ASU: Herr Dr. Panter, Sie sind Präsident des Verbandes Deutscher Betriebs- und Werksärzte e. V. (VDBW) und selbst hauptberuflich als Betriebsarzt tätig – seit 1984 sind Sie Leitender Betriebsarzt der Hüttenwerke Krupp Mannesmann GmbH in Duisburg. Damit sind Sie in Ihrer Arbeit sehr „nah an den Menschen“. Welche neuen Herausforderungen merken Sie, die die heutige Arbeitswelt an Arbeitnehmer, Arbeitgeber, aber auch an die Betriebsärzte stellt?
Dr. Panter: Die Arbeitssituation unterliegt einem ständigen Wandel und die Änderungsgeschwindigkeit nimmt zu. In der heutigen Arbeitswelt ist Flexibilität gefragt: Flexibilität des Arbeitsortes, der Arbeitszeit, der Arbeitsstruktur. Langfristig planbare, linear verlaufende Berufs- und Karrierewege sind mittlerweile selten. Die Zeitarbeit hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen.
Die Internationalisierung der Märkte, die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien sowie der demografische Wandel sind wichtige Veränderungstreiber, die unter anderem auch die Sozialstrukturen unserer Gesellschaft verändert haben. In dieser neuen, flexiblen Welt sind flexible Lösungssysteme notwendig. Wir brauchen mehr denn je präventive und integrierte Gesundheits- und Versorgungskonzepte für alle Mitarbeiter. Die flexible Struktur der heutigen Arbeitswelt ist Chance, aber auch Herausforderung zugleich – sowohl für Arbeitnehmer wie Arbeitgeber und natürlich auch für uns Betriebsärzte.
ASU: Welche sind einige der „modernen“ Erkrankungen? Welche „Symptome“ weisen sie auf? Beschreiben Sie die heutigen Probleme am Arbeitsplatz, die uns auch in Zukunft beschäftigen werden.
Dr. Panter: Ich will hier zunächst den Philosophen Ernst Bloch zitieren: „Gesundheit ist überhaupt nicht nur ein medizinischer, sondern überwiegend ein gesellschaftlicher Begriff“. Die Gesellschaft prägt also auch Krankheiten. Das verändert Leben an sich, führt auch zu Veränderungen von Gesundheit und Krankheit. Berufskrankheiten wie Lärmschwerhörigkeit oder Berufsdermatosen sind nicht die einzigen arbeitsmedizinischen Fragenstellungen. Betriebsärzte von heute sind mit ganz anderen Fragestellungen als früher konfrontiert. Der technische Fortschritt, die zunehmende Digitalisierung und die Globalisierung führen dazu, dass körperliche Arbeit immer mehr abnimmt. Dafür wird die Kopfarbeit immer wichtiger und die Komplexität nimmt deutlich zu. Diese Entwicklungen wirken sich natürlich auch aus. Psychische Erkrankungen sind heute häufiger, was sicherlich nicht nur mit den beruflichen Veränderungen, sondern auch mit vielen persönlichen Veränderungen zusammenhängt. Das Empfinden von Stress ist in vielen Berufsgruppen heute Realität. Und dabei ist auch zu betrachten, dass die gleiche Arbeitssituation von dem einen Mitarbeiter als Stress empfunden wird und der andere dies ausdrücklich nicht als Stress empfindet. Dieses Thema in seinen vielfältigen Facetten wird uns zukünftig verstärkt beschäftigen.
ASU: Der Slogan Ihres Verbandes lautet „Gesunde Mitarbeiter – gesunde Unternehmen. Betriebsärzte helfen“. Das ist ein hoher Anspruch angesichts der immer komplexer werdenden Arbeitswelt. Auf welche Themen und Probleme konzentriert sich Ihr Verband vorrangig?
Dr. Panter: Wir konzentrieren uns auf die vordringlichsten Themenstellungen. Da sich Deutschland in den nächsten Jahren noch stärker als andere Länder einer massiven Alterung der Bevölkerung und damit der Belegschaften ausgesetzt sieht, das Renteneintrittsalter sich erhöht und der Fachkräftemangel in vielen Bereichen zum relevanten Faktor wird, ist der Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit auch ein zentrales Problem. Die Fragen, wie lange wir arbeiten wollen, wie lange wir arbeiten können und was wir im Kontext des demografischen Wandels konkret tun können, werden uns zukünftig intensiver beschäftigen. Diese Fragestellungen stehen für uns ganz oben an. In Kürze werden wir beispielsweise den Leitfaden für Betriebsärzte und Verantwortliche in Unternehmen zum Thema „Beschäftigungsfähigkeit im demografischen Wandel“ veröffentlichen.
