Wir werden 100 Jahre alt
Der demografische Wandel ist in Deutschland deutlich spürbar. Die in den letzten Jahrzehnten sinkende Zahl der jüngeren Menschen bei gleichzeitig steigender Zahl älterer Menschen verschiebt den demografischen Rahmen in bisher nicht gekannter Weise. Jede zweite Person ist heute älter als 45, jede fünfte älter als 66 Jahre. Andererseits hat Deutschland in den letzten Jahren eine ungewöhnlich starke Zuwanderung vor allem junger Menschen erlebt. Die Geburtenziffer beträgt derzeit 1,54 Kinder je Frau. Für die Erhaltung der Bevölkerungszahl wären im Durchschnitt 2,1 Kinder notwendig. Die Lebenswartung für Mädchen beträgt 83,4 Jahre, die von Jungen 78,6 Jahre (Statistisches Bundesamt, www.destatis.de). Schätzungen zufolge wird jedes zweite heute geborene Baby 100 Jahre alt (➥ Abb. 1).
Am Arbeitsmarkt sind die Folgen seit Mitte der 1990er Jahre mit dem schrittweisen Eintritt der geburtenschwachen Jahrgänge sichtbar geworden. Der Einfluss des Geburtenrückgangs auf das Arbeitsangebot konnte bislang weitgehend durch eine steigende Erwerbsbeteiligung ausgeglichen werden, vor allem bei Frauen und bei Älteren. Künftig wird dieser Ausgleich jedoch nicht mehr im gleichen Umfang stattfinden können, wenn bis Mitte der 2030er Jahre die geburtenstarken Jahrgänge schrittweise in den Ruhestand treten. Es zeichnen sich zunehmend Engpässe in einzelnen Berufen und Regionen bei der Gewinnung von Fachkräften ab (BMAS 2016).
Wovon wir reden, wenn wir von Arbeit reden
Seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts hat sich ein bemerkenswerter Wandel bei den Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für das gesellschaftliche Miteinander und die Arbeit vollzogen: Schlagworte sind Digitalisierung, Globalisierung, demografischer Wandel, kultureller Wertewandel, Mobilität. Von der Erfindung des Internet spannt sich der Bogen zum Homeoffice und mobilem Arbeiten.
Gleichzeitig ist festzustellen, dass sich das Erwerbsleben und Älterwerden immer weniger als kontinuierlicher Ablauf von Ausbildung – Berufseinstieg – Karriere – Ruhestand darstellen lässt. Dieser Ablauf wird häufig ersetzt oder unterbrochen durch diskontinuierliche Verläufe (Umschulung, Zweitstudium), Brüche (Elternzeit, Sabbatical, zweiter Aufbruch) oder Schattierungen (Erwerbslosigkeit, Arbeitsförderungsmaßnahme). Die vielschichtige „Multigrafie“ als eine neue Form der persönlichen Lebensarbeitsgeschichte kann helfen, diesen Prozess besser zu verstehen (Huber 2019).
Humanisierung der Arbeitswelt
Mit diesem Ansatz kennen sich Betriebsärztinnen und -ärzte in Deutschland seit den 70er Jahren gut aus. Das Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit (Arbeitssicherheitsgesetz) wurde am 12. Dezember 1973 erlassen und stellt eine bis heute gültige Grundlage betriebsärztlichen Handelns dar. Mit der Zielsetzung einer Humanisierung der Arbeitswelt gab es vor allem in den 1970er und 1980er Jahren verschiedene, von staatlicher, gewerkschaftlicher und wissenschaftlicher Seite initiierte beziehungsweise begleitete Ansätze zur betrieblichen Gestaltung der Arbeitsbedingungen, insbesondere im Rahmen des vom Forschungsministerium ins Leben gerufenen Programms „Humanisierung des Arbeitslebens (1974–1989), in dessen Tradition auch INQA, die „Initiative Neue Qualität der Arbeit“, steht.
