Ionisierende Strahlung und Krebs als Berufskrankheit
Ionisierende Strahlung kann die Gesundheit schädigen und ist als Ursache für Krebserkrankungen gut erforscht. Im Einzelfall lässt sich jedoch ionisierende Strahlung als Ursache einer konkreten Krebserkrankung nicht direkt nachweisen, da sich am Erscheinungsbild der Erkrankung nicht feststellen lässt, ob sie durch Strahlung verursacht worden ist. War eine erkrankte Person vor der Erkrankung gegenüber Strahlung exponiert, kann daher nur mittels statistischer Methoden abgeschätzt werden, wie wahrscheinlich ein Zusammenhang zwischen der Strahlenexposition und der Erkrankung ist. Diese Wahrscheinlichkeit spielt eine wesentliche Rolle bei der Frage, ob eine Krebserkrankung als Berufskrankheit BK 2402 anzuerkennen ist.
Zusammenhangswahrscheinlichkeit
Die Software ProZES schätzt die Wahrscheinlichkeit, dass zwischen einer Strahlenexposition und einer später aufgetretenen Krebserkrankung ein Zusammenhang besteht. Diese Zusammenhangswahrscheinlichkeit, im Folgenden Z genannt, entspricht dem Quotienten aus dem Risiko, das sich durch die Strahlenexposition für eine bestimmte Krebsentität ergibt, und dem Gesamterkrankungsrisiko für diese Krebsentität (➥ Abb. 1). Das Gesamterkrankungsrisiko setzt sich wiederum aus dem Hintergrundrisiko und dem zusätzlichen Risiko durch die Strahlenexposition zusammen. Ist das zusätzliche Risiko durch die Strahlenexposition genauso groß wie das Hintergrundrisiko, hat Z den Wert 0,5 beziehungsweise 50 %. Höhere Werte nimmt Z an, wenn das zusätzliche Risiko durch die Strahlenexposition größer ist als das Hintergrundrisiko. In diesem Fall spricht mehr dafür, dass die Erkrankung durch Strahlung verursacht worden ist, als dafür, dass sie durch andere Ursachen ausgelöst worden ist.
Grundlagen von ProZES
ProZES basiert auf Risikomodellen aus strahlenepidemiologischen Studien. Diese Modelle beschreiben den funktionalen Zusammenhang zwischen einer Strahlenexposition und dem durch die Strahlenexposition bedingten zusätzlichen Krebsrisiko. Dieses Risiko hängt hauptsächlich von der Höhe der Strahlendosis ab. Je nach Art der Strahlung und Art der Erkrankung spielen auch weitere Faktoren eine Rolle, zum Beispiel das Alter zum Zeitpunkt der Strahlenexposition, die Zeit zwischen Strahlenexposition und Erkrankung oder das Geschlecht der erkrankten Person.
Die meisten der in ProZES verwendeten Modelle wurden anhand der Daten der Kohorte der Atombombenüberlebenden von Hiroshima und Nagasaki entwickelt (für einen Überblick über die Studie siehe Ozasa et al. 2019). Der Übertrag des Risikos auf die deutsche Allgemeinbevölkerung erfolgt basierend auf altersstandardisierten Inzidenzraten aus Deutschland.
Einen Spezialfall stellen in ProZES die Modelle für Strahlenexpositionen durch Radon und seine Folgeprodukte dar. Für Expositionen aus dem Uranbergbau basiert die Berechnung von Z auf den Daten einer Kohorte von deutschen Uranbergarbeitern (Kreuzer et al. 2018). Grundlage für das Modell für die Berechnung von Z für Expositionen durch Radon und seine Folgeprodukte an anderen Arbeitsplätzen ist eine europäische Studie zum Lungenkrebsrisiko durch Radon in Wohnräumen (Darby et al. 2005). Für dieses Modell kann in ProZES eine erhöhte Atemrate berücksichtigt werden, um körperlich anstrengende Arbeit bei der Berechnung zu berücksichtigen.
