Wie gelingt eine frühe Diagnostik zur Vermeidung chronischer Verläufe?
Occupational Obstructive Respiratory Diseases – How to Succeed in Early Diagnostics to Avoid Chronic Diseases
Aufhebung des Unterlassungszwangs bei einigen Berufskrankheiten
Am 1. Januar 2021 ist das „Siebte Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze“ in Kraft getreten. Neu geregelt wird darin unter anderem der Wegfall des Unterlassungszwangs, der bei einigen der häufigsten Berufskrankheiten Voraussetzung für eine Anerkennung war (Römer u. Zagrodnik 2021; Krohn et al. 2020). Bislang wurden einige Berufskrankheiten (BK) – darunter zum Beispiel Haut-, Atemwegs- oder Bandscheibenerkrankungen – nur anerkannt, wenn die Betroffenen die Tätigkeit aufgeben, die zu der Erkrankung geführt hat. Die am 07.05.2020 vom Deutschen Bundestag beschlossene Novellierung des Berufskrankheitenrechts sieht nun den Wegfall des Unterlassungszwangs als Kriterium für die Anerkennung von Berufskrankheiten vor. Durch das Aufheben des Unterlassungszwangs ab dem 01.01.2021, unter anderem auch bei den obstruktiven Atemwegserkrankungen, kommt nun bei wesentlich mehr Personen mit entsprechenden Krankheitsbildern eine Berufskrankheit infrage.
Bedeutung der Früherkennung
Auch an modernen Arbeitsplätzen können nach wie vor Gefährdungen entstehen, die die Entwicklung obstruktiver Atemwegserkrankungen begünstigen können. Zu Beginn zeigen diese Erkrankungen häufig eher diskrete oder unspezifische Symptome; sie werden oft erst als potenzielle Berufskrankheit (Nummern 4301, 4302, 1315 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung, BKV) erkannt, wenn das Krankheitsbild schon fortgeschritten ist. Präventive Maßnahmen, die den Eintritt der Erkrankung verhindern oder verlangsamen könnten, kommen dann häufig zu spät. Der Frühdiagnostik kommt dabei besondere Bedeutung zu und kann mit diagnostischen Herausforderungen verbunden sein.
Für die berufsbedingten Hauterkrankungen ermöglicht das Hautarztverfahren, Präventionsmaßnahmen rechtzeitig einzuleiten und einer (chronischen) Berufskrankheit vorzubeugen. Dazu gehören unter anderem die Beratung und Maßnahmen der Prävention nach dem STOP-Prinzip1, Berufsgenossenschaften und Unfallkassen beraten die Betroffenen und bieten ihnen gegebenenfalls „individualpräventive Maßnahmen“ an, um einer Entstehung, Verschlimmerung oder dem erneuten Ausbruch der jeweiligen Berufskrankheit entgegenzuwirken.
In Bezug auf die obstruktiven Atemwegserkrankungen hat die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) nun ebenfalls ein Frühmeldeverfahren entwickelt. Das Frühmeldeverfahren Atemwege wird zunächst in den drei Pilotregionen Südniedersachsen/Thüringen, Mittelfranken und der Metropolregion München erprobt und evaluiert.
Die Identifikation der „Frühfälle“ stellt eine diagnostische Herausforderung an die (erst-)behandelnden Ärztinnen und Ärzte dar, um zu unterscheiden, ob Beschäftigte einen „Frühfall“ darstellen (Meldung zur Prävention arbeitsbedingter obstruktiver Atemwegserkrankungen; s. „Weitere Infos“) oder ob bereits der begründete Verdacht auf eine Berufskrankheit bei klinisch weiter fortgeschrittener Erkrankung vorliegt. Zur Verbesserung des Prozedere bei Verdacht auf ein beruflich assoziiertes Asthma bronchiale siehe Checkliste 1.
