das ein nachhaltiges, ganzheitliches Handlungsprogramm.

Siemens verfolgt einen solchen ganzheitlichen integrativen Ansatz und hat mental Well-being in der EHS-Strategie verankert (Environmental Protection, Health Management and Safety). Mit dem Nachhaltigkeits-Rahmenmodell DEGREE (Decarbonization, Ethics, Governance, Ressource efficiancy, Equity, Employability) setzt das Unternehmen zudem unter Employability die Förderung von Resilienz als Priorität. Gegenstand dieses integrativen Herangehens sind sowohl gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen als auch die Stärkung der Gesundheitskompetenz der Beschäftigten sowie die Wechselwirkung beider Handlungsfelder.

Konkret ist mit der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung ein flächendeckender und effektiver Prozess zum Management psychischer Belastungsfaktoren der Arbeit und zur gesundheitsförderlichen Gestaltung von Arbeitsbedingungen im Unternehmen etabliert. Parallel und komplementär werden unter dem Programmdach „Life-in-Balance“-Maßnahmen zusammengefasst, die auf den Erhalt, die Förderung und Wiederherstellung der individuellen psychischen Gesundheit der Beschäftigten abzielen. Das breite Portfolio reicht hier von Information und Bewusstseinsbildung über Führungskräftequalifizierung und „klassische“ Trainingsformate der Gesundheitsförderung bis zur Beratung bei individuellen Beanspruchungssituationen durch interne Sozialberatung in Deutschland und Employee-Assistance-Programme (EAP) in anderen Ländern.

#BreakingTheSilence – Kampagne für Offenheit und Unterstützung

Eine unternehmensinterne Analyse zeigte, dass die Nutzung der „Life-in-Balance“-Angebote hinter den Erwartungen zurückblieb, so dass diese nicht ihr volles Potenzial entfalten konnten. Die Vermutung, dass eine maßgebliche Ursache dafür die Stigmatisierung psychologischer Themen im Arbeitskontext ist, wurde durch eine wissenschaftliche Begleitstudie der Universität München gestützt (Hanisch et al. 2016). Stigma ist grundsätzlich durch drei Kernelemente gekennzeichnet:

  • Mangel an Information oder Falschinformation, hier zu psychischer Gesundheit,
  • negative, vorurteilsvolle Einstellungen und Ablehnung gegenüber Betroffenen,
  • Mangel an Unterstützungsverhalten und Ausgrenzung (➥ Abb. 1).
  • Die Folgen der Stigmatisierung sind gravierend: So erhalten, trotz des umfangreichen betrieblichen und öffentlichen Angebots an (psychosozialen) Unterstützungsleistungen, 70 % der von psychischen Störungen Betroffenen unter anderem aus Angst vor Stigmatisierung zu spät oder gar keine adäquate Therapie (Hanisch et al. 2016).

    Spezifisch für den Arbeitskontext gab es zum damaligen Zeitpunkt jedoch kaum Antistigma-Programme. Siemens hat daher unter dem Slogan #BreakingTheSilence eine Kampagne entwickelt, die auf Verbesserungen in den drei Kernelementen von Stigma abzielt. Der Kampagnenbaukasten ist in allen Landesgesellschaften des Konzerns verfügbar. Die einzelnen Module können individuell in Maßnahmenpaketen kombiniert, in bestehende Gesundheitsprogramme eingebettet oder mit bestehenden Angeboten gekoppelt werden. Mit der Kampagne werden zentrale Botschaften transportiert:

