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Berufliches Stehen – „Gehen“ als Entlastungsfaktor

Problematik der Steharbeit im Industrie- und Dienstleistungsbereich

Bei Arbeitsplätzen im Industrie- oder Dienst­leistungsbereich zeigt sich häufig ein ähnliches Bild: Beschäftigte verrichten ihre Tätigkeit im Stehen. Berufliche Steharbeit ist nach wie vor weit verbreitet. Erwerbstätigenbefragungen zeigen, dass etwa jede/jeder zweite Beschäftigte in Deutschland den Großteil der Arbeitszeit im Stehen verbringt (Lück et al. 2019). Dies führt nicht selten zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen wie Venenleiden oder Muskel-Skelett-Beschwerden, die mitunter auch irreversibel sein können (Halim u. Omar 2011).

Einige Tätigkeiten können aufgrund ihres Arbeitsinhalts und der Arbeitsbedingungen nur stehend ausgeführt werden. Aber wie sollten neue oder auch bestehende Steharbeitsplätze gestaltet werden, um den Beschäftigten ein möglichst angenehmes und gesundheitsrisikoarmes Arbeiten zu ermöglichen? Eine Unterbrechung des Stehens zum Beispiel durch Gehen ist sinnvoll. Aber wie häufig sollte gewechselt werden und welche Art der Bewegung ist empfehlenswert?

Aktuelle Empfehlungen für die Arbeit in stehender Körperhaltung

Der Länderausschuss für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik (LASI) liefert mit seiner Broschüre LV 50 „Bewegungsergonomische Gestaltung von andauernder Steharbeit“ eine Handlungsanleitung und Empfehlungen zur Beurteilung der Arbeitsbedingungen (Berger et al. 2009). Nach ihr ist „andauernde Steharbeit […] Arbeit in der Körperhaltung Stehen, die ohne die Möglichkeit, sich wenige 20 cm zur Seite, nach vorn, nach hinten zu bewegen oder ohne zeitweilige Entlastung durch Gehen oder Sitzen zur Zwangshaltung wird“ (Berger et al. 2009, S. 14). Eine Stehbelastung wird hier in vier verschiedene Risikobereiche eingestuft, abhängig vom vorliegenden Verhältnis von „Sitzen zu Stehen zu Gehen“ (➥ Abb. 1). So sieht die Norm bei einer geringen Stehbelastung – bis zu 2,5 Stunden pro Arbeitstag – im Risikobereich 1 ein Verhältnis von 60:30:1 für Sitzen:Stehen:Gehen vor. Sie empfiehlt einen regelmäßigen Wechsel, der allerdings darüber hinaus nicht näher beziffert ist.

Als Folge von andauernder beziehungsweise statischer Steharbeit wird in der Wissenschaft häufig muskuläre Ermüdung genannt (Carayon 2006). Die LV 50 definiert hierzu, dass „wie bei allen statischen Haltungen […] die ‚Dauer ohne Entlastung‘ das Kriterium für Beschwerden bzw. gesundheitliche Auswirkungen“ ist (Berger et al. 2009, S. 14), das heißt muskuläre Ermüdung. Es bleiben allerdings unter anderem die Fragen offen, welche Art von Entlastung hierbei gemeint ist und welche Art von Bewegung mit den physiologischen menschlichen Bedürfnissen vereinbar ist.

In den letzten Jahren wird die Integration von „Gehen“ als Entlastungsfaktor bei statischem Stehen verstärkt thematisiert, wobei auch hier die Dauer ohne Entlastung als entscheidendes Kriterium im Vordergrund steht. Demgegenüber kann in einer 2020 durchgeführten und im Folgenden vorgestellten Studie gezeigt werden, dass die Art der Bewegung, das heißt die Art des „Gehens“ (Dynamik) einen großen Einfluss auf mögliche gesundheitliche Beschwerden hat (vgl. Rücker et al. 2021).