Schon seit 2008 setzen wir uns im VDBW mit dem Thema Psychische Gesundheit intensiv auseinander. Damals haben wir den ersten Leitfaden herausgegeben. Gefolgt wurde er von vielen Veranstaltungen und Qualifizierungen gemeinsam mit Hochschulen. Jetzt ist das Thema auch in den Medien bzw. in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen – also wir sind hier auf einem guten Weg.
Dem Thema Beschäftigungsfähigkeit wird vor allem durch Prävention und aktive Gesundheitsförderung ein hoher Stellenwert beigemessen. Von einer bundesweiten, flächendeckenden und umfassenden Prävention sind wir noch weit entfernt. Leider lassen wir es zu, dass viele Menschen vorzeitig aus dem Berufsleben ausscheiden müssen – aufgrund von Erkrankungen, die durch Präventionsmaßnahmen vermeidbar wären. Deutschland braucht ein deutliches Mehr an Prävention und Gesundheitsförderung – dies ist eine sehr aktuelle und zukunftsentscheidende Aufgabe, die sich der VDBW prioritär vornimmt.
ASU: Von einem Anstieg der psychischen Erkrankungen berichten auch viele der Gesundheitsreporte der Krankenkassen. Wie können Unternehmen bzw. Führungskräfte die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter fördern?
Dr. Panter: Unternehmen haben ein großes und nicht nur ökonomisches Interesse an gesunden Mitarbeitern. Dabei liegen viele Ursachen psychischer Belastungen ganz überwiegend in der Verantwortung des Managements.
Vielen Chefs fehlt noch das Gespür für die Gesundheit ihrer Mitarbeiter. Angesichts der veränderten Arbeitswelt brauchen wir eine neue Führungskultur, die kommunikativer, kooperativer und weniger konfrontativ ist. Das Umdenken fängt schon bei der Frage an, was wir unter Führungseigenschaften verstehen. Bis vor kurzem herrschte immer die Vorstellung, dass der/die fachlich Beste zur Führungskraft wird. Von dieser Vorstellung sollten wir uns aber spätestens jetzt verabschieden.
Die Führungskräfte der Zukunft haben neben der fachlichen auch eine starke soziale Kompetenz. Führungskräfte sollten sich außerdem der Verantwortung für die eigene Gesundheit bewusst sein. Auch hier ist ihre Vorbildrolle nicht zu vergessen. Die Vorbildfunktion gilt im Übrigen auch für uns Betriebsärzte, denn Führung bedeutet nicht alleine Mitarbeiterführung, sondern zeigt sich beispielsweise auch im Umgang mit der eigenen Gesundheit, in der ärztlichen Gesprächsführung und vielen anderen Lebensbereichen.
Neben einer achtsamen Führungskultur können aber auch die flexible Gestaltung von Arbeit und Arbeitszeiten, verschiedene Formen von Sabbaticals, regelmäßige Mitarbeiter-Befragungen, Coachings und psychosoziale Check-ups, gezielte Fort- und Weiterbildungsangebote sowie Fitness- und weitere Angebote das psychische Wohlbefinden der Mitarbeiter positiv beeinflussen. Diese Aspekte können wir mit unserer ärztlichen Expertise den Führungskräften in Unternehmen spiegeln.
ASU: Welche Rolle spielen dabei Betriebsärzte? Wie wird sich ihr Berufsbild in den nächsten Jahren entwickeln?
Dr. Panter: Betriebsärzte spielen in diesem Prozess eine zentrale Rolle – als Berater von Unternehmen, Führungskräften und Mitarbeitern. Sie sind immer stärker gefragt, über das Thema Psyche kompetent zu informieren, bei betrieblichen Analysen und Lösungen mitzuwirken, Risiken zu erkennen und das Thema Arbeitsbelastungen letztendlich zu enttabuisieren.
