Grundlagen der Grenzwertsetzung
Für den Schutz der Beschäftigten gegenüber Gefahrstoffen gibt es auf europäischer Ebene drei Richtlinien, mit denen die Mindeststandards für Sicherheit und Gesundheit festgelegt werden. Dabei handelt es sich um die Stoffrichtlinie (COUNCIL DIRECTIVE 98/24/EC), die Krebsrichtlinie (DIRECTIVE 2004/37/EC) und die Richtlinie zum Schutz vor Asbest (DIRECTIVE 2009/148/EC). Diese Richtlinien werden nach Art. 153 über die Arbeitsweise der Europäischen Union (EU) beschlossen und müssen anschließend in nationales Recht überführt werden. In Deutschland werden die drei Richtlinien durch die Gefahrstoffverordnung umgesetzt.
Typen von Grenzwerten
Als Instrument für die Beurteilung der Arbeitsbedingungen sehen die Richtlinien die Festsetzung von Grenzwerten vor. Dabei werden zwei Arten von Grenzwerten unterschieden: IOELV (Indicative Occupational Exposure Limit Values) sind so genannte Zielwerte, die gesundheitsbasiert abgeleitet werden. Die Mitgliedstaaten der EU haben die Möglichkeit, national zu niedrigeren oder höheren Werten abzuweichen. Wichtig ist hier, dass überhaupt für einen Stoff ein Grenzwert in Kraft gesetzt wird. Erfahrungsgemäß übernehmen viele Mitgliedstaaten die IOELV der EU-Kommission (EU KOM), insbesondere dann, wenn sie keine eigenen Expertengremien wie in Deutschland den Ausschuss für Gefahrstoffe (AGS) oder die Senatskommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DGF) zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe (MAK-Kommission) haben. BOELV (Binding Occupational Exposure Limit Values) sind bindende Werte. Sie sind gesundheitsbasiert und müssen zusätzlich durchführbar sein. Genauere Informationen, was damit gemeint ist, gibt es nach Kenntnissen des Autors nicht. In der Praxis sind es sozioökonomische Erwägungen und die Berücksichtigung technischer Umsetzbarkeit, die hier eine Rolle spielen. Nationale Abweichungen von einem BOELV zu niedrigeren Werten sind erlaubt. Die Erfahrung hat gezeigt, dass IOELV für Stoffe mit Wirkschwelle im Rahmen der Stoffrichtlinie verabschiedet werden (bis jetzt ca. 160 Stoffe) und BOELV in der Krebsrichtlinie für Stoffe ohne Wirkschwelle, also im Wesentlichen für krebserzeugende Gefahrstoffe (etwa 30 Stoffe).
Geltende Grenzwerte für Blei
Für Blei wurden im Rahmen der Stoffrichtlinie 98/24/EG zwei BOELV verabschiedet. Der Luftgrenzwert für anorganisches Blei und seine Verbindungen beträgt 150 µg/m³ Luft (Schichtmittelwert). Als biologischer Grenzwert wurden 700 µg Pb/l Blut festgelegt. Neben den beiden Grenzwerten gibt es zusätzlich Hinweise für die medizinische Überwachung. Sie wird empfohlen, wenn die Konzentration in der Luft über 40 Stunden gemittelt höher als 75 µg/m³ Luft ist oder der Blutbleispiegel 400 µg Pb/l Blut überschreitet. Diese Werte sind Teil der ersten Veröffentlichung der Stoffrichtlinie aus dem Jahre 1998, repräsentieren also in etwa den Stand des Wissens vor mehr als 25 Jahren. Daher ist es höchste Zeit, die Grenzwerte an die heutigen Erkenntnisse anzupassen. Das Verfahren dazu soll im Folgenden näher erläutert werden.
Prozess der Grenzwertableitung
Die Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und Inklusion (DG EMPL), die bei der EU KOM für die oben genannten Richtlinien zuständig ist, hat die Europäische Chemikalien-Agentur (ECHA) offiziell beauftragt, regelmäßig Empfehlungen für Arbeitsplatzgrenzwerte abzuleiten. Das tut sie zurzeit für vier bis fünf Stoffe pro Jahr. Die Auswahl der Stoffe, für die ein Grenzwert abgeleitet werden soll, trifft die DG EMPL nach Konsultation mit den Mitgliedstaaten. Das ECHA-Sekretariat macht die wissenschaftliche Vorarbeit, indem es ein ausführliches Dossier anfertigt. Auf Grundlage des Dossiers leitet der Risikobewertungsausschuss (RAC), ein von den Mitgliedstaaten benanntes unabhängiges Expertengremium bei der ECHA, einen Grenzwertvorschlag ab. Für Blei lief das Verfahren bisher wie folgt:
Die einzelnen Schritte orientieren sich an den Verfahren der REACH-Verordnung1 wie zum Beispiel bei Zulassungen oder Beschränkungen. Beim „call for evidence“ werden Informationen gesammelt, um ein möglichst aktuelles Dossier zu erstellen. Im Rahmen der öffentlichen Beteiligung („public consultation“) haben interessierte Kreise die Möglichkeit, den Vorschlag zu kommentieren. Nach der öffentlichen Beteiligung wird die RAC-Stellungnahme veröffentlicht und die Kommentare werden beantwortet („response to comments“).
Neue Grenzwertvorschläge für Blei
In Bezug auf Blei kam das Committee for Risk Assessment (RAC) zu der Auffassung, den Luftgrenzwert auf 4 μg/m3 Luft und den biologischen Grenzwert auf 150 μg Blei/l Blut abzusenken (RAC: Opinion on scientific evaluation of occupational exposure limits for Lead and its compounds). Zur Orientierung für die Hintergrundbelastung mit Blei durch Umwelteinflüsse hat er einen biologischen Referenzwert von 45 μg Blei/l Blut vorgeschlagen (➥ Tabelle 1).