Diagnose und Therapie in Netzwerken
INQA ist ein gutes Beispiel für eine Plattform, die sich der Aufgabe verpflichtet fühlt, „Arbeit besser zu machen“. Die Initiative begleitet Unternehmen, Verwaltungen und ihre Beschäftigten im Wandel der Arbeitswelten. Sie fördert eine gesunde, sichere sowie erfolgreiche Arbeitskultur, von der Betriebe und Beschäftigte gleichermaßen profitieren. Führung, Vielfalt, Gesundheit und Kompetenz sind die Themenfelder. Betriebe und ihre betriebsärztlichen Beraterinnen und Berater können lernen, wie sich mit alternsgerechter Arbeitsgestaltung, Beteiligung und Wertschätzung demografische Risiken in demografische Chancen verwandeln lassen (siehe „Weitere Infos“). Welche Instrumente werden dafür benötigt? Beispiele sind eine Darstellung der zu erwartenden Altersgänge im Betrieb (Altersstrukturanalyse) oder eine alternskritische Gefährdungs- und Belastungsbeurteilung.
Einer der Netzwerkpartner von INQA, die Demografie-Experten DEx, haben als interdisziplinärer Zusammenschluss von Beratenden und Trainern eine Fortbildung zu so genannten Demografie-Lotsen entwickelt. Diese Qualifizierungsangebote zum DEx-Lotsen werden von Kammern, Verbänden und Unternehmen nachgefragt. Seit Januar 2021 hat das Deutsche Demografie-Netzwerks ddn (siehe „Weitere Infos“) diese Angebote übernommen. Das ddn ist auf Initiative von INQA und dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2006 gegründet worden. Hier sind rund 300 Unternehmen (u.a. ZF Friedrichshafen, Deutsche Bahn, Airbus) und Institutionen (wie AOK, Evangelische Hochschule Freiburg, iso Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft) zusammengeschlossen, um den demografischen Wandel aktiv zu gestalten. Das Herzstück des Netzwerks bilden 12 Arbeits- und Themenkreise, in denen neues Wissen entwickelt und vorhandenes Know-how zu Themen wie Gesundheit, Arbeitsorganisation oder Führungs- und Unternehmenskultur ausgetauscht wird. Zusätzlich wurden 18 regionale Netzwerke gegründet, um kleinere und mittelständische Unternehmen vor Ort demografisch voranzubringen. Durch den Austausch mit anderen Akteuren entstehen neue Ideen. Das ddn versteht sich als offenes Netzwerk, in dem weitere Unternehmen jederzeit willkommen sind. In diesem Netzwerk können Akteure der Betriebsmedizin sowohl ihre Expertise einbringen als auch Impulse für ihre Arbeit im demografischen Kontext erhalten.
Gut durch die „Rush-Hour des Lebens“ kommen
Eingriffe in die Altersstrukturen durch Unternehmen und Politik sind unübersehbar. Dazu gehören Frühverrentungen, Vorruhestand, Altersteilzeit im Blockmodell und Personalabbau. Diese Eingriffe sind in der „Rush-Hour des Lebens“ meist noch weit entfernt. Die mittlere Phase des Erwerbslebens, etwa im Alter zwischen 30 und 50 Jahren, steht im Zeichen der Auseinandersetzung mit verschiedenen Bedingtheiten (Beruf, Familie, soziales Leben). Das kann stressig oder erfüllend sein, nicht selten mit fließenden, manchmal mit jähen Übergängen. Zum Ende des Erwerbslebens, wenn ältere Beschäftigte gehen, besteht die Gefahr, dass sie Erfahrung, Fach- und Organisationskenntnisse mitnehmen. Nicht nur diese „senior experts“ fehlen dann, auch Jüngere rücken nicht immer nach, wenn Unternehmen zu wenig ausbilden oder geeignete Auszubildende nicht zu finden sind beziehungsweise wenn junge Fachkräfte nur befristet oder auf Basis eines Werkvertrags beschäftigt werden. So können Betriebe in Schieflage geraten.
