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It is Safer to Speak Up – Employee Silence as an Occupational Safety Topic
Von Schweigen (engl. employee silence oder organizational silence) wird in der Arbeits- und Organisationsforschung dann gesprochen, wenn Mitarbeitende Meinungen, Fragen, Bedenken, Ideen und Ähnliches zurückhalten beziehungsweise nicht gegenüber jemandem äußern, der oder die etwas an der Sache ändern könnte (Morrison 2023). Dass Schweigen und vor allem das Überwinden von Schweigen bedeutsam für die Arbeitssicherheit sind, liegt nicht unbedingt auf der Hand. Arbeitssicherheit soll arbeitende Menschen schützen – symbolisiert etwa durch Helm, Atem- und Gehörschutz, Schutzbrille und Schutzbekleidung, oder Schutzeinrichtungen. Das Schweigen zu überwinden erfordert dagegen häufig, sich verletzlich zu machen. Arbeitssicherheit zielt auch darauf ab, etwas zu unterlassen und Grenzen nicht zu übertreten – beispielsweise dargestellt durch ein durchkreuztes Chemikaliensymbol oder die abwehrende Handfläche. Das Schweigen zu überwinden erfordert jedoch gerade, etwas nicht zu unterlassen und mitunter Grenzen zu übertreten. Das Schweigen zu überwinden ist zudem nichts, was Arbeitende allein tun können (wie z. B. Gehörschutz tragen oder sich von Gefahrenquellen fernzuhalten), sondern es handelt sich um einen sozialen Prozess, der andere (Kolleginnen/Kollegen, hierarchisch Vorgesetzte oder Unterstellte) einbezieht.
Damit ist das Überwinden von Schweigen Teil derjenigen Bestrebungen der Arbeitssicherheit, die sich mit Organisationen als soziotechnische Systeme befassen, in denen durch die koordinierte Einflussnahme auf psychologische, soziale, technische und organisationale Prozesse Sicherheit hergestellt werden soll. Es geht in diesem Beitrag deshalb auch nicht nur darum, warum ein einzelner Mitarbeiter oder eine einzelne Mitarbeiterin sicherheitsrelevante Themen nicht anspricht, sondern auch darum, wie Rahmenbedingungen Schweigen fördern oder zumindest nicht unterbinden. Wir stützen uns dabei auf bestehende Forschung (Knoll 2023; Morrison 2023; Noort et al. 2019) und ausgewählte Erkenntnisse aus dem von der Swedish Agency for Work Environment Expertise geförderten Projekt „Kulturen des Schweigens“.
Sicherheit und Schweigen bedingen sich gegenseitig
Sicherheit und Schweigen sind wechselseitig aufeinander bezogen. Zum einen kann Schweigen Sicherheit gefährden. Forschung hat in diversen Bereichen (z. B. im Flugverkehr, beim Betrieb technischer Anlagen, im Krankenhaus) gezeigt, dass, wenn Mitarbeitende (potenzielle) Fehler, Gefahrenquellen oder sicherheitswidriges Verhalten anderer erkennen und diese nicht ansprechen, vermeidbare Unfälle folgen und Menschen physisch zu Schaden kommen können (Noort et al. 2019). Im Projekt „Kulturen des Schweigens“ wird der Sicherheitsbegriff breiter gefasst und auch die psychische und soziale Sicherheit betrachtet. Beispielsweise wird untersucht, wie Schweigen dazu beiträgt, dass unethisches Verhalten (z. B. Missbrauch, Belästigung, Mobbing) nicht unterbunden (und zuweilen ermutigt) wird und sowohl Opfer dieser unethischen Handlungen schädigt als auch das Sicherheitsgefühl derer beeinträchtigt, die solches Verhalten beobachten und in entsprechend toxischen Umgebungen arbeiten müssen. Andererseits ist Sicherheit eine wichtige Voraussetzung dafür, Schweigen zu überwinden. Fehlende psychologische Sicherheit (also das Gefühl, sich frei äußern und Risiken eingehen zu können, ohne dass man dafür bestraft wird; Edmondson 2018) ist ein wichtiger Prädiktor von Schweigen in Organisationen. Wie das Projekt zu Kulturen des Schweigens gezeigt hat, ist es jedoch nicht damit getan, (psychologische) Sicherheit herzustellen, um das Schweigen zu überwinden.
Warum Mitarbeitende schweigen
Angst. Psychologische Sicherheit herzustellen, dient in erster Linie dazu, Angst zu nehmen. Mitarbeitende sprechen kritische Themen nicht an, weil sie negative Konsequenzen (z. B. ihrer Karriere zu schaden oder gar ihren Arbeitsplatz zu verlieren) fürchten, sie nicht als Querulant/in gelten wollen und/oder generell die Befürchtung haben, dass diejenigen negativ reagieren, die für die kritisierte Situation verantwortlich sind (z. B. die Vernachlässigung von Sicherheitsvorschriften oder das Zulassen von Bullying/Mobbing in der Abteilung). Wird es versäumt, psychologische Sicherheit (z. B. im Team, in der Vorgesetzten-Mitarbeitenden-Beziehung), herzustellen, erscheint es sicherer zu schweigen.
