ASU: Herr Professor Drexler, Sie sind leitender Betriebsarzt der Universität und der Uniklinik Erlangen-Nürnberg. Wie wirkt sich die Corona-Krise auf Ihren betriebsärztlichen Alltag aus? Worauf kommt es jetzt besonders an?
Prof. Drexler: Klinikbeschäftigte müssen in der aktuellen Situation besonders gut geschützt werden, denn sie sind es, die die schwer an COVID-19 erkrankten Menschen behandeln sollen. Bei neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sind daher Erstuntersuchungen, gegebenenfalls mit Impfangebot, wichtiger denn je. Bei im Klinikum Beschäftigten mit chronischen Erkrankungen müssen unbedingt individuelle Gefährdungsbeurteilungen erfolgen. Denn daraus werden die erforderlichen Maßnahmen abgeleitet. Routinemäßige Nachuntersuchungen stellen wir zurück, um die Kontakte in den Räumen der Betriebsärzte gering zu halten. Für Beschäftigte, bei denen der Verdacht auf eine COVID-19-Infektion besteht, haben wir eine räumlich und personell abgetrennte Teststelle eingerichtet und die Abläufe so optimiert, dass jeder Getestete seinen Befund innerhalb von 24 Stunden erhält, damit die unumgänglichen Arbeitsunfähigkeitszeiten möglichst niedrig gehalten werden können.
ASU: Welche Rolle spielen Betriebsärzte generell in dieser Pandemie? Was raten Sie Arbeitgebern?
Prof. Drexler: Die beratende Funktion der Betriebsärztin oder des Betriebsarztes ist von zentraler Bedeutung. Der Arbeitgeber muss die richtigen, das heißt die wissenschaftlich belegbaren Präventionsmaßnahmen ergreifen. So sollte auch auf die Nützlichkeit und die Grenzen von Mundschutz als Infektionsprophylaxe und dessen korrekter Anwendung hingewiesen werden. Beschäftigte müssen über Frühsymptome aufgeklärt sein und wissen, wie sie sich zu verhalten haben, damit sie sich selbst nicht anstecken und andere nicht gefährden. Diese Informationen können beispielweise in eine Hygieneleitlinie eingearbeitet werden, die betriebsspezifisch angepasst werden kann und Arbeitgebern und -nehmern zur Verfügung zu stellen ist.
Neben der Beratung zur Infektionsprophylaxe sind jedoch auch andere Belastungsformen nicht zu vergessen. Gerade in der aktuellen Situation erleben wir zunehmend Beschäftigte, die sich große Sorgen um ihre eigene Gesundheit sowie die Gesundheit ihrer Angehörigen machen. Es ist sehr wichtig, dass auch diese Bereiche bei der arbeitsmedizinischen Betreuung berücksichtigt und gegebenenfalls aktiv angesprochen werden. Zudem dürfen wir auch nicht die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vergessen, die im Homeoffice tätig sind und auch hier eventuell betriebsärztlichen Rat brauchen können.
ASU: Wie sehen Sie die Versorgung bei Klein- und Kleinstunternehmen, die ja gerade jetzt oft ums Überleben kämpfen?
Prof. Drexler: Viele Unternehmen kämpfen um ihre Existenz und haben verständlicherweise kein großes Interesse an unserer arbeitsmedizinischen Routinetätigkeit. Aber viele Unternehmen und Beschäftigte haben insbesondere in Zeiten der Pandemie großen Informationsbedarf und sind dankbar, wenn eine Ärztin oder ein Arzt individuell für sie schnell und unkompliziert erreichbar und ansprechbar ist und dabei sowohl medizinische Kenntnisse als auch Kenntnisse zu den speziellen Belastungen und Beanspruchungen am Arbeitsplatz hat.
ASU: Mit der Corona-Krise hat sich ad hoc in der Arbeitswelt einiges verändert. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeiten zum Beispiel im Homeoffice, Beschäftigte in Supermärkten sind verstärkt einem Infektionsrisiko ausgesetzt und auch Firmen, die ihren Betrieb „normal“ weiterlaufen lassen, müssen besondere Vorkehrungen zum Schutz ihrer Beschäftigten treffen. Wie wirkt sich diese neue Situation auf die Umsetzung der Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) aus?
Prof. Drexler: Zunächst einmal ist ja eben der Erhalt der Gesundheit und der Beschäftigungsfähigkeit und damit der Schutz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein wichtiges Ziel der ArbMedVV und dieses Anliegen ist bei einer Pandemie von größter Wichtigkeit. Gesetze und Verordnungen im Arbeitsschutz haben auch in Zeiten der Pandemie Gültigkeit und gegebenenfalls ist deren Einhaltung gerade jetzt sehr wichtig. Die Verantwortung für die arbeitsmedizinische Vorsorge trägt weiterhin der Arbeitgeber. Abweichungen von den rechtlichen Vorgaben müssen gut begründet sein. Ärztlicher Rat kann hierbei sicherlich unterstützen.