Ein hoher Anteil älterer Beschäftigter kann in der Baubranche oder im Dienstleistungssektor produktivitätsmindernd wirken, im verarbeitenden Gewerbe sowie im Handel lässt sich dagegen kein signifikanter Alterseinfluss erkennen (Gerstenberger 2017). Oft wird davon ausgegangen, dass die individuelle Arbeitsproduktivität eines Beschäftigten mit zunehmendem Alter abnimmt („Defizitmodell“), da die kognitive und körperliche Leistungsfähigkeit nachlässt. Tatsächlich muss Altern nicht Abbau und Verlust bedeuten, sondern kann in vielen Bereichen geradezu Gewinn sein, eine Zunahme von Erfahrung und Wissen („Kompetenzmodell“) – verbunden mit der Möglichkeit, dies in Jung-Alt-Tandems oder durch „reverse mentorings“, also im Austausch von Medienkompetenz und Facherfahrung weiterzugeben.
Betriebsärztinnen und -ärzte managen Gesundheit
Arbeits- und Betriebsmedizin umfasst nicht nur originäre ärztliche Aufgaben, sondern auch viele Aspekte des betrieblichen Gesundheitsmanagements. Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit über alle Lebensarbeitsphasen zu fördern, ist eine der Kernaufgaben eines Gesundheitsmanagements, das ärztliche, soziale, psychologische und sicherheitstechnische Interventionen integrativ einbindet. Arbeitsmedizinische Vorsorge, Suchtberatung, Ermöglichung psychotherapeutischer Behandlung, Arbeitsunfallanalysen und betriebliches Eingliederungsmanagement wirken zusammen, um eine Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten beziehungsweise wieder zu erlangen. Betriebsärztliches Tun gibt es allerdings nicht „von der Stange“. Für jeden Betrieb, bei jedem Kontakt und in jedem Setting gibt es Empfehlungen und Vorschläge nach Maß. Es macht einen Unterschied, ob es sich um einen Galvanik-Betrieb handelt, eine Filmschule, einen Entsorgungsbetrieb oder einen sozialen Träger.
Ein Beispiel ist die Berliner Stadtreinigung (BSR) als größter kommunaler Entsorger in Deutschland mit derzeit etwa 5700 Beschäftigten in den Geschäftsbereichen Hausmüllentsorgung, Straßenreinigung, Abfallverwertung, Recycling, Werkstätten und Verwaltung. Der Altersdurchschnitt liegt bei etwa 47 Jahren, die Altersspanne 36–55 Jahre macht zwei Drittel der Belegschaft aus. In den operativen Bereichen (u.a. Mülltonnen ziehen, Bordsteinfegen, Winterdienst, Bewegung und Reparatur von Fahrzeugen, Leitstände im Dreischicht-Betrieb) wird mittelschwere bis sehr schwere Arbeit verrichtet. Beanspruchungserleben findet vor allem im Herz-Kreislauf- und Muskel-Skelett-System, im Gehör, in der Haut und mental statt. Ist es vorstellbar, dass die so tätigen Menschen die Rente sicher und gesund erleben? Und hat nicht der Arbeitgebende sogar die „Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten anzustreben“ (§3 Arbeitsschutzgesetz – ArbSchG)?
Hebel ansetzen bei Arbeit und Alter
Zusätzlich angeregt durch das Mitwirken in zwei ddn-Arbeitskreisen (Personalvorstand im AK Arbeitsorganisation, Betriebsärztin/-arzt im AK Gesundheit) hat die BSR bereits Ende des ersten 2000er Jahrzehnts ein „Demografiepaket“ zur Bewältigung des demografischen Wandels erarbeitet (➥ Abb. 2). Neben der Stärkung eigenständiger Stabsbereiche der Gesundheitsförderung und Prävention lag ein Hauptaugenmerk der betrieblichen Aktivitäten auf einer alternsgerechten Organisation der Arbeit. In der Straßenreinigung konnte Gruppenarbeit mit altersgemischten Teams eingeführt werden – mit weitgehender Autonomie bei der Erbringung der Tages- und Wochenleistungen. Die Integration von Leistungsgeminderten wurde verbessert, weil ausgelagerte Dienstleistungen, wie die Aufarbeitung von Papierkörben, wieder zurückgeholt
wurden.
