Sie sind Arbeitsmedizinerin, vertreten seit 1997 das Fachgebiet Arbeitsmedizin und Umweltmedizin in der Bundesärztekammer und sind dort Bereichsleiterin seit 2008. Damit haben Sie eine bedeutende Funktion für die deutsche Arbeitsmedizin an zentraler Stelle. Welche generellen Aufgaben und Strategien sind damit verbunden?
Dr. Schoeller: Bevor ich auf die Aufgaben und Strategien der Bundesärztekammer (BÄK) eingehe, möchte ich betonen: Ja, ich habe die Freude, auch in der Eigenschaft als Fachärztin für Arbeitsmedizin, den Versorgungssektor Arbeitsmedizin berufspolitisch in der BÄK begleiten zu können. Aus meiner Profession heraus bin ich nicht nur auf das Expertenwissen von außen angewiesen, um berufspolitisch tätig zu werden, sondern ich nutze auch die Möglichkeit, selbst Impulse für die Arbeitsmedizin zu setzen – für mich eine ideale Ausgangslage.
Die Bundesärztekammer fasst die Arbeitsmedizin als Versorgungssektor auf, den es berufspolitisch und inhaltlich zu begleiten gilt. Deswegen hat die Arbeitsmedizin – im Gegensatz zu anderen Facharztrichtungen – als präventivmedizinisches Fach auch eigene Gremien in der BÄK. Diese Gremien sind zum einen der „Ausschuss Arbeitsmedizin“, der höchstens fünf Experten umfasst und ein Gremium der BÄK ist, und zum anderen die „Ständige Konferenz Arbeitsmedizin“, die aus etwa 20 Experten der Landesärztekammern zusammengesetzt ist. Eine dritte Gruppe stellen die „Ständigen Gäste“ dar, deren Mitglieder nicht stimmberechtigt sind, aber in der Diskussion ihren Beitrag einbringen können. Dr. Wolter als Präsident der Landesärztekammer Brandenburg und gleichzeitig Mitglied des Vorstands der BÄK ist Vorsitzender beider Gremien. Vorbereitet und betreut werden diese Gremien von Dr. rer. oec. Maas und von mir.
Es existieren noch weitere Gremien in der BÄK, mit über 1000 Experten, die für die BÄK beratend tätig werden. Generelle Aufgaben und Strategien der BÄK sind die Weiterentwicklung der (Muster-)Berufsordnung (M-)BO und die (Muster-)Weiterbildungsordnung (M)WBO. Interessant für das Dezernat „Versorgung und Kooperation mit Gesundheitsfachberufen“ ist insbesondere die (M-)WBO im Hinblick auf das Gebiet Arbeitsmedizin und für die Zusatz-Weiterbildung Betriebsmedizin. Fragen zu bestimmten Themen und Aufgaben in der Arbeitsmedizin, die geklärt werden müssen, landen früher oder später auf meinem Schreibtisch. Themen sind z. B. Stellungnahmen zur Delegation und Substitution von betriebsärztlichen Leistungen, Rolle der Arbeitsmedizin im Betrieblichen Gesundheitsmanagement, in der Betrieblichen Gesundheitsförderung, beim Demografie-Management. Weitere Themen sind das Erkennen von psychischen Gesundheitsrisiken und Ergreifen von Maßnahmen, Anwendung der Gebührenordnung für Ärzte durch Betriebsärzte und Unterstützung der arbeitsmedizinischen Wissenschaft. Ferner ist die Präsenz der Bundesärztekammer als Unterstützerin der Arbeitsmedizin in externen Gremien anderer Institutionen und Organisationen gewährleistet – berufspolitisch und inhaltlich.
Das präventivmedizinisch ausgerichtete Fach Arbeitsmedizin stellt einen Versorgungssektor außerhalb des gesetzlichen Regelungssystems des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) dar. Arbeitsmediziner agieren im gesetzlichen Regelungssystem des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS). Welche Rolle nimmt die Bundesärztekammer in dieser Konstellation ein?
