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Zur Bewertung von Ohrgeräuschen in der Berufskrankheit BK-Nr. 2301
Noise-Induced Tinnitus Accompanies, But Does Not Lead! On the Assessment of Ringing in the Ears in the Occupational Disease BK No. 2301
Einleitung
Ohrgeräusche (Tinnitus) sind subjektive Ton- oder Geräuschempfindungen, die ohne objektive Schalleinwirkung empfunden werden. Das Bemerken von Ohrgeräuschen ist besonders nachts in Stille ein Phänomen, das durch das Grundrauschen des Verstärkerprozesses im Ohr bedingt ist. Auch völlig Hörgesunde empfinden Geräusche in stiller Umgebung. Daneben kann Tinnitus verstärkt bei allen Gehörschädigungen – darunter Lärm –, aber auch ohne erkennbare Ursache auftreten. Tinnitus ist ein Symptom, keine
eigene Erkrankung.
Tinnitus – Wahrheit und Mythen
Im Unterschied zu einem idiopathischen Ohrgeräusch – der häufigsten Form – ist Tinnitus im Rahmen einer fassbaren organischen Veränderung wie einer Hörminderung durch chronischen Lärm, nach akuter Schalleinwirkung, Schädelanstoß, Ohrinfektionen oder Einwirkung von Gewebegiften als symptomatisch zu begreifen. Diese Ohrgeräusche beruhen somit auf einer primär pathophysiologisch nachweisbaren Ursache.
Das klassische Modell geht von einer Schädigung an den äußeren Haarzellen im Innenohr aus. Lärmschäden, Tinnitus und Alterungsvorgänge können mit ihr erklärt werden. Gestützt wird die Vorstellung einer Haarzellschädigung als Ursache, dass die damit verbundenen Ohrgeräusche immer im Bereich der höchsten Hörverluste liegen. Da bei schwer geschädigten Haarzellen keine Regeneration erfolgt, ist ein auf einem Haarzellschaden beruhender Tinnitus frequenzstabil.
Die Vermutung, dass auch Stress Tinnitus verursacht, genießt in der Bevölkerung jedoch große Popularität. Wissenschaftlich ist es jedoch äußerst umstritten, ob es einen „stressbedingten Tinnitus“ überhaupt gibt. Bei erhöhten Stresslevels würden eher Bluthochdruck, Herzkrankheit, Magengeschwüre und andere internistische Gesundheitsstörungen zu erwarten sein. Schon lange ist bekannt, dass als begleitende Tinnitusbeschwerden angesehene Störungen, wie zum Beispiel Konzentrationsschwäche, Depression oder Schlaflosigkeit, mit Lebensstress parallel zu oder auch ohne Ohrgeräusche in der Bevölkerung weit verbreitet vorkommen.
Ein weiterer Mythos ist, dass jeder und jede von einem Ohrgeräusch Betroffene an Tinnitus „leidet“. Die überwiegende Mehrzahl kann jedoch mit einem Ohrgeräusch leben und hat sich damit arrangiert. Daher ist es von Bedeutung, nicht dramatisierend auf das „Leiden“ einzugehen, sondern schon in einer neutralen Wortwahl wie „Ohrton“, „Ohrenrauschen“ oder „Ohrklingeln“ eine emotionale Aufladung zu vermeiden (Michel 2024).
Diagnostik
Da es sich bei Ohrgeräuschen um rein subjektive Wahrnehmungen handelt, für die keine auf objektive Befunde gestützte Untersuchung existiert, ist die Begründung der Plausibilität auf nachvollziehbare indirekte audiologische Methoden zu stützen.
Fragebögen für die Begutachtung von Ohrgeräuschen (Tinnitus) sind zur Beurteilung ungeeignet, da kein Mensch frei davon ist, in Gutachtenverfahren seine Beschwerden verstärkt darzustellen, um mit seinem Antrag Erfolg zu haben (Feldmann u. Brusis 2019).