  • Jede/r kann von psychischen Problemen betroffen sein.
  • Jede/r kann aktiv etwas gegen die Stigmatisierung psychischer Störungen tun.
  • Es gibt Hoffnung – psychische Erkrankungen können bewältigt werden.
  • In der Regel gelingt das aber nur mit fachlicher Hilfe. Je früher die Inanspruchnahme, desto größer die Aussicht auf rasche Wiederkehr in ein „Leben in Balance“.
  • Das frühe und wiederholte Ansprechen von negativen Verhaltensänderungen durch Kolleginnen und Kollegen oder Führungskräfte ist eine wesentliche Hilfe für Betroffene, ihre eigene gesundheitliche Situation besser einzuschätzen.
  • #BreakingTheSilence wurde 2018 mit dem Förderpreis zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) ausgezeichnet. Seit 2022 bietet das Projekt psyGA eine „Kampagnen- und Toolbox Psychische Gesundheit im Betrieb“ an, die in Kooperation mit Siemens entstanden ist und wesentliche Elemente von #BreakingTheSilence öffentlich zugänglich macht (s. „Weitere Infos“). Drei Module des Siemens-Programms werden hier vorgestellt.

    Abb. 2:  Beispiel Medienkampagne (Quelle: Siemens)

    Foto: Siemens

    Abb. 2: Beispiel Medienkampagne (Quelle: Siemens)
    Abb. 3:  Szene aus dem gamifizierten eLearning (Quelle: Siemens)

    Abb. 3: Szene aus dem gamifizierten eLearning (Quelle: Siemens)

    Printmedien-Kampagne

    Die Printmedien-Kampagne ist mit geringem Aufwand an einem Standort beziehungsweise in einer Organisationseinheit umsetzbar (z. B. durch den Arbeitskreis Gesundheit). Es stehen dafür eine Präsentation für Entscheidungsgremien, Druckvorlagen für Poster und Flyer, Textvorschläge für Mailings sowie Projektmanagement-Material zur Verfügung. Die Kampagne erstreckt sich über 6–8 Wochen und adressiert aufeinander aufbauend alle drei Dimensionen von Stigma: Information, positiver Einstellungswandel, Abbau von diskriminierendem und Förderung von unterstützendem Verhalten gegenüber Betroffenen (➥ Abb. 2).

    In der Kampagne wird durchgängig vermittelt, dass firmenseitige Unterstützung immer nur Angebotscharakter haben kann und nur bei gegenseitiger Offenheit möglich ist. Das heißt, Beschäftigte müssen sich in der Kommunikation nicht öffnen und es wird im Programm deutlich darauf hingewiesen, dass ihre Persönlichkeitsrechte immer zu respektieren sind.

    Gamifiziertes eLearning für ­Führungskräfte

    Führungskräfte nehmen eine Schlüsselrolle bei der Prävention von psychischen Fehlbelastungen und Störungen im Arbeitskontext ein. Sie agieren als Rollenmodell für Gesundheitsverhalten, sind rechtlich verpflichtet, Arbeit gesundheitsförderlich zu gestalten, und haben eine Fürsorgepflicht für die Beschäftigten. In einer internen Befragung bestätigten die Führungskräfte sowohl die Relevanz des Themas in ihrem Berufsalltag als auch Qualifizierungsbedarf. Angesichts ihrer hohen Arbeitsbelastung wünschten sie sich jedoch knappe, fokussierte, zeiteffiziente Formate der Wissensvermittlung.

    Das im Rahmen der Kampagne entwickelte gamifizierte szenariobasierte e-Training erfüllt diese Anforderungen in hohem Maß. Die Teilnehmenden interagieren virtuell in der Rolle einer Führungskraft mit vier Beschäftigten mit unterschiedlichen psychologischen Profilen (von gesund/ausgeglichen bis Rückkehr nach längerer Episode psychischer Krankheit). Die reale Trainingsdauer beträgt 60–90 Minuten, der virtuelle Spielzeitraum erstreckt sich über 7 Wochen. Eine Wissens-Toolbox liefert auch nach dem Training praktische Informationen zu psychischer Gesundheit.