Dr. Schoeller: Ich kann Ihnen nur beipflichten, dass die Arbeitsmedizin hauptsächlich im Regelungsbereich des BMAS agiert. (Es gibt aber einen Berührungspunkt mit dem BMG im Hinblick auf den § 20 SGB V „Betriebliche Gesundheitsförderung.) Für viele Vertreter des BMAS, der Länder, der Berufsgenossenschaften, der BAuA Berlin etc. sind Arbeitsmediziner unverzichtbar. Es gibt leider noch ein gewisses Unverständnis bei der Ärzteschaft und bei der Bevölkerung für das Fach Arbeitsmedizin. Aber nicht nur sie haben das Problem: Vertreter der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) z. B. sehen bedauerlicherweise den großen Profit der Gesundheitskompetenz der Betriebsärzte nicht, sie möchten den arbeitsmedizinischen Nachwuchs der Betriebsärzte nicht fördern, sondern wollen diese z. B.durch sog. „occupational health nurses“ oder Sicherheitsingenieure ersetzen, so Dr. Eichendorf, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der DGUV auf der Konferenz zur Nachwuchssicherung in der Arbeitsmedizin, veranstaltet vom Ausschuss für Arbeitsmedizin des BMAS am 14. 01. 2013. Dabei vergaß er aber zu sagen, dass die Ingenieure weitaus mehr Nachwuchssorgen haben als die Arbeitsmediziner und speziell ausgebildete Krankenschwestern zwar z. B. in Großbritannien tätig werden, es diese Profession in Deutschland aber nicht gibt. Ebenso können auch weitere nichtärztliche Professionen die Betriebsärzte nicht ersetzen. Da ist noch einiges an Überzeugungsarbeit zu leisten.
Der 115. Deutsche Ärztetag 2012 in Nürnberg hat sich erstmals ausführlich mit der Arbeitsmedizin als wichtigem medizinischem Versorgungssektor befasst. Welche Signale gingen davon aus?
Dr. Schoeller: Ein wichtiges Signal des 115. Deutsche Ärztetages ist die Entschließung „Prävention in der Arbeitswelt – Möglichkeiten und Chancen in der betriebsärztlichen Versorgung“, die vom Deutschen Ärztetag einstimmig gefasst worden ist. Diese Entschließung mit Appellen und Forderungen wird an Bund und Länderregierungen, an viele Organisationen und Institutionen versandt, die sich mit der Entschließung auseinandersetzen.
Diese Entschließung und auch den hervorragenden Vortrag Prof. Dr. Letzels u. v. m. haben wir in der August-Ausgabe 2012 von ASUpraxis veröffentlicht. Die Kernaussage der Entschließung ist, dass nach der Studie „Vorteil Vorsorge – Die Rolle der betrieblichen Prävention für die Zukunftsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland“ von Booz & Company sich jeder Euro, der in betriebliche Gesundheitsförderung und Prävention investiert wird, für die Unternehmen und die Volkswirtschaft mit 5 bis 16 Euro auszahlt.
Es wird ebenso auf die besondere Rolle der Betriebsärzte im Betrieb eingegangen. Diese sind aufgrund ihrer Aus- und Weiterbildung die Einzigen, die sowohl die medizinischen Befunde interpretieren können als auch die Arbeitsbedingungen des Betriebs kennen. Die Vorsorge geschieht mit Mitteln der Primärprävention „Schadensverhütung“, Sekundärprävention „Früherkennung“ und Tertiärprävention „berufliche Wiedereingliederung“. Eine Herausforderung für die Arbeitsmedizin stellt das zunehmende Alter der Belegschaften durch den demografischen Wandel und damit eine absehbare Zunahme chronisch Kranker in den Unternehmen dar. Bei einer länger werdenden Lebensarbeitszeit müssen ältere Beschäftigte und chronisch Kranke gezielter bei präventiven Maßnahmen berücksichtigt werden.
Ausgehend von der betriebsärztlichen Versorgung haben Unternehmer nach dem Arbeitssicherheitsgesetz die Aufgabe, von der beruflichen Tätigkeit ausgehende Gefahren für die Beschäftigten abzuwenden. Welche Ziele einer wirksamen Gesundheitsvorsorge am Arbeitsplatz favorisiert die Bundesärztekammer in diesem Zusammenhang, gerade auch vor dem Hintergrund neuerer arbeitsmedizinischer Problemfelder und rechtlicher Grundlagen?
Dr. Schoeller: Neue „Handlungsfelder“ sind für mich u. a.: Gesunderhaltung älter werdender Belegschaften und psychische Gesundheit im Betrieb. Die Bundesärztekammer sieht mehrere Ansatzpunkte: Das System der sozialen Sicherung, wie der staatliche Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie die gesetzlichen Unfall-, Renten- und Krankenversicherungen (GKV), hat gesetzliche Aufgaben in der betrieblichen Gesundheitsförderung und in der Prävention. Deren Zusammenarbeit muss optimiert werden, damit Beschäftigte ohne Verzögerung präventiv versorgt werden können.