Eine freie Schilderung der Ohrgeräusche, bei der unter anderem die „Qualität“ des Ohrgeräuschs (Pfeifen, Rauschen, Zischen usw.) angegeben werden soll, ist dagegen bei der mündlichen Befragung ausreichend. Nicht-direktive Fragen (z. B.: wann wird das Ohrgeräusch empfunden, wann verändert es sich?) sind dagegen statthaft (s. Kasten). Die Klageintensität spiegelt sich unter anderem darin, wann im Gespräch überhaupt Ohrgeräusche erwähnt werden oder ob sie ganz zum Schluss „erfragt“ werden müssen.
Um im versicherungsrechtlichen Sinn Ohrgeräusche „wahrscheinlich“ zu machen, ist die audiometrische Bestimmung einerseits der Frequenz und andererseits der Verdeckbarkeit erforderlich (Brusis u. Michel 2009). Dies wird als „Matching“ bezeichnet.
Die Frequenzbestimmung liefert die Information, ob das Geräusch mit der lärmgeschädigten Frequenz zusammenfällt oder es sich um ein für Lärm unspezifisches, in anderen Frequenzen angesiedeltes Geräusch handelt. Ist es zum Beispiel ein tieffrequentes Ohrgeräusch, handelt es sich um einen Tinnitus aus anderer Ursache und nicht um eine Lärmschädigung.
Die Reproduzierbarkeit der bestimmten Frequenz ist ein wichtiges Merkmal der Plausibilität. Frequenzänderungen in der Wahrnehmung des Tinnitus (auch in der Retrospektive) deuten eher darauf hin, dass insbesondere psychische Alternativursachen kritisch zu prüfen sind.
Die Verdeckbarkeit (Maskierung) ist ein für den mit einer Lärmschwerhörigkeit verbundenen Tinnitus typisches Phänomen und lässt sich daher zur Diagnostik ausnutzen. Geräusche, die im Ohr entstehen, lassen sich mit lauteren Tönen der gleichen Frequenz überdecken, das heißt „maskieren“. Die Messungen erfolgen seitengetrennt über Kopfhörer, wobei zwischen reinen Tönen und Schmalbandrauschen variiert werden kann.
Die Verdeckbarkeit („Lautheit“) liegt in der Regel knapp über der Hörschwelle. Eine zu hoch (> 5–10 dB) angegebene Verdeckungslautstärke spricht eher für eine Aggravation.
Die Verdeckbarkeitskurven nach Feldmann, bei denen auch andere Frequenzen zur
Verdeckung herangezogen werden, führen zu charakteristischen Verdeckungsmustern, von denen die sogenannte Konvergenzkurve typisch für den lärmbedingten Tinnitus ist. Dagegen ist eine Persistenzkurve, bei der sich Ohrgeräusche auch bei hohen Lautstärken nicht verdecken lassen, nicht mit einem lärmbedingten Tinnitus vereinbar.
Eine Rolle spielt auch die Nachverdeckung. Nach 1 Minute Verdeckung wird häufig das Ohrgeräusch als „weniger“ oder „weg“ beschrieben. Die Zeit, bis es wieder zurückempfunden wird, ist die „residuale Inhibitionszeit“.
Beim Okklusionstest nach Brusis wird geprüft, ob und wie die Lautstärke der Ohrgeräusche durch einen rechtsseitigen, linksseitigen oder beiderseitigen Verschluss des Gehörgangs subjektiv beeinflusst wird. Wenn bei Abdichtung des Gehörgangs die Maskierung durch die Umgebungsgeräusche wegfällt, sollten die Ohrgeräusche lauter empfunden werden. In sehr ruhiger Prüfsituation mit wenig Außengeräuschen wird bei aufrichtiger Mitarbeit ein unverändertes Ohrgeräusch angegeben.
Bei einem Ohrgeräusch auf einem tauben Ohr kann keine Bestimmung auf dem Ohr erfolgen, da der Ton oder das Verdeckungsgeräusch nicht wahrgenommen werden kann. Zunächst ist daher der Versuch einer Tinnitusbestimmung von der Gegenseite durchzuführen.