Frustration. Mitarbeitende schweigen, wenn sie den Eindruck haben, kein offenes Ohr zu finden für Ideen und Bedenken oder der Meinung sind, dass sich sowieso nichts ändert. Hier wird bereits deutlich, dass das Herstellen (passiver) Sicherheit nicht genügt, um das Schweigen zu überwinden. Die Mitarbeitenden müssen den Eindruck haben, dass es einen Unterschied macht, wenn sie nicht schweigen. Analysen der Challenger-Katastrophe (Moorhead et al. 1991) haben beispielsweise gezeigt, dass Mitarbeitende, die Bedenken hinsichtlich Materialfehler äußerten, irgendwann an einen Punkt kamen, wo sie weiteres Ansprechen als sinnlos empfanden. Wichtige Informationen wurden dementsprechend im Entscheidungsprozess vernachlässigt.
Andere schützen. Mitarbeitende wissen, dass es andere (z. B. Kolleginnen und Kollegen, hierarchisch Vorgesetzte oder Unterstellte) bloßstellen würde, wenn sie auf Probleme in deren Arbeitsweise (z. B. sicherheitsbedenkliche „Abkürzungen“ nehmen) oder Umgangsformen (z. B. diskriminierendes oder unsoziales Verhalten) oder anderweitig sicherheitsrelevante Charakteristika (z. B. ein Alkoholproblem) hinweisen. Sie schweigen dann, um anderen (und sich selbst) diese unangenehme Situation zu ersparen.
Opportunismus. Neben dem Schutz anderer kann Schweigen auch dazu dienen, eigene Ressourcen zu schützen. Mitarbeitende schweigen etwa, um zusätzlichen Aufwand zu vermeiden, der aus dem Ansprechen kritischer Themen oder dem Einbringen von Ideen erwachsen könnte. Dieser Aufwand könnte aus Dokumentationspflichten bestehen oder aus Maßnahmen, um die Situation zu verändern. Mitunter wollen Mitarbeitende auch einfach nicht in bestimmte Themen hineingezogen werden. Dieses opportunistische Schweigen kann an mangelndem Engagement liegen, es kann aber auch daraus folgen, dass sie bereits an der Belastungsgrenze arbeiten und keine „zusätzlichen Baustellen aufmachen“ wollen. Opportunistisches Schweigen kann auch zum Ziel haben, anderen zu schaden oder sich des Einflusses anderer zu erwehren. Letzteres wurde im medizinischen Kontext gezeigt, wo Ärztinnen und Ärzte Reporting-Systeme als Versuch ansehen, durch Management-Praktiken ihre Autonomie weiter einzuschränken und zusätzlichen administrativen Aufwand zu erzeugen (Waring 2005).
Ein Image aufrechterhalten. Forschung in der Wissenschafts-, Medizin- und Polizeikultur zeigt, dass, um dem Image und Status der eigenen Profession nicht zu schaden, Fehler und Fehlverhalten nicht thematisiert werden – zum Schaden derer, denen Wissenschaft, Polizei und Medizin eigentlich verpflichtet sind. Da es für die Legitimation ihrer jeweiligen Berufe notwendig ist, dass Forschende integer, Ärztinnen und Ärzte fehlerfrei und Polizeikräfte dem Gesetz entsprechend handeln, ist es durchaus funktional, dass Fehler der genannten Personengruppen verschwiegen werden.
Weitere Gründe. Es lässt sich in der Literatur noch eine Reihe weiterer Gründe dafür ausmachen, das sicherheitsrelevante Themen nicht angesprochen werden. Dazu zählen unter anderem Unsicherheit über einen Sachverhalt (z. B. Hat der Kollege ein Alkoholproblem?) und die eigene Zuständigkeit (Bewegt man sich durch das Ansprechen außerhalb der eigenen Rollenbefugnisse?), Scham (z. B. den eigenen Fehler zuzugeben), Selbsttäuschung (z. B. sich nicht eingestehen, dass man der Arbeitsbelastung nicht (mehr) gewachsen ist) und die Ansicht, dass Fehler oder Risiken ohnehin zum Beruf gehören und ein Ansprechen einzelner Fehler oder Risiken sinnlos ist. Wenn das Schweigen als Sicherheitsrisiko überwunden werden soll, ist es wichtig zu wissen, dass die Gründe für Schweigen vielfältig sein können und die spezifisch relevanten psychologischen Prozesse angesprochen werden müssen, um das Schweigen zu überwinden.
Wann ansetzen?
Es ist weiterhin wichtig zu verstehen, dass Ansprechen oder Verschweigen sicherheitsrelevanter Themen keine isolierte Entscheidung darstellt, sondern Teil eines Prozesses ist. Dieser Prozess, wie in ➥ Abb. 1 zu sehen ist, beginnt lange vor dem eigentlichen Akt des Handelns und endet nicht damit.