Um aber den Anforderungen der sich schnell wandelnden Arbeitswelt gewachsen zu sein, benötigt der Betriebsarzt spezielle Kompetenzen und Fertigkeiten, die über die klassischen Curricula der arbeitsmedizinischen Facharztausbildung hinausgehen. Denn eins haben wir aus der bisherigen Entwicklung gelernt: Die Psyche ist genauso wichtig wie der Körper – auch und gerade in einer Arbeitssituation. Immer mehr Kollegen werden sich zukünftig in der psychosomatischen Grundversorgung qualifizieren (müssen) – auf der individuellen sowie auf der gruppenbezogenen Ebene.
Ein weiterer Pinselstrich vom Zukunftsporträt eines Betriebsarztes werden sicherlich auch seine erweiterten Managementkompetenzen sein. Mehr denn je können heute Aufgaben und Selbstverständnis von Betriebsärzten nicht mehr nur auf ärztliche Fragestellungen reduziert werden. In ihrer Doppelrolle als „Arzt der Beschäftigten“ und „Berater der Unternehmen“ werden Arbeitsmediziner künftig verstärkt angewiesen sein, neben der ärztlichen Qualifikation auch Managementkompetenzen nachzuweisen – und das in einer „unhomogenen“ Arbeitswelt, die von einer Vielzahl alternativer Beschäftigungsformen geprägt ist. So wird die Vermittlung von Managementqualifikationen zu einem hochaktuellen Thema.
Der VDBW hat der großen Nachfrage entsprechend schon reagiert – mit der Gründung der Akademie für Management in der Arbeitsmedizin in Zusammenarbeit mit der DGAUM und in Kooperation mit der Hochschule Deggendorf. Dort haben Arbeitsmediziner die Möglichkeit, einen akademischen Abschluss als Master of Business Administration (MBA) Health Care Management berufsbegleitend abzuschließen.
ASU: Nach langen politischen Diskussionen und massiver Kritik seitens der Opposition wurde vor kurzem das Präventionsförderungsgesetz zur Verbesserung der Gesundheitsvorsorge auf den Weg gebracht. Auch Ihr Verband hat lange für mehr Prävention in unserem Gesundheitssystem gekämpft. Wie beurteilen Sie das Präventionsförderungsgesetz, können wir dadurch Volkskrankheiten oder gefährliche Trends wie den Anstieg der psychischen Erkrankungen wirklich eindämmen?
Dr. Panter: Mit Sicherheit. Vorbeugen ist immer noch besser als heilen – und zwar für alle Betroffenen und Beteiligten. Prävention funktioniert aber nicht allein und aus sich heraus, nur weil es sehr sinnvoll ist. Um die Prävention zu einem starken Instrument zur Senkung der Krankheitslast zu etablieren, müssen wir im Vorfeld stabile gesundheitspolitische Rahmenbedingungen schaffen. Insofern begrüßen wir die Bemühungen des Gesetzgebers, erste Schritte in diese Richtung zu machen. Wir sehen aber auch die Notwendigkeit, die Krankenkassen stufenweise zu einer deutlichen Erhöhung der Präventionsausgaben gesetzlich zu verpflichten und plädieren auch dafür, dass Krankenkassen einen Beitrag von mindestens fünf Euro pro Versicherten und Jahr für die betriebliche Gesundheitsförderung zur Verfügung stellen. Im Moment ist dieser Wert nicht höher als ein Euro pro Person. Nur ca. 0,02 % von den Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung von 184,15 Mrd. Euro werden für die betriebliche Gesundheitsförderung genutzt. Dies ist aus Sicht des Verbandes nicht akzeptabel. Angesichts der bereits nicht annähernd ausgeschöpften Mittel der Kassen in diesem Bereich plädieren wir für eine andere Priorisierung der Ressourcen und mehr Verbindlichkeit: Die „Soll-Regelung“ reicht aus unserer Sicht nicht aus, stattdessen bedarf es einer „Muss-Regel“. Nach unserer Vorstellung muss mindestens ein Prozent der Gesamtausgaben der GKV, also rund 1,8 Mrd. Euro, für Prävention und Gesundheitsförderung aufgewendet werden“, wobei die Präventionsausgaben zu gleichen Teilen in die Lebenswelten „Kinder und Jugendliche“, die „Arbeitswelt“ sowie „Städte und Kommunen“ aufgeteilt werden.