Die audiometrischen Untersuchungsbefunde sind im Tonschwellenaudiogramm zu dokumentieren, wie in der Königsteiner Empfehlung ausgeführt (s. „Weitere Infos“). Ein Beispiel liefert ➥ Abb. 1.
Diffenzialdiagnostisch ist Tinnitus von Geräuschüberempfindlichkeit, Hyperakusis, Phonophobie und akustischen Halluzinationen abzugrenzen, die nicht zum Krankheitsbild eines lärmverursachten Tinnitus gehören.
Bewertung
Übertriebene Klagen bei wenig oder keinen Arztbesuchen sowie wenig Therapiebemühungen in der Vergangenheit sind nicht mit einem lärmbedingten Ohrgeräusch zu vereinbaren. Ohrgeräuschen (Tinnitus) kommt lediglich als Begleiterscheinung einer Lärmschwerhörigkeit Bedeutung zu. In der Königsteiner Empfehlung 2020 wird daher von einem „Begleittinnitus“ gesprochen. Das Ohrgeräusch begleitet eine Hörminderung, aber führt nicht die Klage an. Die lärmbedingte Hörminderung steht im Vordergrund. Ein „Zuschlag“ war früher überhaupt nicht möglich. Ab dem 1996 erschienenen Königsteiner Merkblatt wurden 5 % und nun in der Königsteiner Empfehlung bis zu 10 % integrativ berücksichtigt.
Daher ist in der Graduierung des Ohrgeräuschs in vier Grade (➥ Tabelle 1) spätestens ab Grad 3 kein ausschließlich lärmbedingtes Leiden anzunehmen. In diesem Stadium werden Klagen über Ein- und Durchschlafstörungen, Konzentrationsschwächen oder Depressionen im Vordergrund stehen. Keine Lärmschwerhörigkeit würde zu diesen Symptomen führen. Daher ist in dieser Situation zu prüfen, ob die Lärmschädigung tatsächlich die wesentliche Bedingung für die geklagten Ohrgeräusche ist, denn eine psychische Fehlverarbeitung führt zu Verstärkung des
Tinnitusempfindens.
Das Beschwerdebild kann durch eine in der Persönlichkeit der versicherten Person liegende Reaktionsweise begründet sein. Werden schwerste Beeinträchtigungen durch die Ohrgeräusche geltend gemacht (Grad 4 „Dekompensierter Tinnitus“ der Tinnitus-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie, DGHNOKHC; s. „Weitere Infos“), ist nach Rücksprache mit dem Kostenträger zusätzlich eine neurologisch-psychiatrische Begutachtung zu veranlassen. Tinnitus kann Ausdruck
einer komplexen Lebenskrise sein. Allerdings ist zu beachten, dass Persönlichkeitsstörungen Gesundheitsstörungen sind, die nicht versichert sind.
Ein Ohrgeräusch ohne das Vorliegen einer Hörstörung in derselben Frequenz ist nicht plausibel (Feldmann u. Brusis 2019).
Isolierte Ohrgeräusche ohne lärmbedingten Hörverlust erfüllen nicht den Tatbestand (Lärm-)Schwerhörigkeit der BK Nr. 2301 (Schönberger et al. 2017). Tinnitus als alleiniges Symptom lässt sich in der Regel nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit als Unfallfolge darstellen (Feldmann u. Brusis 2019). In der Königsteiner Empfehlung heißt es: „Einen lärmbedingten Tinnitus ohne lärmbedingten Hörverlust gibt es nicht.“
Bei einer beruflichen Lärmschwerhörigkeit steht der Hörschaden im Fokus. Nach ihm richtet sich die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE), die nach der Feldmann-Tabelle geschätzt wird (s. Königsteiner Empfehlung). Für einen plausibel nachgewiesenen Tinnitus kann eine MdE von 5–10% integrativ berücksichtigt werden. Daher kommt dem Tinnitus eine Bedeutung zur Aufrundung der MdE zu. Eine eigenständige MdE hat der Tinnitus nicht; es gibt keine Berufskrankheit „Lärmtinnitus“. Auch kann ein lärmbedingtes Ohrgeräusch nicht höher bewertet werden als die Schwerhörigkeit.
