Medizinisch-wissenschaftliche versus Betroffenenperspektiven
Die Fortschritte der Medizin seit der Mitte des 19. Jahrhunderts haben nicht zuletzt dazu geführt, dass die naturwissenschaftlichen Paradigmata Objektivität, Reliabilität und Validität heute fast alternativlos die Expertenperspektive determinieren. Weltweit werden Studierende der Medizin in diesem Sinne ausgebildet. Selbst in Akutkliniken in China wird westliche Medizin praktiziert. Angesichts der Dominanz des naturwissenschaftlichen Paradigmas hat es lange gedauert, bis deutlich wurde, dass es „die richtige Perspektive“ auch auf medizinische Phänomene nicht geben kann. Vielmehr stellt sich Burnout oder beispielsweise die Depression einer oder eines Betroffenen aus unterschiedlichen Perspektiven gesehen unterschiedlich dar (Hillert u. Albrecht 2020; ➥ Abb. 1).
Ärztinnen und Ärzte gehen von den in ihrem Fach geltenden (Diagnose-)Kriterien aus; die berufliche Situation der Betroffenen kennen sie zumeist kaum. Psychotherapeutische Konzepte fokussieren traditionell auf die individuelle Lerngeschichte, wobei der Beruf weniger relevant zu sein scheint. Demgegenüber richtet sich der Blick des Arbeitgebers beziehungsweise der Arbeitsmedizin schwerpunktmäßig auf berufsbezogene Aspekte. Für Betroffene wiederum ist es weniger wichtig, welche und wie viele Symptome in welchem Verlauf nötig sind, um eine Diagnose zu stellen. Sie wissen ja, dass es ihnen nicht gut geht. Wenn ein „Störungsmodell“ plausibel erscheint, die Ursachen erklärt (z. B. „zu viel Stress in der Arbeit“) und Lösungsperspektiven offeriert, dann wird es schon stimmen.
Vermengen sich wissenschaftliche und Betroffenenperspektive argumentativ, wie es bei vielen der einleitend von Michael Linden vorgestellten „chronischen Erschöpfungssyndromen“ der Fall ist (s. entsprechenden Beitrag in diesem Heft), so resultieren letztlich diffuse, inhaltlich nicht auflösbare Begriffe. Anhaltende Erschöpfung ist, für sich genommen, unspezifisch und kann diverse Ursachen im biopsychosozialen Spektrum haben. Spezifisch werden diese Phänomene, abgesehen von Fällen, für die sich umschriebene medizinische Gründe (Schilddrüsenunterfunktion etc.) finden lassen, durch die jeweilige Ursachenzuschreibung. Diese wiederum spiegeln die jeweiligen Ideen beziehungsweise Hypothesen der Betroffenen und ihrer Behandelnden. Chronischer Stress als potenziell gesundheitsschädlicher Faktor wurde und wird intensiv wissenschaftlich erforscht (z. B. Koch et al. 2015) und auf breiter Ebene diskutiert. Angesichts dessen überrascht es nicht, dass anhaltendes Erschöpfungserleben von „gestressten“ Menschen vorzugsweise eben auf „Stress“ zurückgeführt wird: „Ich habe viel zu lange viel zu viel für die Firma getan, und nie an mich gedacht. Da muss man ja ausbrennen …“! Aussagen wie diese werden in sozialen Kontexten der westlichen Leistungsgesellschaft spontan als derart plausibel wahrgenommen, dass weitergehende Fragen oft nicht gestellt werden, etwa: Was konkret ist „viel zu viel gearbeitet“? Gibt es wissenschaftliche Daten, die belegen, dass eine zum Beispiel über 40 Stunden/Woche hinausgehende Arbeitszeit zwangsläufig längerfristig krank macht? Sind Menschen tatsächlich wie Batterien, die bei zu großer Belastung energielos werden, mit resultierenden Erschöpfungssymptomen?