Die Arbeitsmedizin und die betriebsärztliche Betreuung müssen zu einer“ zentralen Säule“ der Gesundheitsvorsorge in Deutschland ausgebaut werden. Betriebsärzte erreichen auch diejenigen Menschen, die aus eigener Initiative keine präventiven Maßnahmen in Anspruch nehmen. Betriebsärztinnen und Betriebsärzte im Unternehmen haben eine wichtige Lotsenfunktion auch im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements zwischen präventiver und kurativer Medizin. Ein regionales sektorenübergreifendes Konzept zur Vernetzung von Prävention durch den Betriebsarzt im Betrieb sowie weitere Diagnostik und Therapie durch niedergelassene Haus- und Fachärzte oder Kliniken muss unterstützt werden. Als Grundlage für eine evidenzbasierte betriebliche Prävention und praktische Arbeitsmedizin bedarf es dringend vermehrter arbeitsmedizinischer Forschung, die sowohl den Wandel der Arbeitswelt als auch die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen berücksichtigt.
Welchen Einfluss hat die Veränderung der betriebsärztlichen Tätigkeitsfelder von den klassischen Berufskrankheiten und Arbeitsunfällen hin zu den immer häufiger auftretenden psychosozialen Belastungen und Gefährdungen und der Wiedereingliederung von chronisch kranken Arbeitsnehmern auf die Fort- und Weiterbildung von Arbeitsmedizinern? Welche Kenntnisse und Fähigkeiten werden neben der fachlichen Qualifikation von Arbeitsmedizinern in der betriebsärztlichen Praxis zunehmend erforderlich und ihr Nachweis obligatorisch?
Dr. Schoeller: Um die arbeitsmedizinische Fachkunde zu erlangen, bedarf es neben der praktischen Weiterbildung der Absolvierung eines theoretischen Kurses von 360 Stunden. Der Weiterbildungskurs wird auf Basis eines Kursbuches Arbeitsmedizin/Betriebsmedizin weiterentwickelt, um auch neue Herausforderungen der Arbeitsmedizin meistern zu können. Die Weiterbildungsinhalte werden neu gewichtet. Nach der (Muster-)Berufsordnung ist jede Ärztin, jeder Arzt verpflichtet, sich fortzubilden. So werden zunehmend Fortbildungskurse angeboten, die diese Inhalte vermitteln. Im Hinblick auf die psychische Gesundheit im Betrieb hat der VDBW einen Fortbildungskurs mit Psychosomatikern entwickelt. Zum Thema Tertiärprävention oder Wiedereingliederung – „Return to Work“ – von psychisch erkrankten Menschen hat die BÄK zusammen mit dem Aktionsbündnis Seelische Gesundheit ein Symposium im September 2012 veranstaltet. Dieses Symposium findet alle ein bis zwei Jahre statt, mit dem Fokus auf Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention. Konzepte der Kooperation mit Hausärzten und Fachärzten werden vorgestellt. Wer Defizite bei sich identifiziert, soll sich auch weiterqualifizieren, aber zusätzliche Pflichtkurse, die viel Geld kosten, werden von der Bundesärztekammer abgelehnt.
Ein derzeit kontrovers diskutiertes Thema ist die Sicherung der arbeitsmedizinischen Versorgung in den Betrieben vor dem Hintergrund des demografischen Wandels bei den Arbeitsmedizinern. Die Kompetenz in Gesundheitsfragen des Betriebs haben vor allem Betriebsärzte als Experten der Präventivmedizin und mit spezieller Erfahrung beim Wiedereingliederungsmanagement. Fremde Berufsgruppen haben hierfür nicht die erforderliche Qualifikation. Wie aber löst die Arbeitsmedizin das Problem abnehmender Betriebsärztezahlen und fehlenden Nachwuchses? Welche Gremien befassen sich damit?