    Die zentralen Merkmale dieses Lernformats sind die Möglichkeit, zeit- und ortsunabhängig in einer geschützten Lernumgebung zu üben, die Nutzung motivationaler und interaktiver Elemente (z. B. explorative Suchaufgaben, positive Überraschungsmomente, psychologische Belohnungselemente) mit regelmäßigem fachlichem Feedback und individualisierte Spielverläufe. In den Interaktionssequenzen der Führungskraft mit den Beschäftigten kann zwischen zwei oder drei Kommunikationsalternativen gewählt werden, die alle plausibel, aber unterschiedlich zielführend im Sinn unterstützender Kommunikation sind (➥ Abb. 3). Die Reaktion der Mitarbeitenden ist abhängig von der gewählten Kommunikation der Führungskraft.

    In einer Evaluation zu drei Messzeitpunkten konnte der positive Einfluss des Trainings auf Wissen und Einstellung zu psychischer Gesundheit und Menschen mit psychischen Problemen gezeigt werden sowie der Aufbau von Fähigkeiten, mit psychischen Themen bei der Arbeit umzugehen.

    Videos „Gegen Vorurteil – für mehr ­Offenheit“

    Die persönliche Begegnung mit Menschen mit einer psychischen Erkrankung gehört zu den effektivsten Maßnahmen, um Einstellungen und Verhalten gegenüber Betroffenen positiv zu verändern. Im Rahmen von #BreakingTheSilence wurden Videos produziert, die als wirkungsvoller Ersatz für persönliche Begegnungen das Thema aus drei Perspektiven authentisch nahebringen:

  • Berichte betroffener Beschäftigter und Führungskräfte über die Bewältigung ihrer psychischen Krise oder Erkrankung, ihre Wiedereingliederung und unterstützende Faktoren im Arbeitsumfeld.
  • Austausch operativer Führungskräfte zu ihren Erfahrungen im konstruktiven Umgang mit psychischen Problemen bei Beschäftigten.
  • Einblick in den Ablauf des Beratungsprozesses der Sozialberatung beziehungsweise in EAP-Programme durch Fachexpertinnen und -experten.
  • Die Filme werden zum einen von Gesundheitsfachleuten im Rahmen von Informations- oder Trainingsveranstaltungen verwendet, in denen es Frage- und Antwortmöglichkeiten für die Teilnehmenden gibt und die Informationen zu betrieblichen Gesundheitsservices einschließen. Zum anderen sind sie Teil der globalen Unternehmenskommunikation zum Gesundheitsmanagement, zum Beispiel anlässlich des World Day for Safety and Health oder des World Mental Health Day. Die Resonanz zu allen Veröffentlichungen war, gemessen an den Klickraten der Beiträge im Intranet und der Verweildauer der Leserinnen und Leser im Vergleich zu sonstigen Themen der Unternehmenskommunikation sehr groß. Die Rückmeldungen und Kommentare zu den Beiträgen waren durchwegs äußerst wertschätzend den Beteiligten gegenüber und unterstrichen die breite Relevanz des Themas für die Beschäftigten.

    Abb. 4:  Zweistufiger Prozess der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung (Quelle: Siemens)

    Abb. 4: Zweistufiger Prozess der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung (Quelle: Siemens)
    Abb. 5:  Startbildschirm Tool psy|work|check

    Abb. 5: Startbildschirm Tool psy|work|check

    Gesunde Arbeit gestalten: die Gefährdungsbeurteilung ­psychischer Belastung

    Für die gesundheitsförderliche Gestaltung von Arbeitsbedingungen ist die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung (GbpB) zentral, da sie einerseits eine systematische Betrachtung von Stressoren der Arbeit ermöglicht und anderseits früh und effektiv Beschäftigte in den Entwicklungsprozess einbindet. Siemens hat das Präventionspotenzial der GbpB früh erkannt und bereits 2015 konzernweit die Umsetzung in einem zweistufigen und schlanken Prozess eingeführt, der in das Arbeitsschutzmanagementsystem eingebettet ist. Da es in über
    40 Ländern gesetzliche Anforderungen zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung (Psychosocial Risk Assessement) gibt und das Unternehmen das Geschäftsrisiko durch psychische Probleme von Beschäftigten aktiv minimieren will, wurde ein internationaler verwendbarer methodischer Ansatz gewählt.