ASU: Betriebsärzte werden im neuen Präventionsförderungsgesetz explizit als Partner der Krankenkassen für Leistungen des betrieblichen Gesundheitsmanagements genannt. Was bedeutet das für ihre zukünftige Arbeit?
Dr. Panter: Zunächst muss man verdeutlichen, dass es sich auch hier um keine „Muss-Regelung“ sondern nur um eine „Kann-Regelung“ handelt. Wir sind der Meinung, dass Krankenkassen die Betriebsärzte beteiligen müssen. Die Arbeitsmedizin hat Zugang zu den über 40 Millionen Erwerbstätigen. Außerdem erreichen Betriebsärzte gerade diejenigen Menschen, auch aus unteren sozialen Schichten, die aus eigener Initiative keine präventiven Maßnahmen ergreifen.
Mit der geplanten Kooperation werden wir in unserer zukünftigen Arbeit auch kleine und mittelständische Unternehmen mit Präventionsleistungen besser versorgen können. Bisher gab es vornehmlich nur in großen Unternehmen gute Strukturen des betrieblichen Gesundheitsmanagements – nicht zuletzt, weil sie es oft auf eigene Kosten bieten. Das können wir aber von den kleineren Unternehmen nicht erwarten. Je mehr Menschen der Betriebsarzt erreichen kann und je mehr zielgerichtete Vorsorgeuntersuchungen angeboten und ausgewertet werden können, desto bessere Chancen haben wir, Volkskrankheiten einzudämmen.
ASU: Sind denn unsere Versorgungsstrukturen für dieses Mehr an Prävention ausgereift genug? Wie beurteilen Sie die Kooperation zwischen den beteiligten Akteuren für den Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit?
Dr. Panter: Von den perfekten Versorgungsstrukturen sind wir noch weit entfernt. Dass viele Unternehmen selbst Hilfe organisieren (müssen), ist ein Zeichen dafür. Beispiel für so eine Selbsthilfe sind die Rahmenabkommen von Unternehmen mit Psychotherapeuten bzw. Psychiatern, die betroffenen Mitarbeitern eine adäquate und schnelle Hilfe anbieten – im Vergleich zum „normalen Weg“, bei dem man oft Monate auf das erste Gespräch mit einem Psychotherapeuten warten soll. Vor allem bei psychischen Erkrankungen braucht man schnelle und unkomplizierte Leistungen wie „aus einer Hand“. Deshalb sollten auch Betriebs- und Werksärzte eine zeitnahe und unkomplizierte Überweisung an spezielle Ambulanzen oder Kliniken zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen vollziehen und rasch stationäre Therapieplätze belegen können.
ASU: Auch im Rahmen der beruflichen Wiedereingliederung von chronisch oder länger erkrankten Arbeitnehmern ist die Versorgung wie „aus einer Hand“ entscheidend. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und der Erhöhung des Rentenalters wird ihre Rolle umso wichtiger. Sind wir für diese Entwicklung gut ausgerüstet?
Dr. Panter: Schauen wir erst einmal zurück: Die Geschichte der Rehabilitation erscheint heute wie ein langer Weg hin zu einer wachsenden Integration von medizinischer Behandlung, sozialer und beruflicher Wiedereingliederung. Noch muss aber einige Zeit vergehen, bis man von Leistungen „aus einer Hand“ sprechen kann.
Um für die kommenden Veränderungen in der Arbeitswelt bzw. den demografischen Wandel gut ausgerüstet zu sein, brauchen wir auch hier enge Kooperation zwischen den zahlreichen Akteuren, die an einem REHA-Verfahren beteiligt sind. Das Ziel sollte ein integriertes Rehabilitationssystem sein, also eine „All-in-One“-Rehabilitation, in der berufliche Aspekte stärker in den Vordergrund rücken, so dass medizinische, berufliche und soziale Rehabilitation letztlich Verknüpfung finden. Diesen Wandel darf man zu Recht als Paradigmenwechsel bezeichnen.