Dr. Schoeller: Die BÄK erstellt seit 1988 eine Statistik „Arbeitsmedizinische Fachkunde, seit dem Jahr 2007 auch aufgeschlüsselt nach Altersgruppen. Insgesamt zeigt diese „Arbeitsmedizinische Statistik“, dass in den nächsten Jahren deutlich mehr Betriebsärztinnen und Betriebsärzte aus der betriebsärztlichen Tätigkeit ausscheiden als nachwachsen werden. Mittlerweile – im Jahr 2012 – zeigt sich dieser Mangel an Betriebsärztinnen und -ärzten aber noch nicht eklatant. Es muss gegengesteuert werden. Ziel muss es sein, die Arbeitsmedizin für den Nachwuchs attraktiver zu machen. Dies bedeutet auf jeden Fall, dass die Arbeitsbedingungen und die Vergütung der Ärztinnen und Ärzte, auch in der Weiterbildung deutlich verbessert werden müssen – dann wird sich auch der Nachwuchs in der Arbeitsmedizin einstellen und verbleiben, da bin ich mir sicher. Aber auch in der Öffentlichkeit und in den Betrieben muss noch deutlicher werden, dass das präventivmedizinisch ausgerichtete Fach Arbeitsmedizin und die Zusatzqualifikation Betriebsmedizin – als die Kompetenz in der Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention – einen wichtigen Platz im Arbeitsschutz und im Gesundheitssystem einnehmen.
Hier heißt es nun, entschieden zu handeln. Ein Schritt in die richtige Richtung: Der Ausschuss „Arbeitsmedizin“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales führte eine „Konferenz zur Sicherung des arbeitsmedizinischen Nachwuchses“ am 14. 01. 2013 durch. In diesem Ausschuss sind die Arbeitgeber, die Gewerkschaften, die Länderbehörden, die Gesetzliche Unfallversicherung und die arbeitsmedizinische Wissenschaft sowie die Bundesärztekammer vertreten. Im Ausschuss für Arbeitsmedizin ist somit breiter arbeitsmedizinischer Sachverstand vereint. Von dieser Konferenz werden sicher wesentliche Impulse zur Nachwuchssicherung ausgehen.
Diese Konferenz war ein guter Start, gemeinsam – jeder an seiner Stelle – seinen Beitrag zur Nachwuchssicherung in der Arbeitsmedizin zu leisten. Denn es gibt genug Ärztinnen und Ärzte, die ihre Weiterbildung beginnen, aber aufgrund der Arbeitsbedingungen das Handtuch werfen. Hier heißt es, im Rahmen einer konzertierten Aktion aller Akteure im Arbeitsschutz die Arbeitsmedizin auf hohem Niveau möglich zu machen. Es ist zu hoffen, dass das Unterschreiben einer entsprechenden Resolution Signalwirkung haben wird.
Am 01. 01. 2011 trat die Unfallverhütungsvorschrift Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit (DGUV-Vorschrift 2) in Kraft. Diese Vorschrift wurde seitdem vielfältig und kontrovers diskutiert. Bitte erläutern Sie doch unseren Lesern die Zusammenhänge und Auswirkungen dieser Vorschrift in der Praxis.
Dr. Schoeller: Die Regelungen der DGUV-Vorschrift 2 sollen dem aktuellen Arbeitsschutz entsprechen und gleichartige Anforderungen für gleichartige Betriebe sicherstellen. Dabei soll die individuelle Gefährdungssituation der Betriebe berücksichtigt und die Eigenverantwortung der Unternehmer gestärkt werden. Im Mittelpunkt der Reform steht das neue Konzept der Regelbetreuung der Betriebe mit mehr als zehn Beschäftigten. Die betriebsärztliche und sicherheitstechnische Betreuung besteht hier aus zwei neuen Komponenten: Grundbetreuung und die betriebsspezifische Betreuung. Für die Grundbetreuung werden Einsatzzeiten vorgegeben mit gemeinsamen Einsatzzeiten für Betriebsarzt und Fachkraft für Arbeitssicherheit (sog. „Summenwerte“). Die Einsatzzeiten dürfen nicht weniger als 20 % für einen Beteiligten, mindestens 0,2 Std./Jahr je Beschäftigten sein. Die betriebsspezifische Betreuung erfolgt durch den Unternehmer durch die Ermittlung von Dauer und Umfang der Betreuung. Der Unternehmer hat die Betreuungsleistung schriftlich mit dem Betriebsarzt/Fachkraft für Arbeitssicherheit festzulegen. Es sind keine fixen Einsatzzeiten vorgesehen. Die Festlegung der Einsatzzeiten erfolgt nach Bedarf. Vertreter der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) loben die neue DGUV-Vorschrift 2 als einen „bedeutenden Schritt der Geschichte der Unfallverhütungsvorschriften“ und wird als „ambitioniertes Reformvorhaben“ angepriesen. Mit Skepsis wird jedoch die DGUV-Vorschrift 2 „Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit“ zur arbeitsmedizinischen und sicherheitstechnischen Betreuung in den Betrieben von den Betriebsmedizinern gesehen. Sie haben sich strikt gegen viele inhaltliche Festlegungen ausgesprochen, wie insbesondere gegen die gemeinsame Einsatzzeit von Arbeitsmedizinern und Fachkräften für Arbeitssicherheit. Diese neue „Philosophie“ der DGUV spricht von einem tiefen Unverständnis dafür, was Betriebsärzte und was Fachkräfte für Arbeitssicherheit leisten können. Andere Professionen im Arbeitsschutz haben diese ärztliche Kompetenz nun mal nicht. Es wird aber befürchtet, dass weiterhin weitestgehend nur die Fachkräfte für Arbeitssicherheit rekrutiert werden.