Burnout wird entdeckt, erlebt und versuchsweise definiert
Im Gegensatz zu diagnostischen Kategorien wie Melancholie und Depression lässt sich die „Entdeckung“ von Burnout auf eine historische Person zurückführen. Herbert Freudenberger, 1926 in Frankfurt/Main geboren und als Jude noch rechtzeitig über die Schweiz in die USA emigriert, war ein hochaktiver, sozial engagierter Psychologe und Psychoanalytiker. Neben etwa zehn Therapiesitzungen pro Tag supervidierte er unter anderem in sozialen Projekten tätige Kolleginnen und Kollegen. Bei mehr als 10 Arbeitsstunden pro Tag, über Jahre hinweg entwickelte er schließlich eine Erschöpfungssymptomatik. Er entdeckte Burnout also nicht als Problem seiner Klientinnen und Klienten, sondern bei sich selbst (vgl. Hillert u. Marwitz 2006). Herbert Freudenberger erlebte diverse körperliche Symptome, für die sich keine medizinischen Ursachen finden ließen. Er fühlte sich kraftlos, seine Kreativität ließ nach. Dabei war ihm nicht entgangen, dass er zynisch und destruktiv geworden war. In der Publikation „Stuff Burnout“, die 1974 im „Journal of Social Issues“ in New York erschien, beschrieb Herbert Freudenberger diese Konstellation als Burnout, wobei er konstatiert, dass die diesbezügliche Symptomatik bei jeder/jedem Betroffenen anders sein könne. Entscheidend beziehungsweise ursächlich seien vielmehr hohes Engagement (in sozialen Berufen) und schlechte Arbeitsbedingungen. Als Psychoanalytiker hatte er versucht, sich selbst (über Tonbandaufnahmen) zu analysieren. Sein Ergebnis war, dass er beziehungsweise Burnout-Betroffene nicht neurotisch oder psychisch krank sind: „Burnout-Betroffene brauchen keine Psychotherapie, sondern bessere Arbeitsbedingungen!“ Angesichts der Vita von Herbert Freudenberger überrascht diese Einschätzung. Wenn ein Flüchtling alles verliert, könnte das nicht ein erhöhtes finanzielles Absicherungsbedürfnis erklären? Spiegelt soziales Engagement gegebenenfalls eigene Erlebnisse, in denen man selbst substanzielle Unterstützung erfahren hat? Beides hat Herbert Freudenberger erlebt und in Interviews als ihn prägende Faktoren berichtet: Warum ist er in seiner Selbstanalyse nicht eben darauf gestoßen? Dass Burnout-Betroffene die Gründe dafür unschwer außerhalb der eigenen Person finden können, dürfte für die Erfolgsgeschichte des Phänomens nicht unerheblich gewesen sein.
Burnout macht Karriere
Dass sich Burnout zu einem globalen Thema entwickeln konnte, hat darüber hinaus weitere Gründe. Nicht zuletzt, weil der Begriff ein prägnantes, unmittelbar verständliches und emotionales Bild impliziert: „Wer je ein ausgebranntes Haus gesehen hat, der weiß, wie verheerend so etwas ist !“ (Freudenberger 1974; Übers. durch den Autor). Auch die (empirisch nicht haltbare – wie schon Schmitz und Leid 1999 zeigten) Vorstellung, wonach Burnout nur besonders engagierte Menschen treffe, legt die Selbstidentifikation mit dem Phänomen nahe. Betroffene waren zu engagiert, engagierter als andere, was positiv-selbstwertstärkend konnotiert werden kann. Zudem: Burnout ist keine psychische, gegebenenfalls auf in der Person liegende „Mängel“ verweisende psychische Erkrankung und somit nicht beziehungsweise weniger stigmatisierend.