Beruflich assoziiertes Asthma bronchiale ist keine Seltenheit
Jährlich werden mehrere tausend Verdachtsfälle auf eine tätigkeitsbezogene Atemwegserkrankung im Sinne der Ziffer 4301, 4302 oder 1315 (ohne Alveolitis) der Berufskrankheitenverordnung (Berufskrankheits-Verdachtsmeldung) den Unfallversicherungsträgern gemeldet:
Chronische Atemwegserkrankungen wie das Asthma bronchiale und die chronisch-obstruktive Bronchitis sowie die chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) sind somit häufige Erkrankungen von hoher sozioökonomischer Relevanz (Rabe u. Watz 2017). Dabei fallen nicht nur die direkt entstehenden Kosten infolge ärztlicher Leistungen, Arzneimittelausgaben und Rehabilitation ins Gewicht; auch die indirekten Kosten durch Produktionsausfälle während der Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit sowie die durch die Erkrankung resultierenden Einschränkungen der Lebensqualität der Betroffenen sind erheblich. In rund 10–15 % der Fälle ist ein Asthma bronchiale auf eine arbeitsplatzbezogene Genese zurückzuführen. Von diesen wiederum liegt bei ca. 80–90 % der Betroffenen eine allergische Ursache vor (Lowery et al. 2007; Ochmann u. Nowak 2008). Bei etwa sechs von zehn Fällen der vom zuständigen Unfallversicherungsträger anerkannten Berufskrankheit Nr. 4301 gemäß Berufskrankheitenverordnung sind Mehlstäube und Backhilfsmittel wie Enzyme das auslösende Allergen. Darüber hinaus können auch Vorratsmilben, Tierallergene, Schimmelpilze, Pflanzenallergene, Holzallergene sowie Chemikalien wie Isocyanate und Kolophonium die kausale Noxe sein (Ochmann u. Nowak 2008). Es ist seit vielen Jahren bekannt, dass zum Zeitpunkt der Berufskrankheiten-Verdachtsanzeigte viele Betroffene bereits seit Jahren symptomatisch sind und sich in einem weit fortgeschrittenen Stadium mit teilweise irreversibler Obstruktion befinden. So zeigten schon Feldstudien aus den 1980er Jahren bei einer Stichprobe von 242 Lehrlingen sowie Handwerkerinnen und Handwerkern im Bezirk der Bäckerinnung Bochum eine Diagnosehäufigkeit von 16,5 % für eine nasale und/oder bronchiale Erkrankung, von denen 75 % nicht ärztlich diagnostiziert und 95 % nicht ärztlich als BK-Verdachtsanzeige gemeldet waren (Woitowitz 1983; Ulmer u. Thiel 1982). Gemäß einer finnischen Untersuchung aus dem Jahr 2017 fallen beim beruflich assoziierten chemisch-irritativen Asthma bronchiale nur etwa 8 % der symptomatischen Beschäftigten im Rahmen der klinischen Diagnostik auf, durch Screeningprogramme ca. 18 % (Suojalehto et al. 2017; Jeebhay u. Baatjies 2020). Infolgedessen wird die Erstdiagnose um rund 2,2 Jahre (Median) verzögert (Jeebhay u. Baatjies 2020; Fishwick u. Forman 2018). Epidemiologische Erkenntnisse aus der Landwirtschaft – einer bezüglich der Entwicklung einer tätigkeitsbezogenen Atemwegserkrankung relevanten Branche – belegen, dass die Symptome einer Rinderallergie zum Zeitpunkt der Anzeige als Berufskrankheit im Durchschnitt bereits mehr als 9 Jahre bestanden hatten (Heutelbeck et al. 2007). Dabei eröffnet gerade die frühzeitige Diagnosestellung Möglichkeiten, durch geeignete Präventionsstrategien die Erkrankungsfolgen einer Berufskrankheit gering zu halten beziehungsweise deren drohende Manifestation sogar gänzlich zu vermeiden und dadurch einen Verbleib im Arbeitsleben zu ermöglichen (Heutelbeck et al. 2007; Fishwick et al. 2015).
Berufliche Tätigkeiten mit potenziell atemwegswirksamen Expositionen
Für Ärztinnen und Ärzte ist die Kenntnis der typischen Tätigkeiten mit potenziell atemwegswirksamen Expositionen zur Einleitung weiterer Maßnahmen essenziell, auch wenn noch nicht die Voraussetzungen für eine Meldung des Verdachts auf eine Berufskrankheit vorliegen. Die wesentlichen Tätigkeiten sind im Folgenden beispielhaft aufgeführt. Die Aufzählungen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Optimierung des Vorgehens bei der Früherkennung
Um Beschäftigte mit möglichen Risiken für eine Entwicklung obstruktiver Atemwegserkrankungen (Berufserkrankung) im Sinne der Nummern 4301 (inkl. Rhinopathie), 4302 und 1315 (ohne Alveolitis) der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung zu einem frühen Zeitpunkt der Erkrankung zu identifizieren, empfiehlt sich folgendes Vorgehen:
Das Pilotprojekt „Frühmeldeverfahren Atemwege“
Um möglichst früh Präventionsmaßnahmen ergreifen zu können und eine manifeste Berufskrankheit zu verhindern sowie die Prognose für die Erkrankten zu verbessern, steht mittlerweile analog dem bereits gut etablierten Hautarztverfahren das Frühmeldeverfahren Atemwege zur Verfügung (Meldung zur Prävention arbeitsbedingter obstruktiver Atemwegserkrankungen; s. „Weitere Infos“).