Das Besondere an dem betriebsspezifischen Teil der Betreuung ist – wie von der DGUV herausgestellt – die individuelle Ermittlung des Betreuungsbedarfs durch den Unternehmer. In diesem Verfahren werden Aufgabenfelder sowie Auslöse- und Aufwandskriterien berücksichtigt. Das Verfahren erfordert, dass der Unternehmer alle Aufgabenfelder hinsichtlich ihrer Relevanz für die betriebsärztliche und sicherheitstechnische Betreuung regelmäßig, insbesondere nach wesentlichen Änderungen prüft. Aufgabenfelder sind:
- Anforderungen aus der Arbeitsaufgabe mit Potenzialen von psychischen und physischen Fehlbeanspruchungen,
- Mitwirkung im Rahmen eines betrieblichen Wiedereingliederungsmanagements,
- Sicherheit und Gesundheit unter den Bedingungen des demografischen Marktwandels,
- Arbeitsorganisation zur Vermeidung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren im Zusammenhang mit der Arbeit,
- überdurchschnittlicher Krankenstand,
- Unterstützung bei der Weiterentwicklung eines Gesundheitsmanagements,
- Verminderung der Defizite in der menschen- und gesundheitsgerechten Gestaltung von Arbeitsaufgaben, Arbeitsorganisation und Arbeitsumgebung im Hinblick auf den Erhalt der gesundheitlichen Ressourcen,
- Erhöhung der Gesundheitskompetenz der Beschäftigten zum Erhalt der gesundheitlichen Ressourcen im Zusammenhang mit der Arbeit,
- Unterstützung von Programmen und Aktionen zur Gesundheitsförderung.
Die Aufgabenfelder entsprechen den heutigen Anforderungen im Betrieb. Um kompetent diese Aufgaben zu meistern, bedarf es eines Betrieblichen Gesundheitsmanagements mit der Ärztin/dem Arzt als Koordinator. Um qualitativ hochwertig arbeiten zu können, sind entsprechende Einsatzzeiten des Betriebsarztes vorzusehen. Wenn der Arbeitgeber sich dafür entscheidet, dann kann viel für die Gesundheit des Einzelnen im Betrieb getan werden.
Ein weiteres für unsere Leser interessantes Thema ist die Betriebliche Gesundheitsförderung nach dem SGB V mit Fokus auf den Betrieb. Diese ist eingebettet in die „Nationale Präventionsstrategie“ des Bundesministeriums für Gesundheit mit den Regelungsbereichen „Prävention arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren“ und „Primäre Prävention durch Schutzimpfungen“. Hier sind auch die Krankenkassen involviert. Wie greifen diese Bereiche ineinander und wie setzt der Betriebsarzt vor Ort diese Regelungen um?