Die wissenschaftliche Reputation von Burnout wurde entscheidend von der Psychologin Christina Maslach geprägt. Im Maslach Burnout-Inventar (MBI) wird Burnout als ein aus drei Faktoren gebildetes Phänomen aufgefasst: emotionale Erschöpfung, Depersonalisierung und reduzierte persönliche Leistungsfähigkeit (Maslach et al. 1996; Maslach u. Leiter 2016). Das MBI mit 25 Fragen und davon abgeleitete Fragebögen (z. B. Kristensen et al. 2005) wurden seit den 1980er Jahren weltweit eingesetzt. Methodisch sind diese Instrumente insofern problematisch, als bereits in den einzelnen Items Symptome und deren Attribution gemeinsam abgefragt werden: „Von meiner Arbeit fühle ich mich ausgebrannt.“ Diese Kontaminationen unterschiedlicher Aspekte bedingt, dass die Ergebnisse von Burnout-Fragebögen statistisch jeweils im mittleren Bereich mit denen von Depressions-Fragebögen, aber auch z. B. mit denen von Berufsmotivation-erfassenden Instrumenten korrelieren (u. a. Hillert et al. 2020). Bis heute gibt es zudem keine in einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe erhobenen Referenzwerte. Dementsprechend muss, etwa wenn als besonders belastet eingeschätzte Berufsgruppen (Lehrkräfte, Ärztinnen/Ärzte etc.) untersucht werden, die statistische Auswertung gruppenintern erfolgen. Ausgehend von einer Normalverteilungskurve der Werte finden sich meist etwa ein Drittel besonders belaststete Personen, was dann wiederum in engagiert geführte berufspolitische Diskussionen einfließt.
Zwischenzeitlich wurden unterschiedliche Burnout-Stadien- beziehungsweise Entwicklungsmodelle postuliert (u. a. Korczak
et al. 2010; Burisch 2014). Diese Modelle versuchen, vermeintlich naturgesetzmäßig ablaufende Entwicklungen zu beschreiben, die von engagierten Beschäftigten über diverse Überlastungsstadien zu Burnout respektive in eine Depression führen. Abgesehen von praktischen Schwierigkeiten der Burnout-Messung (s. oben) und den mit der Durchführung langjähriger Katamnesen verbundenen Problemen bestätigen diese Untersuchungen ursprünglich mit Burnout verbundene Hypothesen nicht. Die Mehrzahl der Untersuchten „brannte“ nicht durch zu viel Arbeit aus. Nicht wenige (z. B. ein Drittel aller Lehramtstudierenden) waren bereits zu Anfang ihrer Berufstätigkeit „ausgebrannt“. Umgekehrt waren es viele besonders engagierte Beschäftigte auch Jahre später nicht (Hillert et al. 2020). Menschen haben also relativ stabile Muster im Umgang mit Arbeitsbelastungen, in gesunder wie auch in weniger gesunder Hinsicht.
Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin (Berger et al. 2012) hat ein Thesenpapier und eine Definition vorgelegt, wonach Burnout ein zwischen noch gesunder Belastung und manifesten psychischen und/oder somatischen Erkrankungen liegender Risikozustand sei. Nachdem allerdings auch hier keine Kriterien genannt werden, anhand derer sich ein solcher Risikozustand als solcher abgrenzen ließe, blieb dieser Vorschlag ohne nachhaltige Resonanz. Im ICD-10 findet sich Burnout entsprechend nur als undefinierte Zusatzkodierung (Z 73.0 – Dilling et al. 2015). Im ICD-11 wird Burnout wohl mit einer an den Maslach-Kriterien orientierten Definition enthalten sein, die unter anderem aber beinhaltet, dass Burnout ausschließlich berufsbezogen zu verstehen sei. Viele sich ausgebrannt fühlende Menschen – zum Beispiel angesichts der Pflege von Angehörigen – werden damit per definitionem als nicht ausgebrannt diagnostiziert, was konzeptuell und diplomatisch schwierig erscheint.