Ergänzt werden die Werte durch einen erläuternden Text zu den besonderen Risiken für Frauen im gebärfähigen Alter, der ebenfalls in die geänderte Richtlinie übernommen werden soll. Nach Beteiligung der Working Party on Chemicals (WPC) und des Beratenden Ausschusses für Sicherheit und Gesundheit (ACSH) als beratende Gremien für die DG EMPL war der nächste Verfahrensschritt für die Verabschiedung der Grenzwerte ein Impact Assessment. Das ist grundsätzlich vorgeschrieben und dient dazu, Auswirkungen einer regulatorischen Maßnahme (hier die Grenzwertsetzung) zu analysieren. Der Blick auf den Vorschlag des RAC zeigt, dass die Grenzwerte deutlich abgesenkt werden sollen. Mit möglicherweise weitreichenden Folgen ist daher zu rechnen.
Impact Assessment für Blei-Grenzwerte
Ein Impact Assessment beruht in der Regel auf einer Fragebogenaktion, die ein Consultant im Auftrag der EU KOM durchführt. Genauso ist es bei Blei. Die Fragebogenaktion hierzu beinhaltete Fragen zu drei Stoffen (Blei, Asbest, Diisocyanate). Ausgangspunkt für die Fragen sind potenzielle Folgen unterschiedlicher Grenzwerthöhen. Im Falle von Blei werden drei Grenzwerthöhen zur Diskussion gestellt: der Vorschlag des RAC, der niedrigste aktuelle OEL (Occupational Exposure Limit – Arbeitsplatzgrenzwert) in einem Mitgliedstaat und ein Wert, der zwischen den beiden genannten liegt (➥ Tabelle 2).
Die Fragen beziehen sich auf die Kosten für Industrie und Behörden, die Wettbewerbsfähigkeit, die Wirkung auf kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) sowie den Arbeits- und Umweltschutz. Die Befragung wurde Ende Februar 2021 abgeschlossen, zurzeit wird der Bericht für den Auftraggeber, die DG EMPL, angefertigt. Im Anschluss wird die EU-KOM Grenzwertvorschläge machen. Diskussionen in der WPC sind für Juni und Oktober geplant. Ein formaler Beschluss des ACSH ist für Dezember 2021 vorgesehen. Der Abschluss der Rechtssetzung mit Veröffentlichung der Grenzwerte im Amtsblatt kann frühestens Mitte 2022 erfolgen, da die EU KOM zuvor noch das Europäische Parlament und die Mitgliedstaaten im so genannten Trilog beteiligt. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die Anpassungen der Richtlinien grundsätzlich in Bündeln erfolgen und hier alle drei genannten Grenzwerte (Blei, Asbest und Diisocyanate) zusammen betrachtet werden.
Weiterer Verlauf des Verfahrens
Blei ist ein Gefahrstoff mit hoher Bedeutung für die Wirtschaft, der in großen Mengen und vielen Anwendungen verarbeitet wird. Auf der anderen Seite ist Blei ein potenter reproduktionstoxischer Stoff, der bei Belastung nur sehr langsam aus dem Körper ausgeschieden wird. Mehr als bei anderen Gefahrstoffen hängt die Exposition bei Tätigkeiten mit Blei von der Einhaltung von Vorschriften zur persönlichen Hygiene durch die Beschäftigten ab. Außerdem erfordert auch der niedrigste der diskutierten Werte zusätzliche Bestimmungen für Frauen im gebärfähigen Alter. Dies sind alles Gründe, die vielschichtige Diskussionen auf Ebene der Mitgliedstaaten und im Europäischen Parlament erwarten lassen. Entscheidend für den Verlauf der Diskussionen ist sicher hier die Höhe des Grenzwertvorschlags der EU-KOM. Ob durch die Änderungen der Stoffrichtlinie Änderungen für die aktuelle Regelung in Deutschland (Umsetzung des bindenden europäischen Luftgrenzwertes durch Verweis, biologischer Grenzwert (BGW) von 150 µg Pb/l Blut) erforderlich werden, hängt davon ab, ob der europäische Grenzwert weiterhin ein bindender Grenzwert bleibt.
Literatur
COUNCIL DIRECTIVE 98/24/EC of 7 April 1998 on the protection of the health and safety of workers from the risks related to chemical agents at work. Official Journal of the European Communities L 131/11.
DIRECTIVE 2004/37/EC OF THE EUROPEAN PARLIAMENT AND OF THE COUNCIL of 29 April 2004 on the protection of workers from the risks related to exposure to carcinogens or mutagens at work. Official Journal of the European Union L 158/50.
DIRECTIVE 2009/148/EC OF THE EUROPEAN PARLIAMENT AND OF THE COUNCIL of 30 November 2009 on the protection of workers from the risks related to exposure to asbestos at work. Official Journal of the European Union L 330/28.
Committee for Risk Assessment (RAC), Opinion on scientific evaluation of occupational exposure limits for Lead and its compounds, ECHA/RAC/A77-O-0000006827-62-01/F, 11 June 2020.
Danksagung: Der Autor dankt Frau Dr. Romy Marx und Herrn Dr. Peter Kujath (beide BAuA) für die Durchsicht des Manuskripts.
Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.
Weitere Infos
Ausschuss für Gefahrstoffe (AGS). Das Beratungsgremium des BMAS zur Gefahrstoffverordnung
https://www.baua.de/DE/Aufgaben/Geschaeftsfuehrung-von-Ausschuessen/AGS/AGS_node.html
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG): Ständige Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe
https://www.dfg.de/dfg_profil/gremien/senat/arbeitsstoffe/index.html