ASU: Der Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte e. V. (VDBW) ist mit rund 3000 Mitgliedern die größte berufsständische Vertretung der Arbeitsmedizin in Europa. Damit stehen Sie im Zentrum einer aktuell intensiven Diskussion über die künftige Entwicklung der Arbeitsmedizin und betriebsärztlichen Versorgung. Welche Initiativen werden dazu Ihrerseits ergriffen und welche strategischen Schritte sind bereits eingeleitet?
Dr. Panter: Die Arbeitsmedizin ist als praktiziertes und wissenschaftliches Fach in Deutschland wie in den meisten europäischen Ländern bereits etabliert worden. Jetzt geht es um seine Optimierung bzw. Anpassung an die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen. So sind auch unsere weiteren Schritte und Initiativen immer mit Hinblick auf die aktuellen Trends konzipiert. Neben Umfragen, Leitfäden, einer Verbandszeitschrift, Broschüren und einem umfassenden Online-Auftritt arbeiten wir auch politisch pro-aktiv. Durch unsere Kampagne „JobFit“ haben wir z. B. zusammen mit der DGAUM einen Präventionsappell in das Bewusstsein von Politik, Unternehmen, Beschäftigung und Bevölkerung transportiert. Zusammen mit der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) haben wir eine gemeinsame Erklärung verabschiedet, in der wir für konkrete Handlungsempfehlungen für die psychische Gesundheit der Mitarbeiter werben. Am konkreten Modell der Salzgitter AG wurde dabei aufgezeigt, wie Unternehmen ihrer Verantwortung in Bezug auf das Thema in beispielhafter Weise nachkommen. Aber auch mit den Gewerkschaften arbeiten wir vertrauensvoll zusammen, beispielsweise durch das gemeinsame Positionspapier mit der IG Metall „Psychische Gesundheit in der Arbeit – eine gemeinsame Herausforderung der Arbeitswelt von morgen“. Viele unserer Aktivitäten zielen auf eine präventive Umgestaltung des Gesundheitssystems und darauf, dass die Arbeitsmedizin zu einer zentralen Säule der Gesundheitsvorsorge wird.
ASU: Wie löst die Arbeitsmedizin das Problem abnehmender Betriebsärztezahlen und fehlenden Nachwuchses? Gelingt es dem Verband, junge Ärzte für die Arbeitsmedizin zu interessieren?
Dr. Panter: Auch dieses Problem bekämpfen wir mit einer tatkräftigen Kampagne. Hochaktuell präsentiert die VDBW-Imagekampagne „docs@work“ jungen Medizinern die Arbeitsmedizin als Berufsperspektive. Im Rahmen der Kampagne erfahren jedes Jahr 30 bis 50 Bewerber in Form eines Wettbewerbs und einer „Arbeitswelten-Ralley“, was die heutige Welt der Arbeitsmedizin zu bieten hat. Das Image unseres Berufsbilds hat sich sehr zum Positiven gewandelt, allerdings bestehen inzwischen in allen ärztlichen Gebieten Nachwuchsprobleme, so dass wir im Wettbewerb um junge Ärztinnen und Ärzte stehen, die vielfach umworben werben.
Neben gezielter Information über die neuen Herausforderungen der Arbeitsmedizin und aktivem Ansprechen des Nachwuchses soll aus Sicht des VDBW die finanzielle und ideelle Nachwuchsförderung ein zentrales Anliegen der Entscheidungsträger werden. Unser Verband ist in der Gründung einer Stiftung zur Förderung von Arbeitsmedizin und Prävention. Dabei sind beispielsweise Promotionsstipendien und Forschungsförderung vorgesehen.
ASU: Welchen Einfluss haben die Entwicklungen in der modernen Arbeitswelt auf die Fort- und Weiterbildung von Arbeitsmedizinern? Welche Kenntnisse und Fähigkeiten werden neben der fachlichen Qualifikation von Arbeitsmedizinern in der betriebsärztlichen Praxis zunehmend erforderlich und ihr Nachweis obligatorisch?