Burnout: ein prägnantes subjektives Störungsmodell
Seit 1974 wurden weit mehr als 100 Burnout-Definitionen vorgeschlagen, zudem wurden mehr als 21.500 mehr oder weniger wissenschaftliche Aufsätze zum Thema publiziert (PsychLit am 12.12.2021). Ein tragfähiger Konsens, unter anderem bezüglich der Diagnosekriterien, zeichnet sich nicht ab. Der Grund dafür dürfte in der eingangs skizzierten Perspektivfrage liegen: Auch wenn Herbert Freudenberger Psychologe war, hat er Burnout ausgehend von seinem Erleben als Betroffener beschrieben. Burnout war somit von Anfang an ein „subjektives Störungsmodell“, das sich schon vom Ansatz her eben nicht deckungsgleich aus Expertenperspektive operationalisieren lässt. Auch wenn diese Quadratur des Kreises weiter versucht werden wird, das Ergebnis ist absehbar. Burnout ist kein naturwissenschaftliches Paradigma (und wird es nie werden). Zwischen Experten- und Betroffenenperspektive gibt es Schnittmengen. In einer großen, wohl annähernd repräsentativen Erhebung gab etwa ein Drittel der Befragten an, sich zumindest gelegentlich/etwas „ausgebrannt“ zu fühlen. Bezüglich des englischen Begriffs „burn-out“ waren es nur knapp zehn Prozent. Von denen, die sich ausgebrannt fühlten, erfüllte jede/jeder fünfte bis sechste Befragte die ICD-10-Kriterien einer Depression. Von den Burnout-Betroffenen war es jede zweite Person (Hillert u. Bäcker 2015). Aus Expertenperspektive identische Begriffe werden von Laien offenbar unterschiedlich konnotiert! Die Hemmschwelle, sich mit dem englischen – damit wohl wie ein Fachwort klingenden – Begriff zu identifizieren, liegt erheblich höher als beim deutschen Begriff „ausgebrannt“. Laien haben damit offenbar auch ein recht sicheres Gefühl für tatsächlich medizinisch relevante Schweregrade.
Burnout ist somit kein Synonym für „Depression“, sondern ein subjektives Störungsmodell! Als solches ist es sozialmedizinisch von hoher – auch wissenschaftlicher – Relevanz. Die verwendeten Begriffe, um unter anderem Überlastungserleben zu kommunizieren, spiegeln jeweils in sozialen Bezugsgruppen immanente Vorstellungen wider (s. oben). Wenn Lehrkräfte sich in Berufsgruppen-übergreifenden Erhebungen als gestresster und ausgebrannter erleben als beispielsweise Intensivmediziner (Kiel et al. 2019), dann ergibt sich daraus ein differenziertes Bild über die Art und Weise, wie in den Berufsgruppen jeweils mit Überlastungskonstellationen umgegangen wird. Die diesbezügliche Schwelle liegt im Lehrerberuf relativ niedrig, bei Intensivmedizinern liegt sie sehr bis gegebenenfalls zu hoch. Beides hat absehbar Vor- und Nachteile, was in präventiven Maßnahmen angemessen berücksichtigt werden sollte (vgl. Hillert et al. 2016; Schießl et al. 2022). Zudem: Ob sich ein sich überlastet und erschöpft fühlender Mensch mit dem deutschen und oder dem englischen Begriff identifiziert, hängt nicht zuletzt auch von seiner sozialen Milieuzugehörigkeit ab. Dabei zeichnet sich ab, dass beispielsweise aufgrund einer Depression behandelte Menschen, die ihren Zustand mit ätiologisch (vermeintlich) erklärenden Begriffen wie Burnout und Ausgebranntsein „erklären“, die depressive Symptomatik selbst als weniger beeinträchtigend erleben als Menschen, denen entsprechende Begrifflichkeiten beziehungsweise Konzepte fehlen (vgl. Stattrop u. Hillert 2019). Aktuell dürften eine der „ausgebranntesten“ Bevölkerungsgruppen Schülerinnen und Schüler an Gymnasien sein, zumal solche, die nicht wissen, welche beruflichen Ziele sie anstreben. Burnout-Erleben (gemessen mit einer Variante des MBI) kann somit nicht (nur) langfristige Überlastung in (Sozial-)Berufen widerspiegeln, sondern auch die Ziellosigkeit und den Frust orientierungsloser Jugendlicher (Hillert et al. 2020).
Was tun angesichts „ausgebrannter“ Menschen?