ASU: Welche Bedeutung hat in der aktuellen Lage die Gefährdungsbeurteilung?
Prof. Drexler: Die Gefährdungsbeurteilung ist die Grundlage für alle Maßnahmen des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz und muss alle Gefährdungen berücksichtigen. Die aktuelle Gefährdungssituation durch COVID-19 muss hierbei berücksichtigt werden und dies bedeutet, eine Aktualisierung der Gefährdungsbeurteilung ist unbedingt erforderlich. Insbesondere bei Tätigkeiten mit Kundenkontakt oder Parteiverkehr und in Großraumbüros sollten Vorkehrungen getroffen werden, damit der Mindestabstand von zwei Metern eingehalten werden kann. Auch die in vielen Supermärkten aufgestellten Plexiglasscheiben können schützen. Bei der Wahl der Masken ist darauf zu achten, wer wen schützen soll. Masken der Schutzklasse FFP2 schützen ausreichend vor der Infektion, FFP3-Masken werden nur für den klinischen Einsatz bei der Pflege von Schwerkranken mit hoher Viruslast empfohlen. Die einfachen Masken können das Risiko der Weitergabe des Virus reduzieren, schützen aber kaum den Träger. Diese Masken müssen aber regelmäßig gereinigt werden, damit sie nicht zur Keimschleuder werden.
ASU: Wieviel Spielraum lässt die ArbMedVV dem einzelnen Betriebsarzt, gerade, wenn es um Pflichtvorsorgen geht?
Prof. Drexler: Wie bereits erwähnt, liegt die Verantwortung für die arbeitsmedizinische Vorsorge beim Arbeitgeber. So ist beispielsweise die Pflichtvorsorge vor Aufnahme einer gefährdenden Tätigkeit vom Arbeitgeber zu veranlassen. Im klinischen Bereich wäre es gewiss nicht sinnvoll, gerade in Zeiten eines großen Infektionsrisikos darauf zu verzichten. Vieles, wie beispielsweise die Fristen zur Pflichtvorsorge, sind aber in den Arbeitsmedizinischen Regeln (AMR) festgelegt und diese lassen einen individuellen Entscheidungsspielraum durchaus zu.
ASU: Können arbeitsmedizinische Vorsorgen auch per Videokonferenz vorgenommen werden? Welche Vorsorgen könnte man so durchführen?
Prof. Drexler: Wenn eine sichere Technik zur Verfügung steht, ist dies durchaus möglich. Insbesondere der Bereich der Anamneseerhebung und der Beratung ist gut über die neuen Medien durchführbar. Bei erforderlichen Untersuchungen sind telemedizinische Verfahren stark limitiert. Die Erfahrungen zeigen aber, dass trotz unserer technischen Möglichkeiten telemedizinische Angebote nur schwer in die Praxis zu implementieren sind.
ASU: Wie wird sich die aktuelle Pandemie künftig auf das betriebsärztliche Rollenverständnis auswirken?
Prof. Drexler: Der Wandel unserer Industriegesellschaft hat bereits in den letzten 50 Jahren die Rolle der Betriebsärztin/des Betriebsarztes verändert. Der Erhalt der Gesundheit und der Beschäftigungsfähigkeit von Beschäftigten steht im Vordergrund, die frühzeitige Erkennung von Berufskrankheiten ist nur noch eine Teilaufgabe. So hat auch der Stellenwert der arbeitsmedizinischen Untersuchung an Bedeutung verloren und der der Beratung zugenommen. Die Änderung der ArbMedVV im Jahr 2013 war die Folge und nicht Ursache dieser Entwicklung.
Das COVID-19-Virus wird auf Dauer in der Gesellschaft infektiös sein. Bei allen Viruskrankheiten hat die Prävention einen größeren Stellenwert als die Kuration, da im Falle der Erkrankung nur symptomatisch behandelt werden kann. Kernaufgabe der Arbeitsmedizin war schon von jeher die Prävention. Wenn ein Impfstoff gegen COVID-19 zur Verfügung steht, werden auch Betriebsärztinnen und Betriebsärzte dafür sorgen, dass schnell ein Immunschutz in der Bevölkerung aufgebaut wird und damit zur effektiven Prävention beitragen.
ASU: Vielen Dank für das Gespräch!