    Der Prozess ist zweistufig aufgebaut (➥ Abb. 4). In Stufe 1 werden alle arbeitsplatzbezogenen Belastungsfaktoren in Form eines Screenings mit einem Fragebogen erfasst. Zeigen die Ergebnisse mögliche Fehlbelastungen auf, erfolgt in Stufe 2 eine fokussierte Betrachtung dieser Arbeitsplatzfaktoren mit Ableitung von passgenauen Maßnahmen. Den Abschluss bildet die Dokumentation des Prozesses, der Risiken und der Maßnahmen.

    Für den Einstieg in den Prozess stehen, um den unterschiedlichen Nutzungsanforderungen gerecht zu werden und die notwendige Flexibilität zu ermöglichen, verschiedene Erhebungs-Tools zur Verfügung. Zur Sicherstellung der jährlichen globalen Betrachtung der psychischen Belastungssituation sind die GbpB-Screeningfragen in die globale Mitarbeitendenbefragung der rund 300.000 Beschäftigten integriert. Über den Follow-up-Prozess der Mitarbeitendenbefragung (Ergebnisworkshop auf Teamebene) ist auch die Fokussierung und Ableitung von bedarfsgerechten Maßnahmen in Stufe 2 möglich.

    Ergänzend zu diesem turnusmäßigen, zentral gesteuerten Screening kann der Einstieg in den GbpB-Prozess auch über ein flexibel einsetzbares digitales Befragungsinstrument erfolgen. Das Tool psy|work|check (➥ Abb. 5) ist weltweit für alle Siemens-Führungskräfte verfügbar und leitet diese durch die einzelnen Prozessschritte: Es ermöglicht eine individuell auf die jeweiligen Tätigkeitstypen und Beschäftigtengruppen zugeschnittene Konfiguration. Die automatisierte Durchführung der Befragung liefert einen ausführlichen Ergebnisbericht, unterstützt bei der tätigkeitsbezogenen Interpretation der Ergebnisse, der Ableitung von Maßnahmen sowie der Durchführung von Wirksamkeitskontrollen. Im Sinne des partizipativen Charakters der GbpB erhalten alle Teilnehmenden nach Abschluss der Befragung Zugang zu den Ergebnissen (vgl. Borg et al. 2020).

    Alle verwendeten Screeningfragen basieren auf dem maßgeblichen arbeitswissenschaftlichen Forschungsstand (vgl. BAuA-Projekt, Rothe et al. 2017) und decken alle relevanten Belastungsfaktoren ab. Sie werden am Bedarf aktualisiert und durch Begleitstudien wissenschaftlich validiert.

    Neben der umfassenden Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung wurde 2020 eine Kurzform der GbpB für das Tool psy|work|check realisiert. Diese anlassbezogene Gefährdungsbeurteilung fokussiert die durch die SARS-CoV-2-Pandemie veränderten Arbeitsbedingungen und ermöglicht eine strukturierte Betrachtung relevanter psychischer Belastungsfaktoren mobiler Arbeit. Deutlich wurde hier das Potenzial der GbpB auch als Navigator in Krisensituationen. Das Verfahren erlaubt die schnelle Identifikation sowohl von Ressourcen als auch von Risiken im direkten Arbeitsumfeld und ihre Bearbeitung im Team.

    Die Inhalte und Grundlogik der GbpB ermöglicht es Teams auch, den fließenden Übergang der pandemiebedingt veränderten Arbeitsweise hin zu „New Normal“ zu gestalten. In dem Follow-up-Prozess können entscheidende Belastungsfaktoren aus der jeweiligenArbeitsorganisation und -umgebung betrachtet, gestaltet und an die neuen Bedarfe angepasst werden. Die GbpB kann so als höchst effizientes Gestaltungsinstrument für neue, gesunde und sichere Arbeitssituationen genutzt werden.