Dr. Panter: Um einerseits eine gute Weiterbildung zu garantieren, andererseits aber auch dem zunehmenden Betriebsärztemangel entgegenzuwirken und den ärztlichen Nachwuchs zu motivieren, sollten alle aktuellen sozial-wirtschaftlichen Veränderungen in der Arbeitswelt in der zukünftigen Organisation der Weiterbildung zum Facharzt ihre Berücksichtigung finden. So wird z. B. der Ruf nach Managementorientierung im Gesundheitsbereich, darunter in der Arbeitsmedizin, immer lauter. Um die wichtige Mittelrolle zwischen Mitarbeitern und der Unternehmensleitung wahrzunehmen, brauchen Betriebsärzte neben der anerkannten medizinischen Kompetenz auch Management- und Führungskompetenzen.
Darüber hinaus werden Qualifikationen in der psychosomatischen Grundversorgung immer wichtiger. Viele Kollegen haben sich in diesem Bereich schon qualifiziert, um als Gesprächspartner zur Verfügung zu stehen. Wir halten es für essenziell wichtig, dass wir in der Grundversorgung stärker auch Strukturen der Psychosomatik mit abbilden. Dieser Prozess beginnt schon mit einem entsprechenden Schwerpunkt im Rahmen der Weiterbildung zum Facharzt für Arbeitsmedizin. Durch die Novellierung der Weiterbildungsordnung sollen ja alle Fachgebiete auf kompetenzbasierte Weiterbildung umgestellt werden, so dass künftig auch in der Arbeitsmedizin mit einzelnen Kompetenzblöcken und entsprechend definierten Kompetenzleveln gearbeitet wird. Wir halten die Konzentration auf den Facharzt-Standard in der Arbeitsmedizin langfristig für essenziell.
ASU: Was sollte in nächster und ferner Zukunft noch konkret passieren, damit die Arbeitsmedizin der aktuellen Entwicklung der Arbeitswelt adäquat folgt?
Dr. Panter: Die Berufswelt geht in eine neue Ära. Auch die Arbeitsmedizin muss diesen Entwicklungen folgen und sich weiter entwickeln. Die Arbeitnehmer stehen vor einer großen neuen Herausforderung – sie müssen mit größter Unsicherheit leben und lernen, sich ständig zu vermarkten. Dabei brauchen sie eine sichere und umfassende gesundheitliche Versorgungsstruktur, die sie – trotz Patchwork-Lebensläufen – ihr ganzes Berufsleben begleitet. Die Arbeitsmedizin sollte sich auch im Kontext neuer und unkonventioneller Arbeitsverhältnisse als fester Bestandteil des Arbeitsalltags etablieren, auch im Hinblick auf die Sicherung einer immer längeren Beschäftigungsfähigkeit – und das ist ihre erste Zukunftsaufgabe.
Alte Arbeiten haben sich gewandelt und somit auch die arbeitsbedingten Erkrankungen. Vor 100 Jahren war die Fabrik das Zentrum der Arbeiter, so dass die Aufgabe war, die großen Industrieanlagen zu „humanisieren“. Da die beruflichen Anforderungen sich geändert haben, bedeutet Humanisierung heute zum Beispiel, den Stress zu reduzieren. Dies ist eine abstrakte Aufgabe, die eine neue arbeitsmedizinische Qualifikation erfordert. Unser Fach wird zunehmend interdisziplinär und diese Interdisziplinarität muss auch in die arbeitsmedizinische Weiterbildung fließen.
Diesbezüglich brauchen wir natürlich auch neue wissenschaftliche Leitlinien, die die Grundlage für das künftige arbeitsmedizinische Handeln schaffen. Sie müssen aber ausschließlich wissenschaftsbasiert und frei von wirtschaftlichen Interessen formuliert werden sowie genügend Raum für evidenzbasierte individuelle Präventionsstrategien lassen.
Nicht zuletzt müssen wir uns mit Blick auf die Zukunft um die Sicherung des Nachwuchses kümmern. Dazu kann jeder tätige Betriebsarzt beitragen, zum Beispiel durch ein positives gesellschaftliches Engagement.
ASU: Wie sehen Sie die Entwicklung der arbeitsmedizinischen Wissenschaft?