Zusätzlich wurde nach dem Wegfall der staatlich geförderten Altersteilzeitregelungen seit 2010 eine Möglichkeit geschaffen, einen früheren Ausstieg aus dem Erwerbsleben zu gewähren. Das bis heute erfolgreichste Modell ist das so genannte Lebensarbeitszeitkonto. Beschäftigte können Verdienstanteile und Urlaubstage „faktorisieren“ und verzinsen. In Zeiten von Negativzinsen liegt der Zinssatz momentan bei 0,5%. Zusammen mit der Einbuchung von Überstunden kann ein Ausstieg aus dem Erwerbsleben um mehrere Monate bis Jahre vorgezogen werden. 1000 angesparte und verzinste Stunden entsprechen bei einer Vollzeitkraft einer Entnahmezeit von einem halben Jahr. Wer im demografischen Wandel handeln will, muss aber das gesamte Arbeitsleben von Beginn bis zum Ende betrachten. Schon beim Einstieg ins Erwerbsleben sind Auszubildende und Berufseinsteiger mit Herausforderungen konfrontiert, die sie körperlich und mental beanspruchen können.
Bei der BSR haben sich so genannte „Boxenstopps“ für Arbeitende der Müllabfuhr bewährt. In diesen Schulungsmaßnahmen werden Grundbegriffe sicheren und ergonomisch belastungsgeminderten Arbeitens vermittelt. Die beteiligten Akteure kommen aus der Arbeitssicherheit, der Sozialberatung, der Betriebsmedizin – inzwischen gemeinsam mit der Betriebsgastronomie und dem Eingliederungsmanagement als Geschäftseinheit „Gesundheitsmanagement“ neu aufgestellt – und der Führungsebene. Gesundheitslotsen sind auf vielen Betriebshöfen Ansprechpersonen in Präventionsfragen und bei Suchtproblemen. Auf die Personalplanung und -entwicklung wird ebenfalls geachtet. Eine Analyse des Bestandes und der Personalstruktur führt bei gleichzeitig neu hinzu gekommenen Aufgaben zu veränderten Personalmaßnahmen im Sinne einer Altersstrukturanalyse. So stieg die Anzahl der Beschäftigten seit 2015 um etwa 500 – mit einem Anstieg der Frauenquote um 7,6% (➥ Tabelle 1).
Aber nicht alle Maßnahmen greifen immer und nicht in jeder Branche. So ist die Konzeption des „Teilgedinges“ (Gedinge = Leistungsentlohnung, wie im Bergbau oder Landwirtschaft üblich) zwar als Option in den Tarifvertrag für die Arbeitenden der Müllabfuhr der BSR aufgenommen worden, eine Nachfrage dafür zeichnete sich jedoch nicht ab. Dieser Passus sah vor, den körperlich schwer Arbeitenden eine reduzierte 80%-Wochenarbeitszeit mit 94%-Entlohnung abzufedern.
Was der Betrieb nicht kann, regelt ein Tarifvertrag
Auch in anderen Branchen haben sich Demografie-Tarifverträge inzwischen durchgesetzt . Seit 2006 lässt sich in Deutschland eine Wende erkennen, da der demografische Wandel erstmals auch in eine tarifvertraglich zu regelnde betriebliche Gestaltungsaufgabe überführt wurde. In der Eisen- und Stahlindustrie wurde der erste Demografie-Tarifvertag abgeschlossen, der als Beginn eines bemerkenswerten Paradigmenwechsels in der bisherigen Praxis des betrieblichen Umgangs mit alternden Belegschaften gilt; zumal in der Eisen- und Stahlindustrie mit branchentypischer Belastungshäufung und einer durchschnittlich höheren Altersstruktur schon immer ausgeprägte Frühverrentungsquoten bekannt waren. Mittlerweile gibt es in Deutschland Demografie-Tarifverträge in 13 Branchen und großen Unternehmen (Stand 2014 ).
Vereinbart werden Demografie-Budgets, verpflichtende Altersstrukturanalysen, Entlastungstage, gesundheitsfördernde Maßnahmen wie Regenerationsschichten für im Schichtbetrieb arbeitende Beschäftigte sowie eine bessere Balance zwischen Beruf und Familie (Stiemke et al. 2020).