    Paradigmenwechsel zu mental ­Well-being als Erfolgsfaktor

    Offenheit im Umgang mit psychischen Themen und die systematische Integration psychologischer Aspekte in das Instrumentarium des Arbeits- und Gesundheitsschutzes sind notwendige Schritte zur Prävention psychischer Fehlbeanspruchungen im Arbeitskontext. Damit jedoch der Paradigmenwechsel in Unternehmen hin zur Anerkennung und Nutzung von mental Well-being als wertschöpfendem, salutogenem Faktor gelingt, bedarf es einer weitergehenden Integration, die im Folgenden skizziert wird.

    Nutzung der Inhalte und Systematik der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung als Instrument der Organisa­tionsentwicklung

    Arbeit 4.0 oder New Normal und digitale Transformation nehmen Einfluss auf alle Elemente des Arbeitssystems. So führt etwa künstliche Intelligenz zu neuen Qualitäten der Mensch-Maschine-Interaktion, und hybride Arbeitsformen bedingen veränderte psychische Arbeitsanforderungen und Arbeitsverdichtung. Arbeitszeiten und -orte werden flexibler. Dabei wird der Bedarf an Selbststeuerungskompetenz der einzelnen Beschäftigten weiter steigen. Diese Veränderungen treffen auch auf einen gesellschaftlichen Wandel, in dem Lebensentwürfe individueller und vielfältiger werden, klassische Rollenbilder aufweichen und sich Werte und Ansprüche an Arbeit wandeln (siehe dazu Mields u. Birner 2021).

    Dabei kommt es zu einer weitgehenden Verschmelzung „klassischer“ Themen der Arbeitsorganisation mit gesundheitlich relevanten Faktoren: Wie ist die Qualität der Information zu meiner Arbeitsaufgabe und verfüge ich über das nötige Wissen und die Fähigkeiten dafür, erhalte ich ausreichend Unterstützung in der Zusammenarbeit, stimmen Verantwortung und Handlungsspielraum überein, kann ich Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben einhalten? All das sind Aspekte, die in Form von Belastungsfaktoren schon heute in der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung eine wichtige Rolle spielen. Ihre flexible, ganz selbstverständliche und alltägliche Anwendung auf die Gestaltung von Arbeit und des Arbeitssystems stellt ein äußerst praxisgerechtes, schlankes und für alle sofort anwendbares Instrumentarium dar. Es bietet gleichzeitig die Chance, sich als lernende Organisation im Sinne der Resilienz beständig an die sich verändernde Umwelt anzupassen.

    Gesundheit und mental Well-being als zentrale und unternehmerische Kenngrößen definieren

    Die Kenngrößen im Arbeits- und Gesundheitsschutz beschränken sich häufig auf Aktivitätsstatistiken, unmittelbare Effekte von Präventions- oder Gesundheitsförderungsmaßnahmen und – fachlich umstritten – Arbeitsunfähigkeitsraten. Diese „lagging indicators“ („nachlaufende Indikatoren“) erlauben die Beschreibung des Ist-Zustands allerdings nur „rückwärtsgerichtet“ und sind damit eingeschränkt für präventive Konzeptionen nutzbar. Darüber hinaus fehlen für Programme zur psychischen Gesundheit Effektivitätsnachweise – nicht zuletzt aus Gründen des Datenschutzes – in vielen Fällen ganz.

    Wird der Wertschöpfungsbeitrag von Gesundheitsförderung im Unternehmen weitergedacht, dann wird offensichtlich, dass Kenngrößen wie Leistungsfähigkeit, Engagement, (ungewollte) Fluktuation, Innovationsfähigkeit oder Nachhaltigkeitsratings wesentlich auf der Gesundheit und dem psychosozialen Wohlbefinden der Beschäftigten basieren. Für eine reliable Einschätzung und Gestaltung von präventivem Arbeits- und Gesundheitsschutz bedarf es einer Metrik, die die klassischen Kenngrößen aus dem Arbeits- und Gesundheitsschutz mit diesen Faktoren verknüpft. So verankert Siemens schon heute im Nachhaltigkeits-Rahmenmodell DEGREE unter „Employability“ die Sicherstellung des Zugangs aller Beschäftigten zu Employee-Assistance-Programmen (Sozialberatung) bis 2025. Damit wird zusätzlich zu der gesunden Gestaltung der Arbeitsbedingungen ein wichtiges individuell wirksames Unterstützungsangebot gemacht, die Belegschaft zu befähigen, resilient und relevant in einem sich ständig verändernden Umfeld zu bleiben.