Dr. Schoeller: Herr Keuchen, dies ist eine sehr spannende und eine sehr aktuelle Frage von Ihnen. Seit den 80er Jahren dürfen die Krankenkassen nach § 20 Sozialgesetzbuch V betriebliche Gesundheitsförderung durchführen und gegen arbeitsbedingte Krankheiten angehen. Aber die präventiven ärztlichen Leistungen werden bislang meist nur den Hausärzten vergütet. Vereinzelt haben Krankenkassen mit Betrieben oder mit Betriebsärzten Verträge abgeschlossen, z. B. Impfvereinbarungen. Die meisten Leistungen der Betriebsärzte in der Primär- und Sekundärprävention, wie z. B. Gesundheitschecks im Rahmen von „Gesundheitstagen“, werden auf freiwilliger Basis von den Arbeitgebern vergütet oder die Krankenkassen haben den Betriebsärzten nur die Sachleistungen, z. B. Impfstoff, bezahlt. Deswegen hat der 115. Deutsche Ärztetag 2012 gefordert, dass mit Hilfe der Präventionsstrategie des BMG die präventive Ausrichtung des Gesundheitswesens verstärkt werden muss. Eine qualitätsgesicherte betriebliche Gesundheitsförderung nach den betriebsärztlichen Regeln und Erkenntnissen sollte durch die GKV nach §§ 20a,b, 65a SGB V in der Region gewährleistet werden. Betriebsärzte und Hausärzte müssen die gleichen Leistungsvergütungen durch die GKV für Vorsorgemaßnahmen wie z. B. Impfungen oder Krebsvorsorge erhalten.
Am 21. Januar 2013 wurde der BÄK der Entwurf eines „Gesetzes zur Förderung der Prävention“ zur Stellungnahme übersandt. Dieser Entwurf sieht die Aufnahme der betriebsärztlichen Leistung im primär- und sekundärpräventiven Bereich als ärztliche Leistung vor, die nunmehr mit dem Krankenkassen abgerechnet werden können. Es ist dem Umstand Rechnung getragen worden, dass die Arbeitswelt ein Setting mit 40 Mio. Arbeitnehmern darstellt, die vom Betriebsarzt erreicht werden können. Viele der Arbeitnehmer suchen sehr selten den Hausarzt auf. Hier besteht die Chance, dass der Betriebsarzt bei einem Arbeitnehmer im Rahmen einer Gesundheitsuntersuchung z. B. einen Bluthochdruck entdeckt und so den Arbeitnehmer dem Hausarzt zur weiteren Diagnostik und Therapie zugeführt werden kann. Die BÄK begrüßt ausdrücklich den Einbezug der Betriebsärzte in die Vorschrift des § 20a SGB V sowie die Einführung von Gruppentarifen bzw. Vereinbarungen zur Durchführung von Schutzimpfungen mit Betriebsärzten, ebenso begrüßt sie die Vorschrift des § 132e Absatz 1 Satz 1. Die Krankenkassen können nun auch Verträge mit Betriebsärzten über die Durchführung von Schutzimpfungen abschließen. Diese Klarstellung wird das Verfahren in den Betrieben deutlich erleichtern. Ich hoffe, dass dieser Entwurf eines Gesetzes auch vom Gesetzgeber verabschiedet wird.
Im Jahre 2008 wurde mit der „Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge“ (ArbMedVV) ein Jahr später auch der „Ausschuss für Arbeitsmedizin“ (AfAMed) vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gegründet – eine Rechtsgrundlage für die Konzeptentwicklung zukunftsorientierter arbeitsmedizinischer Vorsorge. Können Sie uns etwas über die Struktur und Arbeitsweise sowie die bisher erreichten Ergebnisse des Ausschusses sagen?
Dr. Schoeller: Der 115. Deutsche Ärztetag 2012 hat die Ausrichtung des „Ausschusses Arbeitsmedizin“ des BMAS positiv bewertet, weil dort die arbeitsmedizinische Vorsorge – auch mittels der Expertise der Bundesärztekammer – weiterentwickelt wird. Dieses Expertengremium wendet sich den Herausforderungen zu, die sich aus der Dynamik und Komplexität der modernen Arbeitswelten ergeben. Dort werden Regeln zur arbeitsmedizinischen Vorsorge entwickelt. In diesem Gremium sind – meist Ärzte – Vertreter von Bund und Ländern, Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter und Vertreter der arbeitsmedizinischen Wissenschaft und die Bundesärztekammer vertreten. (Entschließung des 115. DÄT 2012 Drs. VI-1). Zudem werden dort Arbeitshilfen für Betriebsärzte erarbeitet. Eine viel gelesene Publikation „Psychische Gesundheit im Betrieb“ des AfAMed liegt mittlerweile in der 2. Auflage vor. Die erste Auflage mit 10 000 Exemplaren war schon nach wenigen Monaten vergriffen. Ein Erfolg des AfAMed. Weitere Publikationen zur Beschäftigungsfähigkeit, Zeitarbeit etc. werden folgen. Dieses Gremium hat auch den vielbeachteten Kongress zur Sicherung des arbeitsmedizinischen Nachwuchses am 14. 01. 2013 ausgerichtet.