Für die häufigsten Krebsarten – wie Darmkrebs, Lungenkrebs oder Brustkrebs – enthält ProZES spezifische Modelle. Seltenere Krebsarten werden zusammengefasst. So erfolgt zum Beispiel die Berechnung für bösartige Tumoren des Auges, des Gehirns und des zentralen Nervensystems mit einem gemeinsamen Modell.
Berücksichtigung von Unsicherheit
Die Abschätzung des Strahlenrisikos und der darauf beruhenden Zusammenhangswahrscheinlichkeit ist immer auch mit Unsicherheit verbunden. ProZES berücksichtigt eine Reihe von Aspekten dieser Unsicherheit.
Einer dieser Aspekte ist die Unsicherheit bezüglich der Modellwahl, die daher kommt, dass für manche Krebserkrankungen unterschiedliche Modelle den Zusammenhang zwischen Strahlenexposition und Erkrankungsrisiko etwa gleich gut beschreiben. Zum anderen berücksichtigt ProZES die Unsicherheit bezüglich bestimmter Modellparameter und der Strahlendosis. Beispielsweise kann es sein, dass für die Strahlendosis einer Person nicht der exakte Wert bekannt ist, sondern nur der Bereich, in dem der Wert liegt (z. B. 15–20 Millisievert). ProZES berücksichtigt diese Unsicherheiten, indem es Z nicht nur einmal bestimmt, sondern sehr viele Male (in der Standardeinstellung 25 000 Mal). Bei jedem Durchgang wird eines der zur Verfügung stehenden Risikomodelle für die Berechnung gewählt sowie für alle Modellgrößen zufällig Werte aus den jeweiligen Unsicherheitsverteilungen gezogen. Im obigen Beispiel würden für die Strahlendosis zufällig Werte aus dem Bereich 15–20 Millisievert ermittelt. Nach mehrmaliger Wiederholung dieses Schritts ergibt sich insgesamt eine empirische Häufigkeitsverteilung von Z. ProZES gibt als Ergebnis eine grafische Darstellung dieser Verteilung aus (siehe unteren Teil von Abb. 3) und den Median der Verteilung sowie Unsicherheitsintervalle, die auf dieser Verteilung basieren. Da der Median einer Verteilung der Wert ist, bei dem 50 % der Werte kleiner sind als dieser Wert und 50 % der generierten Werte größer, kann der Median der empirischen Häufigkeitsverteilung von Z als plausibler Schätzer für Z betrachtet werden.
Eine genaue Beschreibung der Methodik findet sich bei Ulanowski et al. (2020) und in den Forschungsberichten, die auf der Homepage des BfS abgerufen werden können (s. „Weitere Infos“).
Benötigte Angaben und Ergebnis der Berechnung
ProZES benötigt Angaben zur erkrankten Person und zur beruflichen Strahlenexposition. Die notwendigen Angaben zur Exposition hängen von der Art der Strahlenexposition ab (➥ Tabelle 1). Das Programm unterscheidet zwischen Exposition durch Radon und anderen Expositionssituationen, die in ProZES als „allgemeine Strahlenexposition“ bezeichnet werden. Bei diesen „allgemeinen Strahlenexpositionen“ gibt es die Möglichkeit, bei der Berechnung von Z für Lungenkrebs das individuelle Rauchverhalten zu berücksichtigen. Radonexpositionen werden nochmals unterschieden in Radonexposition im Bergbau und Radonexposition in Gebäuden.
Optional sind noch weitere Angaben möglich, die die Berechnung des Unsicherheitsbereichs beeinflussen. Diese werden in der Hilfedatei des Programms und einem zugehörigen Tutorial beschrieben. Das Tutorial erläutert Anwendung und Funktionalität von ProZES anhand einer Reihe von fiktiven Beispielen.