    Das psychische Wohlbefinden der Beschäftigten, etwa in Form von Psychological Safety und im Rahmen der Employee Experience, schlägt sich in weiterer Konsequenz auch in der Attraktivität des Unternehmens und seiner Wettbewerbsfähigkeit nieder, als notwendige Voraussetzung für den Unternehmenserfolg. Gesundheitsmanagement allgemein und Programme zur psychischen Gesundheit im Besonderen rücken damit aus einer betrieblichen Nische in das zentrale Blickfeld der Unternehmensführung. Die ganzheitliche Berücksichtigung von Gesundheitsaspekten wird damit zum Bestandteil von täglichem Führungshandeln. So sind beispielsweise alle Veränderungen im Arbeitssystem selbstverständlich hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf psychologische Sicherheit und Gesundheit zu prüfen und zu optimieren.

    Damit einher geht auch eine Neuausrichtung des „Gesundheitsnarrativs“ in Unternehmen. Gesundheitskommunikation ist traditionell und – verschärft durch die Pandemiemaßnahmen der letzten Jahre – gekennzeichnet durch einen Fokus auf Krankheit beziehungsweise gesundheitliche Störungen und ihre Vorbeugung. Durch einen stärker strategischen Stellenwert und eine größere Offenheit kann zukünftig durchgängig positiv, arbeitsplatznah und lösungsorientiert über Gesundheit, psychosoziales Wohlbefinden, psychologische Sicherheit oder Sinnstiftung durch Arbeit kommuniziert werden.

    Gut gestaltete Arbeit als salutogenen Faktor im Unternehmen und
    gesellschaftlich verankern

    In Anlehnung an die Definition psychischer Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) schöpfen Menschen in einem Zustand psychischen Wohlbefindens ihre Fähigkeiten voll aus, können die normalen Lebensbelastungen und Veränderungen bewältigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zu ihrer Gemeinschaft leisten. Das bedeutet, dass psychisches Wohlbefinden eine ständige Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der Umwelt erfordert und kein statischer Zustand ist, sondern sich auf einem Kontinuum bewegt. Diese kontinuierliche erfolgreiche Auseinandersetzung wird in dem Konzept der individuellen Resilienz als sich entwickelnde Fähigkeit aufgegriffen. Arbeit spielt in diesem Zusammenhang als maßgeblicher gesundheitsförderlicher oder salutogener Faktor eine zentrale Rolle. Denn Arbeit dient nicht nur der Sicherung des Lebensunterhalts, sondern gibt Struktur und Planungssicherheit, vermittelt Identität, sozialen Status, Anerkennung und Teilhabe, bietet Entwicklungsmöglichkeiten und sichert Anerkennung und Kontakt in der Gemeinschaft.

    Fazit

    Mental Well-being ist mehr als eine individuelle Angelegenheit oder die Vermeidung von psychischen Erkrankungen, sondern kritischer Faktor für den Unternehmenserfolg. Wissenschaftlich ist der Zusammenhang zwischen gut gestalteter Arbeit und individueller Leistungs- und Beschäftigungsfähigkeit – dies betrifft sowohl die Arbeitsorganisation (Prozesse und Strukturen), die Arbeitsaufgaben, die Arbeitsumgebung als auch die Formen der Zusammenarbeit – und darüber hinaus der Einfluss auf die Wertschöpfung von Unternehmen lange nachgewiesen. Denn Arbeitsbedingungen und Leistungsfähigkeit beeinflussen sich wechselseitig: Die Arbeitsbedingungen formen das Verhalten, die Wahrnehmung, die Gefühle sowie die Werte der Menschen und umgekehrt. Der sich anbahnende Paradigmenwechsel durch eine Öffnung für alle Facetten „Psyche“ und der Wandel zu einem positiven Narrativ im Sinne von Well-being in Unternehmen bietet dabei eine große Chance.