Wir sehen, dass Sie mit der Bereichsleitung Arbeitsmedizin wegen der vielen mitwirkenden Institutionen einen sehr hohen Koordinierungsaufwand haben. Wie organisieren Sie die Zusammenarbeit u. a. mit der DGUV, DGAUM, VDBW, BAUA, den Bundesministerien, den Ausschüssen, den EU-Institutionen, dem außereuropäischen Ausland usw.?
Dr. Schoeller: Ja, es stimmt, ich bin in zahlreichen externen Gremien. Um die Termine wahrnehmen zu können bedarf es eines guten Zeitmanagements. Wenn mehrere Termine kollidieren, muss abgewogen werden, welcher dann auch wahrgenommen wird. Wichtig bei der Arbeit mit externen Gremien von anderer Organisationen und Institutionen ist Kontaktpflege mit den agierenden Menschen, damit eine vertrauensvoll konstruktive Zusammenarbeit gelingt. Es muss ein Netzwerk geschaffen werden.
Sie sind zusätzlich auch Pandemiebeauftragte der Bundesärztekammer. Welche Aufgaben sind für Sie damit verbunden?
Dr. Schoeller: Im Jahr 2005 appellierten Bund und Länder an die Bundesärztekammer und an die Kassenärztliche Bundesvereinigung, sich an der Pandemieplanung und -bewältigung zu beteiligen. Der Vorstand der Bundesärztekammer hat sich mit dieser Forderung befasst. Er hat die Pandemieplanung und -bewältigung als eine gesamtstaatliche Aufgabe angesehen, bei der die Bundesärztekammer und die Landesärztekammer ihren Beitrag zu leisten haben. Ich wurde beauftragt, auf unterschiedlichen Ebenen Strukturen z. B. der Informationsweitergabe an die Landesärztekammern und den Kammermitgliedern aufzubauen. Hierzu wurde z. B. eine Pandemiedatenbank der BÄK und eine Seite auf der Homepage der BÄK eingerichtet. Eine Arbeitsgruppe „Pandemiebeauftragte der Landesärztekammern“ wurde in der Bundesärztekammer etabliert, die in der Hochphase der „Vogelgrippe“ sechsmal pro Jahr tagte, um sich auszutauschen und Synergieeffekte zu erhalten. Es wurden zahlreiche Empfehlungen zusammen mit der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), KBV und BÄK erarbeitet. Ferner wurde die Broschüre „Risikomanagement in der Arztpraxis“ gemeinsam mit der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der BÄK von vielen Institutionen als sehr hilfreich angesehen. Es wurde ein guter Kontakt mit der Bund- und Länder-Arbeitsgruppe, mit dem Robert Koch-Institut (RKI) und mit der Bundesanstalt für Bevölkerungshilfe und Katastrophenschutz (BBK) aufgebaut. Eine schwere Pandemie mit Gefahr für Bevölkerung, Wirtschaft und Gesellschaft wurde in der BBK-Zentrale Ahrweiler unter der Führung des BBK und des RKI und u. a. Beteiligung der BÄK durch meine Person virtuell mehrere Tage geübt. Das war eine sehr interessante Erfahrung. Der Ausschuss und die Konferenz „Arbeitsmedizin“ der BÄK haben sich für eine koordinierende Rolle der Betriebsärzte bei der Pandemieplanung und -bewältigung ausgesprochen. Am 30. Januar 2013 war ich zuletzt als Pandemiebeauftragte aktiv. Ich nahm als Expertin an einer Anhörung des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages teil, um die Einschätzung der BÄK zur Pandemieplanung und -bewältigung der so genannten „Schweinegrippe“ 2009 beizusteuern.
Schließlich, und dafür ist Ihnen diese Redaktion sehr dankbar, wirken Sie als Mitglied der ASU-Schriftleitung und der ASUpraxis-Redaktion beratend und auch als Autorin aktiv mit und sind auch mit Fachbuchbeiträgen im Medizinprogramm des Verlags präsent. Welche Rolle spielt für Sie persönlich und für die Bundesärztekammer diese Zeitschrift für Arbeitsmedizin?