Versicherte, die erste Beschwerden zeigen, die auf die mögliche Entstehung einer obstruktiven Atemwegs-Berufskrankheit hindeuten, die aber noch nicht den Anforderungen einer Berufskrankheiten-Verdachtsanzeige genügen, sollen frühzeitig identifiziert werden, um ihnen gegebenenfalls geeignete Maßnahmen der individuellen Prävention (IP-Maßnahmen) anzubieten. Das Frühmeldeverfahren Atemwege initiiert somit – analog dem Hautarztverfahren – weit im Vorfeld des Berufskrankheiten-Verdachts IP-Maßnahmen. So sollen idealerweise der Eintritt einer obstruktiven Atemwegs-Berufskrankheit beziehungsweise deren Erkrankungsfolgen verhindert werden. Mit Zustimmung der Betroffenen können Ärztinnen und Ärzte den vier beteiligten Unfallversicherungsträgern Patientinnen und Patienten aus den Pilotregionen als „Frühfälle“ melden, wenn folgende Konstellation vorliegt (beide Kriterien müssen zutreffen):
Dabei kommen durchaus Erkrankungen mit verschiedenen ICD-Verschlüsselungen für eine Frühmeldung in Frage, hierzu zählen auch Symptome, wie beispielsweise rezidivierender Husten, Dyspnoe, Niesen, nasaler Pruritus, Rhinorrhoe und Schwellung der Nasenschleimhaut, die nicht durch akute Infekte plausibilisiert werden können.
Die frühe Identifikation von Beschäftigten mit dem Risiko, eine Berufserkrankung der Atemwege zu entwickeln, ist von Vorteil, da
Interessenkonflikt: Das Autorenteam erklärt, dass es innerhalb der vergangenen drei Jahre Forschungsunterstützung von der DGUV (Projekt-Nummer FF-FB0279) erhalten sowie Honorare für Gutachten und Vorträge bezogen hat.
Literatur
Fishwick D, Forman S: Health surveillance for occupational asthma. Curr Opin Allergy Clin Immunol 2018; 18: 80–86.
Fishwick D, Sen D, Barber C et al.: Occupational chronic obstructive pulmonary disease: a standard of care. Occup Med (Lond) 2015; 65: 270–282.
Heutelbeck ARR, Janicke N, Hilgers R, Kütting B: German cattle allergy study (CAS): public health relevance of cattle-allergic farmers. Int Arch Occup Environ Health 2007; 81: 201–208.
Jeebhay MF, Baatjies R: Prevention of Baker’s Asthma. Curr Opin Allergy Clin Immunol 2020; 20: 96–102.
Krohn S, Drechsel-Schlund G, Römer W, Wehrmann W: Rechtsänderungen bei Berufskrankheiten – Auswirkungen auf die dermatologische Praxis. Dermatologie in Beruf und Umwelt 2020; 68: 145–148.
Lowery EP, Henneberger PK, Rosiello R, Sama SR: Quality of life of adults with workplace exacerbation of asthma. Qual Life Res 2007; 16: 1605–1613.
Ochmann U, Nowak D: Berufsbedingtes Asthma – immer ernst nehmen. Pneumologe 2018; 15: 164–173.
Pralong JA, Cartier A: Review of diagnostic challenges in occupational asthma. Curr Allergy Asthma Rep 2017; 17: 1.
Rabe KF, Watz H: Chronic obstructive pulmonary disease. Lancet 2017; 389: 1931–1940.
Römer W, Zagrodnik FD: Weiterentwicklung des Berufskrankheitenrechts nach dem 7. SGB-IV-Änderungsgesetz. DGUV Forum 2021; 1: 3–10.
Suojalehto H, Karvala K, Haramo J et al: Medical surveillance for occupational asthma-how are cases detected? Occup Med (Lond) 2017; 67: 159–162.
Ulmer WT, Thiel H: Respirationsallergien bei Bäckern-Epidemiologische, klinische und arbeitsmedizinische Aspekte. Stuttgart: Thieme, 1982.
Woitowitz H-J: Unser täglich Brot – Die Bäckerkrankheit, ein Berufsrisiko. Dtsch Arztebl 1983; A: 46–56.
doi:10.17147/asu-1-250944
Weitere Infos
Frühmeldeverfahren Atemwege. Hinweise für Ärztinnen und Ärzte
https://www.dguv.de/de/versicherung/berufskrankheiten/atemwegserkrankun…
Kernaussagen
Checkliste 1
Verdacht auf beruflich assoziiertes Asthma bronchiale
Checkliste 2
Verbesserungsvorschläge bei der Früherkennung
Checkliste 3
Voraussetzungen für Meldung von Patientinnen und Patienten zum „Frühmeldeverfahren Atemwege“
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