Handlungsfelder in der Weiterbildung
Seit 2006 wurde an der damaligen Akademie für Arbeitsmedizin und Gesundheitsschutz Berlin ein Konzept zur Einführung in die „betriebsärztlichen Aufgaben bei der Gestaltung des demografischen Wandels in den Betrieben“ entwickelt. Nach einem Impulsvortrag kommt eine Gruppe von 20–30 Teilnehmenden in einem Seminar zusammen, um anhand eines ausgewählten Betriebs in einer demografischen Umbruchsituation Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Die betrieblichen Beispiele gewähren interessante Einblicke in heutige betriebsärztliche Tätigkeit: Lebensmittelproduktion mit überwiegend älteren Beschäftigten, die nach dem „Hire and fire“-Prinzip tätig sind, kleine Baubetriebe mit stark körperlich ausgerichteten Tätigkeiten und saisonalen Auslastungen, ausgelagerte Servicebetriebe für Personenbeförderungsunternehmen mit wachsendem Krankenstand, Feuerwehr und rückläufige „Tauglichkeit“ von älteren Feuerwehrleuten etc. Ein oder zwei interessante Betriebe finden sich in jedem Kurs, die Auswahl wird von den Teilnehmenden getroffen.
Perspektiven wechseln, Szenarien entwickeln
Nach der Feststellung der betrieblichen Arbeitshypothese („Diagnose“) werden die am Kurs teilnehmenden Personen in zwei Gruppen eingeteilt: in Arbeitgebende und Personalverantwortliche sowie Belegschaft und Betriebs-/Personalrat. Beide getrennt tagenden Gruppen erarbeiten Vorschläge zur „Therapie“. Sie entwickeln „Szenarien“ für hypothetische Situationen in der Zukunft, was zum Beispiel passieren könnte, wenn bestimmte Ansätze verfolgt werden. Die Gruppen stellen anschließend die Lösungsansätze vor, ohne die Gegenseite zu kommentieren. Interessant ist das hohe Maß an Übereinstimmung bei der Ideenfindung. Während im betrieblichen Alltag Interessengruppen nicht selten gegenläufig agieren, schlagen die angehenden Fachärztinnen und -ärzte in ihren Rollen als Arbeitgebende oder aus Belegschaftssicht fast wortgleich Folgendes vor, wobei es sich bei allen Punkten nicht um klassische ärztliche Maßnahmen handelt:
Gesellschafts-Gehirn und menschliche Wärme
Betriebe sind komplexe Systeme. Krisen oder Herausforderungen des Systems, wie im demografischen Wandel zu erkennen ist, benötigen einen differenzierten Blick, ausgewogene, komplex agierende und auf Vertrauen bauende Aktivitäten, eine Art „Gehirn-Ensemble“, wie der Philosoph Peter Sloterdijk es nennt. Es gibt nicht nur die Alten, die Jungen oder die Mittelalten – das Ensemble der Lebensphasen mit ihren jeweiligen Stärken ist es, was den „Drive“ eines Betriebes ausmacht. Gemischte Teams in allen Ausprägungen, nach Alter, Geschlecht und Herkunft sind erfolgreicher.
Betriebsärztinnen und -ärzte sind Teil dieses Systems und können ihr durch Studium, Weiterbildung, Tätigkeit und Erfahrungsschatz erworbenes Wissen einbringen. Lebenslanges Lernen gilt auch für Betriebsärztinnen und -ärzte. Ergänzend hierzu muss nur noch eine entscheidende Ressource hinzukommen: menschliche Wärme (Gatterer 2016).
Anstelle eines Fazits – zwei Aussichten
Zuwanderung ist ein Mittel, um Alterung und Schrumpfung zu verlangsamen. Klar ist, dass EU-Binnenmigration den demografischen Wandel nicht beheben kann. Bereits 2020 waren nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung IAB etwa 360 000 Geflüchtete in regulären Jobs tätig, ob als Schweißer in Fürstenwalde oder in Förderklassen zur Berufsvorbereitung in Erlangen. Die Befunde deuten darauf hin, dass die Arbeitsqualität mit der Aufenthaltsdauer steigt. Eine demografische Chance?