Aktuelle Studie zur Integration von gehenden Elementen bei statischer Steharbeit

Methoden

Die Studie an der Hochschule München in Kooperation mit der TU München untersucht das Auftreten von muskulärer Ermüdung in den unteren Extremitäten, das Anschwellen der Unterschenkel sowie das subjektive Empfinden bei statischer Steharbeit in Kombination mit variierenden Geh­anteilen. Warum werden diese Parameter betrachtet und was bedeuten sie?

Muskuläre Ermüdung ist die abnehmende Fähigkeit zur Erzeugung einer bestimmten Muskelkraft aufgrund einer spezifischen gewünschten Anstrengung. Problematisch bei statischer Steharbeit sind die mangelnden wechselnden Kontraktionen der Muskulatur, wodurch eine eingeschränkte Versorgung der Muskulatur vor dem Hintergrund des tatsächlichen Durchblutungsbedarfs entstehen kann. Einer Verkrampfung beziehungsweise schmerzhaften Muskelverhärtung kann durch mehr Bewegung und somit durch Aktivierung der sogenannten Muskelpumpe entgegengewirkt und eine vorzeitige Ermüdung vermieden werden. Analysiert wird die Muskelaktivität mittels Oberflächen-Elektromyographie (OEMG), das heißt auf der Hautoberfläche aufgebrachter Elektroden. Sie zeichnen kontinuierlich Werte auf – hier für drei Muskeln des Unterschenkels (Mm. gastrocnemius medialis/lateralis, M. tibialis anterior).

Die sogenannte Muskelpumpe der Beine transportiert unter anderem Blut im Kreislauf zurück zum Herzen. Wird diese Pumpwirkung durch statisches Stehen geschwächt, führt dies zu einem Anschwellen der Unterschenkel. Dieser Parameter wird mittels Wasserplethysmographie (WP) analysiert, indem der Unterschenkel der Testpersonen in eine Apparatur getaucht und das verdrängte Wasser gewogen wird.

Neben objektiven Parametern ist das Wohlbefinden der Testpersonen während der Verrichtung ihrer Tätigkeit ein wichtiger Faktor, der mittels strukturiertem Fragebogen zur Beschwerdeintensität und -lokalisation abgefragt wird.

Studiendesign

Untersucht werden in der Studie mit elf Testpersonen zwei verschiedene Szenarien. Die Tätigkeiten umfassen jeweils 2,5 Stunden Steharbeit (vgl. LV 50, Risikobereich 1) mit integrierten Gehanteilen und werden in 90-Sekunden-Zeitfenstern getaktet. Die Zykluszeit (90 s) wird in Anlehnung an reale Situationen in der Industrie bewusst gewählt. Die Taktung im Versuch wird kontrolliert und kann genau eingehalten werden. Während in Szenario S1 der Anteil des Gehens nur bei 3 % liegt, ist dieser in Szenario S2 mit 30 % deutlich höher. In Szenario S1 wird stehend für 87 Sekunden an einem Arbeitsplatz gearbeitet und anschließend mit drei Schritten (drei Sekunden) – meist als „schlurfender“ Gang – zum Nachbararbeitsplatz gewechselt. In Szenario S2 wird dagegen lediglich 63 Sekunden in reiner Steharbeit gearbeitet und anschließend für 27 Sekunden auf einem Laufband gegangen (➥ Abb. 2). Die Aufzeichnung der Muskelaktivität mittels OEMG erfolgt kontinuierlich, während das Volumen des Unterschenkels jeweils zu Beginn und am Ende des Versuchs gemessen wird. Das subjektive Empfinden wird alle
15 Minuten abgefragt.