Dr. Panter: Wir machen uns große Sorgen um den Rückgang arbeitsmedizinischer Institute an deutschen Hochschulen sowie ihre nicht ausreichende personelle und materielle Ausstattung. Nachwuchsprobleme und Ärztemangel gehen damit einher. Dieses wichtige Thema Prävention muss in die Hochschulen integriert werden, um den medizinischen Nachwuchs frühzeitig an das Thema heranzuführen. Es verändern sich aber auch die Anforderungen an den Arbeitsmediziner. Um dieser „Schere“ entgegenzuwirken und die Zukunftsfähigkeit der Arbeitsmedizin zu sichern, brauchen wir eine stärkere Fokussierung der Forschung auf das Feld „betriebsärztliche Tätigkeit“. Für die betriebliche Praxis von Betriebsärzten geht es insbesondere um fundierte Hilfestellungen und Weiterentwicklung auf der Grundlage von wissenschaftlichen Studien. Präventive Strategien und Methoden sind zu evaluieren und wissenschaftlich zu hinterfragen. Dabei ist es durchaus denkbar, dass das eine oder andere über Jahre lieb Gewordene über Bord zu werfen ist, um Neuem Platz zu machen. Der Verband ist bereit, sich künftig stärker mit diesem Thema auseinanderzusetzen.
ASU: Vom 25. bis 28. September 2013 findet der diesjährige Deutsche Betriebsärzte-Kongress in Bremen statt. Traditionsgemäß beschäftigt er sich mit betriebsärztlichen und berufspolitischen Themen in Form von Vorträgen, Foren und Seminaren. Welche Schwerpunkte haben Sie für dieses Jahr gewählt?
Dr. Panter: Auch in diesem Jahr haben wir die aktuellsten Themen aus der Welt der Arbeitsmedizin als Kongressthemen gewählt. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels wird das Thema „Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit“ in Verbindung mit dem Leitthema „Prävention“, den Inhalt unseres fachlichen Diskurses bestimmen. So erwartet uns zum Beispiel am Eröffnungstag ein Festvortrag des ehemaligen Bremer Bürgermeisters Dr. Henning Scherf zum Thema „Die Herausforderung des demografischen Wandels“. Die Kombination von Vortrag und anschließender Diskussionsrunde bietet daher den idealen Raum für eine spannende Debatte. Ein weiterer Schwerpunkt wird die Thematik „Psychische Gesundheit im Betrieb“ sein. Darüber hinaus werden aktuelle Einzelfragen für die arbeitsmedizinische Tätigkeit im Kontext der betrieblichen Praxis und das generelle betriebsärztliche Selbstverständnis Themen des Deutschen Betriebsärzte-Kongresses 2013 sein. Auf der Internetseite des VDBW https://www.vdbw.de/ ist das Kongressprogramm veröffentlicht.
ASU: Ihr Verband ist seit 1965 Organ dieser Zeitschrift. Und als Präsident des VDBW sind Sie Mitglied der Redaktion und beratend tätig. Zudem sind Sie auch Autor in der Zeitschrift und mit Fachbuchbeiträgen im Medizinprogramm des Verlags aktiv. Welche Rolle spielt für Sie persönlich und für den VDBW diese Zeitschrift für Arbeitsmedizin?
Dr. Panter: Ich beobachte einen erheblichen Wandel der Rolle der wissenschaftlichen Zeitschriften. Die mediale Arbeit spielt eine unverzichtbare Rolle für unsere Arbeit. Es gilt, die Entwicklungen in der Arbeitsmedizin zu beobachten, sie aber auch durch Meinungsbildung aktiv mitzugestalten. Eine kritische Auseinandersetzung mit Informationen ist daher auch für unseren Tätigkeitsbereich von zentraler Bedeutung. Die Zielsetzung und die thematische Ausrichtung decken sich mit den Positionen des VDBW. Hier gilt es, sich aber auch immer wieder das Profil zu schärfen und den neuen Herausforderungen anzupassen. Das Themenspektrum aus Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin ist sowohl für mich persönlich als auch für den VDBW von hohem Interesse. Die aktive Mitgestaltung dieser Zeitschrift liegt mir daher sehr am Herzen. Wir brauchen eine wissenschaftliche Zeitung für die Arbeitsmedizin. Ich nutze die Zeitschrift persönlich als Informationsquelle und möchte mich an dieser Stelle für die hochwertigen Informationen herzlich bedanken.
ASU: Vielen Dank für dieses Gespräch!
Das Gespräch führte:
Gernot Keuchen
Gentner Verlag, Stuttgart