Zielgruppe
ProZES ist für Fachpersonal gedacht, das sich mit Zusammenhangswahrscheinlichkeiten nach beruflichen Strahlenexpositionen auseinandersetzt. Für die korrekte Anwendung des Programms ist Fachwissen über ionisierende Strahlung und deren Wirkung erforderlich. Vor Anwendung des Programms ist es zudem wichtig, sich anhand der oben genannten Hilfedatei und des Tutorials mit der Funktionsweise des Programms vertraut zu machen. Das Programm kann als Hilfsmittel bei Verfahren zur Anerkennung von Berufskrankheiten dienen. Die Ergebnisse von ProZES alleine sind jedoch nicht ausreichend für eine Entscheidung in Anerkennungsverfahren für Berufskrankheiten. Sie können nur einen von mehreren Bausteinen in der Fallbewertung darstellen.▪
Interessenkonflikt: Das Autorenteam gibt an, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
Literatur
Darby S, Hill D, Auvinen A et al.: Radon in homes and risk of lung cancer: collaborative analysis of individual data from 13 European case-control studies. BMJ 2005; 330: 223–228.
Kreuzer M, Sobotzki C, Schnelzer M, Fenske N: Factors modifying the radon-related lung cancer risk at low exposures and exposure rates among German uranium miners. Radiat Res 2018; 189: 165–176.
Ozasa K, Cullings HM, Ohishi W, Hida A, Grant EJ: Epidemiological studies of atomic bomb radiation at the Radiation Effects Research Foundation. Int J Radiat Biol 2019; 95: 879–891.
Ulanowski A, Shemiakina E, Güthlin D et al.: ProZES: the methodology and software tool for assessment of assigned share of radiation in probability of cancer occurrence. Radiat Environ Biophys 2020; 59: 601–629.
Weitere Infos
Bundesamt für Strahlenschutz (BfS): ProZES: Berechnung der Zusammenhangswahrscheinlichkeit zwischen Krebs und Exposition durch ionisierende Strahlung
https://www.bfs.de/SharedDocs/Downloads/BfS/EN/expert-info/ion/prozes30…
Info
Die Entwicklung von ProZES
ProZES wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit und des Bundesamts für Strahlenschutz erstellt vom Institut für Strahlenmedizin des Helmholtz-Zentrums in Neuherberg bei München. Die Entwicklung begleitete eine Arbeitsgruppe der deutschen Strahlenschutzkommission. Vor der Veröffentlichung stand eine Testversion des Programms über einen längeren Zeitraum öffentlich zur Verfügung, so dass Rückmeldungen von Anwenderinnen und Anwendern bei der Fertigstellung berücksichtigt werden konnten.
Beispiel
In einem der fiktiven Beispiele aus dem Tutorial wird die Zusammenhangswahrscheinlichkeit für einen Mitarbeiter eines Materialprüfungsunternehmens abgeschätzt, der 1970 im Alter von 30 Jahren aufgrund einer technischen Störung ionisierender Strahlung aus einer Röntgenröhre ausgesetzt war. Es wird angenommen, dass das Ablesen des Personendosimeters eine Organ-Äquivalentdosis von 500 mSv ergab und dass der Mann 2010 an Magenkrebs erkrankte. Die entsprechend ausgefüllte Eingabemaske ist in ➥ Abb. 2 dargestellt.
➥ Abbildung 3 zeigt das Ergebnis der Berechnung von ProZES. Im unteren Teil ist die empirische Wahrscheinlichkeitsverteilung von Z dargestellt. Der Median dieser Verteilung beträgt 23,4 % und der 95%-Unsicherheitsbereich erstreckt sich von 6,1 % bis 44 %. Aus rein statistischer Sicht ist ein Zusammenhang daher eher unwahrscheinlich.
Koautoren
An der Erstellung des Beitrags beteiligt waren Dr. rer. nat. Felix Heinzl und
Dr. rer. physiol. Peter Scholz-Kreisel, MSc, beide Bundesamt für Strahlenschutz, Oberschleißheim.