Abb. 2:  Studiendesign mit zwei Szenarien (S1, S2) zu statischer Steharbeit mit variierenden Gehanteilen (nach Rücker et al. 2021)

Abb. 2: Studiendesign mit zwei Szenarien (S1, S2) zu statischer Steharbeit mit variierenden
Gehanteilen (nach Rücker et al. 2021)

Ergebnisse

Die Auswertung der Daten zur Muskel­aktivität hinsichtlich muskulärer Ermüdung erfolgt mithilfe einer spezifischen Weiterentwicklung der sogenannten JASA-Methode (Joint Analysis of Spectrum and Amplitude) nach Luttmann et al. (1996; vgl. Rücker et al. 2021). Für die Mm. gastrocnemius medialis und tibialis anterior besteht eine Tendenz, dass sich im Mittel für Szenario S1 (drei Sekunden Gehen) höhere Ermüdungskomponenten einstellen als für Szenario S2
(27 Sekunden Gehen). Detailliert kann gezeigt werden, wie sich die Muskelaktivität und damit die Aktivität der sogenannten Muskelpumpe im Unterschenkel je Szenario unterscheidet. Dabei sind die dynamischen Anteile der Muskelaktivität je nach Muskel für Szenario S2 signifikant um 33–55 % höher als bei Szenario S1 (➥ Abb. 3).

Auch die Volumenveränderungen des Unterschenkels weisen zwischen beiden Szenarien einen signifikant unterschiedlichen Anstieg auf. Während die Zunahme bei S1 durchschnittlich 3,19 % beträgt, liegt diese bei S2 lediglich bei 1,15 %. Bei der Abfrage des subjektiven Empfindens zeigen zwei Parameter signifikante Unterschiede zwischen S1 und S2. „Beschwerden im Unterschenkel“ und das „Bedürfnis sich zu bewegen“ werden für S1 mit wenig Bewegungsmöglichkeiten früher und stärker eingestuft als für S2 mit mehr Bewegung.

Diskussion

Die kombinierte Betrachtung der Ergebnisse der Studie zeigt konsistente Ergebnisse. Bei Szenario S2 mit mehr Bewegung sind die dynamischen Anteile höher, dagegen sind die Volumenzunahme des Unterschenkels und die „Beschwerden im Unterschenkel“ beziehungsweise das „Bedürfnis sich zu bewegen“ geringer als bei Szenario S1. In Bezug auf das Auftreten muskulärer Ermüdung möchte das Autorenteam der vorgestellten Studie dagegen im Ergebnis lediglich eine tendenziell höhere Ermüdung in S1 gegenüber S2 ableiten. Das ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Daten im Zeitverlauf eine große Bandbreite aufweisen. Szenario S2 stellt im Ergebnis gegenüber S1 die physiologisch günstigere Arbeitsbedingung dar. Laut ähnlichen Studien zur Steharbeit ist dieses grundsätzliche Ergebnis zur muskulären Ermüdung nicht überraschend, denn es zeigen sich je nach Studiendesign unterschiedliche Ergebnisse. Während Wall et al. (2020) reines statisches Stehen und reines Gehen über mehrere Stunden vergleichen und nach 110 Minuten keine beziehungsweise geringe Anzeichen für muskuläre Ermüdung feststellen, tritt bei Balasubramanian et al. (2009) bereits nach 60 Minuten Versuchszeit Ermüdung auf. Er untersucht statisches Stehen im Vergleich zu Stehen mit einem Wechsel zwischen mehreren Arbeitsplätzen, wobei die Art der Gehbewegung nicht ausreichend dargestellt und somit leider ein direkter Vergleich erschwert wird.

Da alle anderen untersuchten Parameter eindeutig das Szenario mit weniger Bewegung als ungünstiger einstufen, stellt sich die Frage, ob die Betrachtung der Muskelermüdung die – ihr in der Literatur zugewiesene – dominante Rolle zur Beurteilung solcher Szenarien spielt. Die LV 50 beschreibt zwar auch physiologische Aspekte wie verminderte Durchblutung als Folge des andauernden Stehens, nennt als ausschlaggebendes Kriterium für das Auftreten von Beschwerden aber dennoch nur die Dauer ohne Entlastung (Berger et al. 2009). Auch die Leitmerkmalmethode (BAuA 2019) stuft statisches Stehen lediglich nach dessen Dauer ein.