Therapie
Wenn bei der versicherten Person eine BK-Nr. 2301 mit lärmbedingtem Tinnitus anerkannt wurde, eine Beeinträchtigung wegen der Ohrgeräusche besteht und ein Beratungsgespräch gewünscht wird, kann ein HNO-ärztliches Tinnitus-Beratungsgespräch (Counseling) einschließlich HNO-ärztlicher Untersuchungen bei einer auf Tinnitusbehandlung spezialisierten HNO-Praxis oder einem HNO-Zentrum über den Unfallversicherungsträger angefordert werden. Es wird dann ein HNO-ärztlicher Bericht (F7220) angefertigt und nach Abschluss der Therapie eine Erfolgskontrolle über die Tinnitusrehabilitation (F7222) zu Lasten des Unfallversicherungsträgers durchgeführt.
Ziel ist, in der Stufentherapie (➥ Tabelle 2) den Umgang mit Ohrgeräuschen zu verbessern, eine Gewöhnung zu erreichen und schließlich die Wahrnehmung zu verlernen und in den Hintergrund zu schieben. Zurzeit wird nach der Leitlinie nur die
Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT) anerkannt.
Fazit
Da nicht zu objektivieren, ist Tinnitus niemals das Hauptsymptom einer Lärmschwerhörigkeit, sondern kann sie vergesellschaften, also „begleiten“. Die Plausibilität muss gegeben sein, damit eine integrierte MdE von 5–10 % geschätzt werden kann.
Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.
Literatur
Brusis T, Michel O: Die Bewertung von Tinnitus in der gesetzlichen Unfallversicherung. Laryngorhinootologie 2009; 88: 449–458
Feldmann H, Brusis T: Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes. 8. Auflage Aufl. Thieme, Stuttgart, 2019.
Michel O: Gutachten in der HNO. Fundiert – überzeugend – sachlich. Heidelberg:Springer, 2024.
Schönberger A, Mehrtens G, Valentin H: Arbeitsunfall und Berufskrankheit. Rechtliche und medizinische Grundlagen für Gutachter, Sozialverwaltung, Berater und Gerichte. 9., völlig neu bearb. Aufl. Berlin: Erich-Schmidt-Verlag, 2017.
doi:10.17147/asu-1-357430
Weitere Infos
DGHNO –Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e. V.: S3-Leitlinie – Chronischer Tinnitus
https://register.awmf.org/assets/guidelines/017-064l_S3_Chronischer_Tin…
Empfehlung für die Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit (BK-Nr. 2301) – Königsteiner Empfehlung
https://publikationen.dguv.de/widgets/pdf/download/article/2559
Kernaussagen
sind Plausibilitätskriterien in Form von audiometrischen Verfahren zu erfüllen
Beispielfragen
nicht-suggestive Fragen zur Begutachtung von Ohrgeräuschen (nicht-suggestiver Tinnitus-Fragebogen, NSTF)
1. Haben Sie (auch) Ohrgeräusche beziehungsweise Tinnitus?
2. Wie würden Sie Ihre Geräusche beschreiben?
3. Wie häufig treten die Ohrgeräusche auf? Wie oft am Tag, in der Woche?
4. Wie lange halten die Ohrgeräusche an? Sekunden, Minuten, Stunden?
5. Bei welcher Gelegenheit treten Ohrgeräusche auf?
6. Haben Sie auch im Moment Ohrgeräusche?
7. Empfinden Sie die Ohrgeräusche in leiser oder lauter Umgebung stärker?
8. Wenn Sie sich in einem lauten Raum (Restaurant, Kneipe, Familienfest usw.) befinden, werden Ihre Ohrgeräusche dadurch beeinflusst, wenn ja wie?
9. Bei welcher privaten oder beruflichen Situation fühlen Sie sich durch die Ohrgeräusche beeinträchtigt?
10. Was ist für Sie belastender – die Schwerhörigkeit oder die Ohrgeräusche?
11. Welche Beschwerden haben Sie sonst noch durch die Ohrgeräusche?