Nachdem ein Umweltreiz (z. B. ein technisches Problem, Fehlverhalten von Mitarbeitenden) wahrgenommen wurde, der potenziell sicherheitsrelevant ist, durchlaufen Mitarbeitende mehrere Phasen, in denen Barrieren das Ansprechen verhindern können. Hört zum Beispiel ein Mitarbeiter eine diskriminierende Bemerkung einer Kollegin (Hinweisreiz), wird er entscheiden, ob das Ansprechen dieses sicherheitsrelevanten Ereignisses (z. B. relevant für die psychologische Sicherheit der diskriminierten Person, relevant für die sozialer Sicherheit innerhalb der Arbeitsgruppe) eine Option darstellt (Interpretationsphase). In einer (Team-, Organisations- oder Berufs-) Kultur, in der Diskriminierung nicht klar definiert ist und in der Vorgesetzte entsprechendes Verhalten tolerieren, bestehen stärkere Barrieren (z. B. Unsicherheit, Angst) für das Ansprechen. Erscheint das Ansprechen als Option, wird der Mitarbeiter die wahrscheinlichen Konsequenzen der Handlungsoptionen abwägen (Phase der Beurteilung und Intentionsbildung). Hier spielen Kosten-Nutzen-Überlegungen eine Rolle, persönliche Werte und Normen des Umfelds. Besondere Bedeutung im Kontext der Arbeitssicherheit haben zudem die Charakteristika des Sachverhalts, zum Beispiel wie stark die Schädigung sein würde, wie schnell die Schädigung eintreten könnte, wie eindeutig die Gefährdung ist und ob der/die Schweigende Verantwortung für die Identifikation der Gefährdung trägt, zudem wer die leidtragende Person wäre (innerhalb und außerhalb der Organisation; Noort et al. 2019). Ob die Entscheidung für oder gegen das Ansprechen umgesetzt wird (Implementierungsphase), hängt dann vom Grad der Motivation ab (also wie wichtig die Ausführung des Verhaltens ist) und von Umgebungsfaktoren (z. B. ob Kanäle zum Ansprechen zur Verfügung stehen und als wie brauchbar diese eingeschätzt werden). Letztlich wird der Mitarbeiter genau beobachten, welche Reaktion auf sein Verhalten folgt (Phase der Bewertung der Konsequenzen) und diese Konsequenzen in zukünftigen Prozessen berücksichtigen.
Wo ansetzen?
Wenn es darum geht, Teams oder Organisationen so einzurichten, dass sicherheitsrelevante Themen angesprochen werden, fokussieren Interventionsvorschläge (z. B. individuelle Trainings, das Einrichten von Reporting-Instrumenten) im Allgemeinen auf die Person(en), die sicherheitsrelevante Themen ansprechen soll(en). Forschung aus dem Gesundheitssektor, dem Management von IT-Projekten und zu Schweigen im Rahmen sexueller Belästigung legt jedoch nahe, dass dieser Fokus zu eng ist (Hershcovis et al. 2021; Jones u. Kelly 2014). Wie in ➥ Abb. 2 dargestellt, gilt es neben den schweigenden Mitarbeitenden noch zwei weitere Faktoren zu beachten.
Es gilt zu berücksichtigen, dass zum Schweigen in Teams oder Organisationen auch jene beitragen, die andere am Ansprechen hindern oder sie entmutigen. Dies können Kolleginnen und Kollegen, Vorgesetzte oder externe Stakeholder sein. Analysen von Unfällen und Fehlentwicklungen (z. B. dem Challenger-Desaster, Beinahe-Katastrophen infolge von Mängeln bei Boeing, Mängel in der Patientensicherheit im britischen Gesundheitssystem; Jones u. Kelley 2014; Moorhead et al. 1991) zeigen zudem, dass durchaus Einzelne auf Unregelmäßigkeiten oder Auffälligkeiten hingewiesen haben, die letztlich zu Unfällen und Gefährdungen führten. Diese Hinweise stießen jedoch auf „taube Ohren“, wurden ignoriert oder aktiv unterdrückt.
Fazit
In diesem Beitrag ging es darum, für die Bedeutung von Schweigen im Rahmen der Gestaltung sicherer Arbeitsplätze zu sensibilisieren. Halten Mitarbeitende Bedenken zurück oder sprechen Beobachtungen nicht an, können vermeidbare Unfälle nicht verhindert werden und Lernen aus Fehlern wird behindert. Wichtig ist auch aufzuzeigen, dass die Motive für das Verschweigen sicherheitsrelevanter Themen vielfältig sein können und sich nicht auf Furcht beschränken. Diese Motive gilt es zu identifizieren und gezielt zu entkräften. Weiterhin wurde deutlich gemacht, dass Schweigen in einen sozialen Prozess eingebettet ist, in dessen Phasen Barrieren überwunden werden müssen, damit sicherheitsrelevante Themen auf den Tisch kommen. Versuche, eine Kultur des Schweigens zu überwinden und sichere Arbeitsumgebungen herzustellen, müssen also auf drei Faktoren einwirken– Schweigen, das Unterdrücken und Entmutigen des Ansprechens und die Taubheit derer, die etwas verändern könnten.
Interesssenkonflikt: Das Autorenteam gibt an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.