Bei noch genauerer Betrachtung der LV 50 fällt eine weitere Definition auf, die vor allem auch in der praktischen Umsetzung zu Fehl­interpretationen und -entscheidungen führen kann. Denn hier wird definiert: „Stehen mit der Möglichkeit sich frei zu bewegen, fällt nicht unter andauernde Steharbeit“ (Berger et al. 2009, S. 14). Fallen die beiden Szenarien S1 und S2 damit überhaupt unter andauernde Steharbeit, denn Bewegung (über wenige 20 cm hinaus) ist gegeben? Müssten diese dann nicht frei von Beschwerden sein? Die Ergebnisse der Studie verneinen dies jedoch eindeutig.

Zusammenfassend lässt sich zeigen, dass eine höhere Muskelaktivität (vgl. statische und dynamische Anteile bei der OEMG-Messung) bei den Gehanteilen sehr wirksam ist, um Beanspruchungen zu reduzieren und somit das Arbeiten angenehmer zu gestalten. Das heißt, die Aktivierung der sogenannten Muskelpumpe ist entscheidend. Die Art des Gehens („echtes“ Gehen vs. „schlurfender Gang“) ist dabei ein maßgeblicher Faktor. Den in der betrieblichen Praxis Arbeitenden wird empfohlen, einen Schritt zur Seite nicht als „echten“ Gehanteil zu missdeuten und stattdessen zu erkennen, dass Gehen eine sehr positive Wirkung auf den Organismus bei Steharbeit haben kann. Es wird abschließend dringend angeraten, die bestehenden Spezifikationen zumindest stärker auf die Dynamik und somit auf die Art der Bewegung auszurichten, um Steharbeit besser mit den physiologischen Eigenschaften und menschlichen Bedürfnissen zu vereinbaren.

Interessenkonflikt: Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.

Literatur

Balasubramanian V, Adalarasu K, Regulapati R: Comparing dynamic and stationary standing postures in an assembly task. In: Int J Ind Ergon 2009; 39: 649–654.

Berger H, Caffier G, Schultz K, Trippler D: Bewegungsergonomische Gestaltung von andauernder Steharbeit (LV 50). Potsdam: Länderausschuss für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik LASI, 2009.

Carayon P: Handbook of Human Factors and Ergonomics in Health Care and Patient Safety. Boca Raton: CRC Press, 2006.

Luttmann A, Jäger M, Sökeland J und Laurig W: Electromyographical study on surgeons in urology II. Determination of muscular fatigue. Ergonomics 1996; 39: 298–313.

Lück M, Hünefeld L, Brenscheidt S, Bödefeld M, Hünefeld A: Grundauswertung der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018. Vergleich zur Grundauswertung 2006 und 2012. Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2019.

Rücker L, Brombach J, Bengler K: Experimental study of standing and walking at work − What is compatible with physiological characteristics and human needs. ZArbwiss, 2021.

Wall R, Garcia G, Läubli T, Seibt R, Rieger MA, Martin B, Steinhilber B: Physiological changes during prolonged standing and walking considering age, gender and standing work experience. Ergonomics 2020; 63: 579–592.

doi:10.17147/asu-1-225893

Abb. 3:  Darstellung der Mittelwerte der statischen und dynamischen Phasen für drei Muskeln (Mm. gastrocnemius medialis/lateralis, M. tibialis anterior) für S1 (links) und S2 (rechts) (Rücker et al. 2021)

Abb. 3: Darstellung der Mittelwerte der statischen und dynamischen Phasen für drei Muskeln (Mm. gastrocnemius medialis/lateralis, M. tibialis anterior) für S1 (links) und S2 (rechts) (Rücker et al. 2021)

Kernaussagen

  • Zur Reduzierung von Beschwerden bei andauernder Steharbeit bietet sich die Integration von gehenden Elementen an.
  • Es ist darauf zu achten, dass diese
    gehenden Elemente ein „echtes“ Gehen und nicht lediglich wenige, meist „schlurfende“ Schritte zur Seite um­fassen.
  • Wichtig ist, dass die Art der Bewegung zu einer Aktivierung der Muskelpumpe führt.
  • Kontakt

    Lisa Rücker, M. Eng.
    Hochschule für angewandte Wissenschaften München; Fakultät für Wirtschafts­ingenieurwesen; Lothstr. 64, 80335 München

    Foto: Heike Geismar

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