Dr. Schoeller: Beratend für die ASU tätig zu sein und auch das Verfassen von Beiträgen ist für mich eine reizvolle Aufgabe und ich möchte sie nicht missen. ASU ist für mich das Sprachrohr für die Wissenschaftler des Faches und für die praktisch tätigen Betriebsärzte. Hier kann man sich über die neuesten Entwicklungen der Wissenschaft und des Faches informieren. Nicht nur mir hat vor vielen Jahren ein Redakteur der Deutschen Ärzteblattes vorgehalten: „Die Bundesärztekammer weiß alles, aber spricht nicht darüber“. Da habe ich mir gedacht: Nicht mit mir! Seitdem schreibe ich über die neuesten Anforderungen und Erkenntnisse in der Arbeitsmedizin in der ASU, um das Informationsbedürfnis der Arbeitsmediziner und Betriebsärzte zu stillen. Zum Beispiel habe ich die Thematik „Wann darf ich die GOÄ anwenden, ohne die Schweigepflicht zu verletzten?“ aus datenschutzrechtlichen und juristischen Gesichtspunkten prüfen lassen. Das Ergebnis der Prüfung über Möglichkeiten und Grenzen wird in diesem Heft (s. S. 101) den anwendenden Betriebsärzten dargelegt.
Gestatten Sie noch zum Schluss die Frage, ob Sie auch als Betriebsärztin noch praktisch tätig sein können und wo? Zudem sind Sie Lehrbeauftragte für „Arbeitsmedizin“. Angesichts der Fülle Ihrer Aufgaben und Verantwortung fragen wir auch, wie Sie dies im Alltag managen?
Dr. Schoeller: Ich gebe zu, das Managen ist nicht immer einfach… Ich muss bewusst Strukturen aufbauen, damit meine „Work-Life-Balance“ erhalten bleibt. Aber wenn die Arbeit Spaß macht, beflügelt sie auch – das weiß man nicht nur als Arbeitsmedizinerin. Betriebsärztlich bin ich in Verwaltungen tätig. Es nimmt nicht viel meiner Tätigkeit in Anspruch, aber ich bleibe so in der praktischen Arbeitsmedizin präsent. In der Bundesärztekammer bin ich Sicherheitsbeauftragte und nehme als solche an den ASA-Sitzungen teil, also vertrete ich dort die Belegschaft. Dies hat auch seinen Charme. Bewusst habe ich mich entschieden, nicht gleichzeitig Mitarbeiterin in der Geschäftsführung der Bundesärztekammer und deren Betriebsärztin zu sein, so kann möglichen Interessenkonflikten ausgewichen werden. Darüber hinaus bin ich in mehreren arbeitsmedizinischen Akademien als Dozentin tätig, das macht mir viel Freude. Auch erhalte ich dort „aus erster Hand“ Informationen über die Sorgen und Nöte unseres arbeitsmedizinischen Nachwuchses. Dieses Wissen fließt dann auch in meine Tätigkeit in der Bundesärztekammer ein. Der Lehrauftrag in Arbeitsmedizin gibt mir die Möglichkeit, meine Begeisterung für den „Versorgungssektor Arbeitsmedizin“ den Studenten weiterzugeben, in der Hoffnung, dass dann der Funke überspringt. Bei mir hat es ja damals schließlich auch „gefunkt“. Als Jugendliche absolvierte ich in den Schulferien ein Praktikum bei Siemens. Die damalige Betriebsärztin kennen bestimmt viele – sie hieß damals Frau Dr. Borsch-Galetke, heute Prof. Dr. Borsch-Galetke (em.), ehemalige Direktorin des Instituts für Arbeitsmedizin und Sozialmedizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Die Arbeitswelt mit riesigen Werkshallen, Staub und Lärm haben mich damals tief beeindruckt und die Arbeitsmedizin war für mich schon damals eine Option – die ja später schließlich Wirklichkeit wurde. Deswegen unterstütze ich das Bestreben, dass die Famulatur und das Praktische Jahr auch in der Arbeitsmedizin für Studentinnen und Studenten der Humanmedizin geöffnet werden. Die derzeitige Approbation sieht dies leider nicht vor. Es gibt also viel zu tun – packen wir es an!
Herzlichen Dank für dieses Interview!
Info
ASMK Beschluss: http://www.lag-wfbm-niedersachsen.de/Aktuelles/121219_Art113-12ASMK89-ProtokollauszugEinGlHi.pdf
Info
Info
Das Gespräch führte
Gentner Verlag, Stuttgart