    Denn letztlich geht es darum, Arbeit so zu gestalten, dass Menschen sich sicher, gesund und wohl fühlen, damit sie ihr volles Potenzial entfalten können, auch in herausfordernden Zeiten. Das Wissen und das Instrumentarium liegen vor, es muss „nur“ als selbstverständlicher Teil von Arbeit verstanden und systematisch im Unternehmen eingesetzt werden.

    Interessenkonflikt: Die Erstautorin und ihre Koaturen sind bei der Siemens AG beschäftigt. Weitere Interessenkonflikte liegen nicht vor.

    Literatur

    Birner U: #BreakingTheSilence – psychische Gesundheit bei der Arbeit: Impulse für Offenheit und Unterstützung setzen. In: Knieps F, Pfaff H (Hrsg.): BKK Gesundheitsreport 2019. Berlin: MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 2019, S. 436–444.

    Borg A, Birner U, Weigl M, Wittenborn B: Digitales Screening-Tool zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung. In: Trimpop R et al. (Hrsg.): Psychologie der Arbeitssicherheit und Gesundheit. Kröning: Asanger Verlag, 2020, S. 323–330.

    Franke R, Birner U: Psychische Gesundheit bei der Arbeit – Offenheit statt Stigma. Sicherheitsingenieur 2020; 12: 8–13.

    Hanisch S et al.: The effectiveness of interventions
    targeting the stigma of mental illness at the workplace: a systematic review. BMC Psychiatry. 2016; 16 (1).

    Jacobi F, Höfler M, Strehle J: Psychische Störungen
    in der Allgemeinbevölkerung. Nervenarzt 2014; 85: 77–87.

    Krekel C, Ward G, De Neve J-E: Employee Wellbeing,
    Productivity and Firm Performance. CEP Discussion Paper No. 1605. London: Center for Economic performance, 2019.

    Mields J, Birner U: Culture of Prevention and Digital Change. Five Theses on Work Design. In: Bollmann U Boustras G (Hrsg.): Safety and Health Competence:
    A Guide for Cultures of Prevention. Boca Raton: Taylor and Francis Group, 2021.

    Rothe I et al.: Psychische Gesundheit in der Arbeits-
    welt – Wissenschaftliche Standortbestimmung. 1. Auflage. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2017.

    doi:10.17147/asu-1-198091

    Weitere Infos

    Psychische Gesundheit in Betrieben: Die psyGA-Kampagnen- und Toolbox
    https://www.psyga.info/

    Deutscher Stressreport 2019
    https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Berichte/Stressreport-201…

    Kernaussagen

  • Offenheit und Endtabuisierung von psychischen Themen sowie die systematische Integration in das Instrumentarium des Arbeitsschutzmanagements sind Meilensteine für präventiven Gesundheitsschutz im Unternehmen.
  • Mental Well-being wirkt positiv nach innen auf Leistungsfähigkeit und Innovationskraft sowie nach außen auf die Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität des Unternehmens.
  • Ein positives Gesundheitsnarrativ in Unternehmen stützt wesentlich die selbstverständliche Integration von mental Well-being in das alltägliche organisationale Handeln.
  • Koautoren

    Dr. Ralf Franke
    Head of Environmental Protection, Health Management and Safety (EHS), Siemens AG, München
    franke.ralf@siemens.com

    Dr. Ulrich Birner
    Enviromental Portection, Health and Safety (EHS), Siemens AG München
    ulrich.birner@siemens.com

    Kontakt

    Dipl.-Psych. Anna Borg
    Head of Psychosocial Health and Well-being, EHS Siemens AG; Otto-Hahn-Ring 6; 81739 München

    Foto: privat

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