Was folgt aus der skizzierten Konstellation für die Praxis? Zunächst einmal, dass Burnout-Erleben nicht mit einer psychischen Störung gleichgesetzt werden kann. Die Mehrzahl sich ausgebrannt fühlender Menschen ist nicht depressiv! Ob eine Person psychisch erkrankt ist, muss eigens, ausgehend von den diagnostischen Kriterien, evaluiert werden. Wenn sie erkrankt ist, sollte sie leitlinienorientiert behandelt werden. Unabhängig davon haben „ausgebrannte“ Menschen eine Überlastungssituation kommuniziert, die es als solche nachzuvollziehen gilt und die systemische (etwa über das betriebliche Gesundheitsmanagement) und/oder individuell-präventive bis therapeutische Maßnahmen erfordert. Erholung beziehungsweise das Erlernen von Entspannungsverfahren ist gut, dürfte aber in den wenigsten Fällen allein das Problem lösen. Letztlich geht es darum, entweder die Arbeitssituation zu entschärfen und/oder überlastete Beschäftigte zu befähigen, gesundheitsförderlicher und damit bezüglich ihrer Stressbewältigungsstrategien souveräner (vgl. Shoji et al. 2016) mit den Belastungen umzugehen (z. B. Hillert et al. 2016). Krankschreibungen, so sehr diese aus der Betroffenenperspektive heraus naheliegend erscheinen mögen („Batterien aufladen“), gehen unter anderem mit der Gefahr weiterer Eskalationen am Arbeitsplatz einher und sind somit nur bedingt angemessene Mittel. Zudem: Während Burnout-Prävention bei Angehörigen älterer Generationen traditionell auf Erholung und Entlastung abzielt, brauchen Burnout-Betroffene der jungen (Y- und Z-)Generationen absehbar etwas anderes. Sie brauchen vor allem Angebote, die ihnen helfen, sich in der gegenwärtigen, die kategorische Freiheit postulierenden Postmoderne hinreichend verbindlich orientieren und definieren zu können.
Fazit
Letztlich kommt kein Praktiker am Aus- und Abgleich medizinisch-naturwissenschaftlicher Experten- und Betroffenenperspektiven vorbei. Am Beispiel des Burnout-Phänomens wurde deutlich, dass es dabei dezidiert nicht nur darum gehen kann, zu versuchen, Laien die Expertenperspektive zu vermitteln. Präventionsangebote und Therapien funktionieren nur, wenn sie von den Betroffenen angenommen werden. Dazu ist es unabdingbar, auch deren Perspektive zu berücksichtigen. Die Angebote sollten zudem möglichst wirksam sein, was aus Expertenperspektive zu konzipieren, zu evaluieren und zu beurteilen ist. Wenn die entsprechenden Perspektiven verwechselt und vermengt werden, resultieren konzeptuelle Paradoxien, wie sie exemplarisch die Diskussionen um das Burnout Phänomen bestimmen.
Dass Burnout als wissenschaftliches Paradigma gleichwohl bislang nicht fallen gelassen und beispielsweise durch das erheblich differenzierter operationalisierte Paradigma der „beruflichen Gratifikationskrise“ (Siegrist 2013) ersetzt wurde, erklärt sich mit der Prägnanz und Popularität des Begriffs. In Arbeitskontexten war und ist Burnout als subjektives Störungsmodell gewissermaßen ein Ventil, über das sich Überlastungskonstellationen stigmatisierungsarm kommunizieren lassen. Diesbezüglich ist Burnout aktuell anscheinend unverzichtbar, wobei sich in der differenziellen Konnotation der Begrifflichkeiten (burnout/ausgebrannt) deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen Berufsgruppen, unterschiedlichen sozialen Milieus und Altersgruppen aufzeigen lassen. Als generalisiertes, trotz allem praktisch allgemein „verstandenes“ Kommunikationsmedium wird der Begriff Burnout noch einige Jahre bestehen bleiben. Die Begrifflichkeiten differenziert zu nutzen, um Menschen den Zugang zu idealerweise auf deren spezielle Situation zugeschnittene Präventions- und Therapieangebote zu bahnen, setzt voraus, Burnout nicht als vermeintlich wissenschaftliche Diagnose zu perpetuieren, sondern dessen Qualität als subjektives Störungsmodell zur Konzeption und Umsetzung personenbezogener Angebote zu nutzen.
Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.
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