Betriebsärztinnen und -ärzte wissen, dass man Perspektiven im Betrieb oft wechseln muss, zum Beispiel bei der Förderung von Ressourcen, bei der Entwicklung von Ideen zum leidensgerechten Einsatz älterer Beschäftigter oder beim Ausbau des „Hauses der Arbeitsfähigkeit“. Es erfordert Kenntnis und Erfahrung, um die Grenzen gesundheitsförderlicher Beratung in Zeiten des demografischen Wandels auszuloten. Es braucht Analyse und einigen Mut, initiativ auf die Geschäftsleitung, auf die Personalabteilung oder die Mitarbeitervertretungen zuzugehen. Die notwendigen Basics sind kein „Zauberwissen“ – Instrumente, Konzepte und Partner sind im Land vielfach vorhanden. Ein vitaler Betrieb ist ein lernender. Es gilt herauszufordern, aber nicht zu überfordern, Verantwortung für sich, die eigene Gesundheit, das kollegiale Umfeld zu übernehmen und Zugehörigkeit immer wieder zu vermitteln.
Interessenkonflikt: Der Autor ist Betriebsarzt der Berliner Stadtreinigung (BSR) und freiberuflich tätiger Arbeitsmediziner sowie Kursleiter eines arbeitsmedizinischen Weiterbildungskurses an der Ärztekammer Berlin. Es bestehen keine Interessenskonflikte.
Danksagung: Mein Dank gilt dem Kollegium der Kursleiter der arbeitsmedizinischen Weiterbildungskurse und Team der Akademie für Arbeitsmedizin und Gesundheitsschutz an der Ärztekammer Berlin. Dank an Adelheid von Borries und Andreas Fahr für die Weiterentwicklung des Seminars „Demografischer Wandel“, Katrin Boege für die Einführung in die Szenario-Technik, Martin Urban und Monique Illinger (BSR) für die Bereitstellung betrieblicher Kennzahlen sowie Daniel Dettling (re:publik – Institut für Zukunftspolitik) für anregende Impulse.
Literatur
Aresin J et al.: Europa als Ziel? – Die Zukunft der globalen Migration. Berlin: Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung (Hrsg.), 2019.
BMAS Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Weißbuch Arbeiten 4.0, BMAS, 2016.
Brücker H et al.: Fünf Jahre nach der Fluchtmigration 2015 – Integration in Arbeitsmarkt und Bildungssystem macht weitere Fortschritte. IAB-Kurzbericht, 2020.
Gallenberger W, Boege K et al.: IGA-Report 9 Szenarien zum demographischen Wandel im Betrieb. Essen Dresden: IGA, 2005.
Gatterer H (Hrsg.): Pro-Aging. Zukunftsinstitut, 2016.
Gerstenberger J: Produktivität des deutschen Mittelstandes tritt auf der Stelle – Zeit zu handeln! KfW Research - Fokus Volkswirtschaft, 2017.
Huber J: Betriebliches Gesundheitsmanagement im Wandel. ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 2019; 54: 284–289
Stiemke P et al.: Demografie-Tarifverträge in Deutschland – eine neue Gestaltungsoption. In: Naegele G, Hess M (Hrsg.): Alte und neue soziale Ungleichheiten bei Berufsaufgabe und Rentenübergang. Dortmunder Beiträge zur Sozialforschung. Wiesbaden: Springer VS, 2020, S. 211–218.
Wellmann H et al.: iga.Report 43, Erwerbstätigenbefragung zum Stellenwert der Arbeit. Dresden: IGA,
2019.
Weitere Infos
Altersstrukturanalyse-Tools (letzte Linkprüfung 07/2020)
https://www.inqa.de/SharedDocs/downloads/webshop/uebersicht-instrumente-altersstrukturanalyse.pdf
Das Demographie Netzwerk e.V. (ddn)
https://demographie-netzwerk.de/